Sieben Leben. Stefan Kuntze

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Sieben Leben - Stefan Kuntze


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hat er dieses Bild und andere – etwa von George Grosz –in Berlin zu Gesicht bekommen und war tief beeindruckt von ihnen.

      Noch mehr hat ihn das berührt, was er im Verlauf der nächsten Monate in den Vorträgen seines Onkels und anderer intellektueller Köpfe zu hören bekam. Sehr schnell begriff er, dass es darum ging, einerseits Einfluss auf Mitglieder der SPD zu nehmen und andererseits, den falschen Weg der Bolschewisten in Russland und der KPD zu erkennen und zu vermeiden.

      „Die Weltgeschichte war plötzlich für mich völlig klar. So einfach war das für einen jungen Menschen.“, schrieb er im Jahr 1987 in seinen Erinnerungen. Die Beschäftigung mit dem historischen Materialismus lieferte Erklärungen und Handlungsanleitungen. Wenn man die Methode richtig verstand und anwendete, wurde alles einfach.

      Einer der Referenten im Dienste der SPD war Bernhard Reichenbach, der die Erfahrungen seines bis dahin bewegten politischen Lebens an die Jugend weitergeben wollte. Blättert man in Texten Reichenbachs aus den Zwanzigerjahren, fällt sofort die Radikalität der Gedanken und die Schärfe der Argumentation auf.

      Das liest sich z.B. so: Die Entwicklung der Deutschen Revolution „stand unter dem Einfluss der Tatsache, dass, als das deutsche Proletariat zum ersten Mal in den Zustand aktiv-revolutionärer Massenbewegung hineingeriet, die Diktatur der Bourgeoisie mit noch nicht dagewesenen Mitteln des durch den Krieg schon jahrelang herrschenden Belagerungszustandes, schärfster Rede-, Presse- und Versammlungsknebelung, eine klärende Auseinandersetzung unmöglich machte.“

      Nachdem Karl diesen Satz zweimal gelesen hatte, dämmerte ihm der Inhalt. Es ging offenbar um die „klärende Auseinandersetzung“, das heißt eigentlich die politische Diskussion. Man muss sich fragen, ob Reichenbach und die vielen aus dem Umfeld dieser Linkssozialisten auch den bewaffneten Kampf gemeint haben. Sie hatten alle die revolutionäre Situation am Ende des Krieges bewusst erlebt, aber dass sie nach den sieben ohne wirkliche Veränderung der Macht- und der Eigentumsverhältnisse vergangenen Jahren noch an die unmittelbar bevorstehende proletarische Revolution glaubten, ist schwer nachvollziehbar. Doch äußerten sie sich in diesem Sinne.

      Was sie verband war die marxistische Grundüberzeugung, dass die Geschichte nach Gesetzmäßigkeiten ablaufe und dass man mit der Methode des historischen Materialismus zu richtigen Einschätzungen und damit zum richtigen Handeln gelangen könne. Sie lehnten den Parlamentarismus als bürgerliches Herrschaftsinstrument des Kapitals ab und strebten eine Machtübernahme in den Betrieben im Sinne einer Räteherrschaft an.

      Anfang der Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts habe ich Reichenbach persönlich kennengelernt. Damals war ich etwa so alt, wie Karl im Jahr 1925. Zunächst war es nur die Stimme aus dem Radio, da er beim Süddeutschen Rundfunk als Englandkorrespondent arbeitete. Er besuchte meine Familie aber auch in Stuttgart und brachte die von allen geliebte Cadbury-Schokolade mit.

      Seine rhetorische Brillanz und die inhaltlich klare Argumentation beeindruckten genauso wie sein geradezu britischer Humor. Stellt man sich diese Persönlichkeit 30 Jahre jünger und noch voller Hoffnung auf einen Sieg von Vernunft und Sozialismus in Deutschland vor, kann man gut verstehen, dass der wissbegierige und begeisterungsfähige junge Karl ihm an den Lippen hing. Er selber hat dies plastisch formuliert: „Gierig nahm ich die neuen Erkenntnisse in mich auf.“

      Gemeinsam war den Männern um Schröder der Glaube an die Möglichkeit einer sozialistischen Gesellschaft, in der allein die wahren Bedürfnisse und die besseren Argumente eine Rolle spielen würden. Rosa Luxemburgs Motto: „Keine Demokratie ohne Sozialismus, aber auch kein Sozialismus ohne Demokratie“ war Fixpunkt ihrer Überzeugungen. Diesen Satz konnte man oft aus dem Mund Karls hören.

      Er war 1927, im Alter von 18 Jahren, überzeugt, dass er an dem Kampf für den Sozialismus teilnehmen würde und dass er dies – dem Beispiel seines Onkels folgend – am besten in der großen Arbeiterpartei tun sollte. Er trat der SPD bei, was Vater Waldemar begrüßte, auch weil er von den Hintergründen dieser Entscheidung nichts Näheres wusste.

      Die Zersplitterung der politischen Landschaft der Weimarer Republik und insbesondere die geradezu endemische Spalterei im linken Lager war auch Gegenstand der Vorträge, die Karl seit seinem Schulbeginn in Berlin regelmäßig besuchte. Dort begegnete ihm auch der Internationale Sozialistische Kampfbund (ISK).

      Auch dessen Anhänger agierten in der Sozialdemokratie, die Josef Stalin bereits 1924 als den Zwillingsbruder des Faschismus bezeichnet hatte. Diese unsägliche Charakterisierung, dass die SPD eine bloße Variante des Faschismus sei, hatten die sowjetisch gesteuerten Parteien auf dem 10. Plenum der Komintern 1929 wieder aufgegriffen und zur offiziellen Doktrin kommunistischer Politik gemacht. Es war nur noch eine Formsache, dass die KPD diese Leitlinie am 16. Juni 1929 per Beschluss bestätigte. Damit war für einen Kommunisten in Deutschland jegliche Einheitsfrontpolitik mit dieser SPD tabu.

      Was hätte näher gelegen, als dass sich spätestens jetzt die recht zahlreichen linken Gruppierungen, die den sowjetischen Führungsanspruch nicht anerkannten, zusammengetan hätten? Alexander Schwab und Karl Schröder hatten in diesem Jahr begonnen, eine Kaderorganisation aufzubauen, weil sie angesichts des erstarkenden wirklichen Faschismus der Nationalsozialisten mit einer kommenden Phase der Illegalität aller linken Parteien und Gruppen rechneten. Das war letztlich der Gehalt ihrer Arbeit in der SWV, die schon 1928 allein in Berlin 800 Mitglieder zählte. Eine Parteimitgliedschaft war nicht Voraussetzung der Teilnahme am sozialistischen Diskurs.

      Ein Austausch mit Anhängern des ISK fand vereinzelt statt, da man einander bei Veranstaltungen der Jungsozialisten, der Sozialistischen Arbeiterjugend oder eben der SWV innerhalb der SPD oft begegnen konnte.

      Karl bekam von den vorsichtigen Anfängen seines Onkels und seiner politischen Freunde, die bald in die Organisation der „Roten Kämpfer“ münden sollten, nichts mit. Anfang 1929 hatte er das Abitur geschafft und musste sich mit der eigenen Zukunft befassen. Er beschloss, Lehrer zu werden, um Wissen und Erkenntnisse weiter zu geben und am Aufbau einer menschlichen Zukunft in Deutschland und der Welt teilzunehmen. Dass die Gesellschaft der Zukunft eine sozialistische sein würde, war selbstverständlich. Diese Erkenntnis musste den Jungen möglichst frühzeitig vermittelt werden. Am besten von Beginn der Schulzeit an, weshalb Volksschullehrer der Beruf seiner Wahl wurde. Außerdem lag ein Universitätsstudium außerhalb der familiären Vorstellungen und finanziellen Möglichkeiten.

      Ein Szenenwechsel

      Schröder brachte seinen Neffen und dessen Pappkoffer zum Anhalter Bahnhof und verabschiedete den Studienanfänger in der riesigen Halle, wo er auf den Zug nach Frankfurt am Main warten musste.

      „Denk immer dran, Karlchen, wir müssen die Köpfe sein. Wenn du in zwei Jahren als Lehrer wiederkommst, kannst du mit uns die Revolution vorbereiten.“

      „Ich werde mich anstrengen.“

      „Und vergiss nicht, dich bei der SPD in Frankfurt zu melden. Wir müssen die Proletarier da abholen, wo sie sind.“

      Etwas unbeholfen nahm er seinen Neffen in die Arme, der dabei fast seinen Koffer fallen ließ und drückte ihm ein in Zeitungspapier eigewickeltes Päckchen in die Hand.

      „Damit dir die Fahrt nicht zu lang wird. Und wenn du nach Berlin kommst, schau bei mir vorbei.“

      Karl winkte ihm nach, bis er durch das riesige Portal verschwunden war und sah sich um. Auf einem der Gleise an der Seite stand einer der luxuriösen Salonwagen der MITROPA, die gerade erst entwickelt und in Dienst gestellt worden waren. Er war fasziniert von dem sichtbaren Luxus und gleichzeitig musste er daran denken, wer es sich wohl leisten konnte, einen solchen Wagen wirklich zu benützen.

      Er freute sich, dass er in dem D-Zug einen Sitzplatz ergattern konnte und wickelte sofort das Päckchen aus. Der Onkel hatte ihm sein neuestes Werk, den 1928 erschienenen Roman „Die Geschichte Jan Beeks“, als Geschenk mitgegeben. Sofort begann er zu lesen und konnte damit bis Frankfurt nicht aufhören.

      Er brauchte nicht lange, bis er begriff, dass Schröder in diesem Buch das eigene Leben als Revolutionär hinter der Person des Proletariers Jan Beek reflektierte. Dessen inständiger Wunsch, den revolutionären


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