Crazy Zeiten - 1975 etc.. Stefan Koenig
Читать онлайн книгу.diesen Tagen wurde Nordzypern von der Türkei besetzt. Fast wäre die schöne Insel Ziel einer Hippie-Tour meiner ehemaligen Frankfurter Freundesclique geworden. Pit und Gaby, Veit und Eva, Nobbi und Nelli, Hajo und Geli – sie alle hatten eine Zeitlang von einem gemeinsamen Leben in einem Hippiedorf auf Zypern geträumt. Doch die Träume waren schon vor Zyperns Teilung dahingeschmolzen. Bis auf Pit und Gaby waren alle ins farbenprächtige wilde Westberlin gezogen.
Die Proklamation eines Türkischen Föderationsstaates Zypern durch die Besatzungsmacht und die damit vollzogene Teilung der schönen Insel verhieß für den Frieden auf diesem Eiland nichts Gutes.
Ich freute mich langsam wieder auf zuhause.
Dort empörten sich gerade die selbstbewussten Frauen in Westdeutschland und Westberlin. Das Bundesverfassungsgericht galt in vielen Fällen als Garant unserer demokratischen Verfassungsordnung. Aber ausgerechnet bei diesem Reizthema stellte es sich jetzt gegen den Bundestag, gegen den Souverän des Volkes, der eine tiefgreifende progressive Reform des Abtreibungs-Paragraphen beschlossen hatte. Das Gericht verwarf die Fristenlösung. So blieb die alte Fassung des berüchtigten § 218 bestehen, was die Empörung der Frauen nicht gerade besänftigte. Ein neues Besänftigungsgesetz musste her; weiterhin waren also Abtreibungen verboten, aber immerhin aus medizinischen, ethischen und sozialen Gründen zulässig; ein „Kaugummiparagraph“.
Gegen Ende des Monats – es war die neueste Nachricht, die ich am Zeitungskiosk des Airports lesen konnte, bevor wir nach Tanger abflogen – wurde der Vorsitzende der Westberliner CDU, Peter Lorenz, von Terroristen der „Bewegung 2. Juni“ entführt. Man wollte inhaftierte Gesinnungsgenossen damit freipressen. Die Bundesregierung ließ fünf inhaftierte Mitglieder dieser Gruppe in die Volksrepublik Jemen ausfliegen. Die BILD war dagegen. Der SPIEGEL war dafür. Die Terrorangst griff um sich.
Der Flug nach Casablanca dauerte eine dreiviertel Stunde. Ich bangte um Svea. Johns Nervosität zeigte mir, dass auch er bangte. Es heißt ja, dass Menschen in höchster Not plötzlich an eine höhere Macht glauben, auch wenn sie zuvor völlig ungläubig waren. Vielleicht ging es mir so ähnlich, denn im dahinfliegenden Dämmerzustand zwischen Marrakesch und Casablanca musste ich urplötzlich an meinen Konfirmationsspruch denken:
»Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.«
Bei all der Finsternis in der Welt musste der überwiegende Teil der angeblichen Ebenbilder Gottes offensichtlich aus Ungläubigen bestehen. Zumindest wenn man der Logik – und nicht einem nebulösen Wesen – Glauben schenkte. Beim Konfirmationskaffee hatte mir mein Vater zusätzlich einen weisen Spruch mit auf den Weg gegeben. Genau der fiel mir jetzt wieder ein, obwohl ich Jahre lang – mindestens zehn Jahre lang – nicht mehr an diesen Spruch gedacht hatte:
Immer wenn du glaubst es geht nicht mehr
Kommt von irgendwo ein Lichtlein her:
Dass du es noch einmal zwingst
Und von Sonnenschein und Freude singst
Leichter trägst des Alltags harte Last
Und wieder Kraft und Mut und Glauben hast
Nun gut, dachte ich, ich habe große Hoffnung, dass wir Svea unversehrt finden. Mag uns ein Lichtlein scheinen, mit Kraft und Mut werden wir sie suchen. Ich glaubte an unseren Sucherfolg.
Polizeikommissar Hassan war ein Typ von Polizist, den wir so aus Deutschland nicht kannten. Einem Bakschisch war er nicht abgeneigt; diesbezüglich waren wir von Sören gut informiert. Er hatte einen dunklen Teint, war kräftig gebaut und machte einen verschmitzten Eindruck. Wichtig war mir, dass er unser Anliegen ernst nahm.
„Für Ihre entstandenen Auslagen“, sagte ich und legte ihm ein Briefkuvert mit 50 Dollar auf den Tisch. „Wenn Ihnen weitere Ausgaben entstehen, lassen Sie es mich bitte wissen.“ Er steckte das Kuvert dankend weg.
„Ich werde mein Möglichstes tun.“ Er erzählte uns, dass er bereits bei der Stadtpolizei gedient hatte, als Tanger noch eine Freie Stadt gewesen war.
„Das war einer der schlimmsten Orte der Welt!“, sagte er.
Rauschgift, alle Sorten von Eigentumsdelikten, Körperverletzung, Fälschungen, Morde, Erpressung, erzwungene Prostitution, Menschenhandel, das Drucken von Pässen und Blüten waren offen zugegebene Spezialitäten, und Kommissar Hassan war in diesem Kampf ein ganzes Jahrzehnt lang standhaft gegenüber jeglichem Korruptionsversuch geblieben. Er erzählte uns, wie jedoch einige vorgesetzte Kollegen plötzlich mit großen Limousinen fuhren, sich Eigenheime und Urlaube in Westeuropa leisten konnten. Die Konsequenz, die er daraus zog, sprach er uns gegenüber nicht aus, aber wir kannten sie ja bereits von Sören.
Ich kannte das historische Tanger aus der Literatur. Hier hatte Marokkos berühmtester Schriftsteller, Mohamed Choukri, gelebt und seine Erfahrungen als armer Heranwachsender im Tanger der 1950er Jahre in seinem Roman „Das nackte Brot“ verarbeitet. In den 1960er Jahren und jetzt, Mitte der Siebziger, erlebte die Stadt eine zweite literarische Blüte als „Mekka“ von europäischen und US-amerikanischen Schriftstellern der neu entstandenen Popliteratur. Paul Bowles, Tennessee Williams, Jack Kerouac, Truman Capote und William S. Burroughs waren nur einige von ihnen.
Nun also gehörte Tanger zu Marokko. Hassans Aufgaben wurden damit zwar leichter, aber nicht um vieles leichter. „Damals“, so sagte er uns in seinem Büro, „wäre Svea wahrscheinlich in eines der besser geführten Bordelle jenseits der Stadtgrenze geschmuggelt worden. Heute gibt es Edelbordelle auch innerhalb der Stadtgrenzen.“
„Konnten Sie schon Ihren Aufenthalt ermitteln?“, fragte ich.
„Jedenfalls hat sie Tanger weder mit dem Flugzeug noch per Fähre verlassen. Ich habe alle jeweiligen Außenposten informiert und wenn sie eines dieser Verkehrsmittel nehmen würde, hätten wir sie. Sie muss irgendwo hier sein. Wir werden sie finden, glauben Sie mir.“
Er machte uns keineswegs falsche Hoffnungen, aber er konnte uns überzeugen, dass er und sein Team sie finden würden, wenn sie überhaupt gefunden werden konnte.
Am nächsten Tag trafen Stella, ihre beiden Liebhaber und Wolle im Hotel ein; den Bulli parkten sie im bewachten Hof, was kostenfrei war. Wir gingen zum Polizeirevier und Stella überreichte dem Kommissar die Kopie eines Passfotos, was sie noch gefunden hatte. Svea hatte es ihr damals am ersten Tag ihrer Bekanntschaft aus Sicherheitsgründen gegeben. „Falls du mich mal suchen musst“, hatte sie damals zu Stella gesagt und dabei gelacht.
„Dich suchen?“, hatte Stella zurück gefragt.
Und Svea hatte geantwortet: „Falls ich mal so zugekifft bin, dass ich nicht mehr nachhause finde und zwei oder mehr Tage verschollen bin.“
Hassan kam mit seinen Ermittlungen am ersten Tag nicht voran. Mit einer weiteren Kopie von Sveas Passfoto unternahmen wir nun zu viert eine Suchaktion. Sören, John, Stella und ich klapperten Bar für Bar ab, in der sich Araber und Touristen aus aller Herren Länder befanden. Sören kannte sich hier erstaunlich gut aus. Endlich räumte er ein, dass er bereits vor zwei Jahren in Tanger in Sachen Rauschgift unterwegs gewesen war. Daher kannte er den einen oder anderen Barbesitzer. Das war uns jetzt eine große Hilfe. Wieder hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass er etwas gutmachen wollte – für Svea.
John fragte mich zwischendurch immer wieder, ob ich an ein glückliches Ende glaubte. Regelmäßig antwortete ich mit dem Allerwelt-Spruch „Die Hoffnung stirbt zuletzt“. Das war zwar nicht besonders klug, aber auch nicht besonders dumm, jedenfalls diplomatischer als ein bloßes Achselzucken.
Wir zeigten sämtlichen Barbesucher das Passfoto und fragten, ob sie die Dänin gesehen hätten. Wir stellten fest, dass sie die erste Nacht wohl mit einem Araber die Bars abgegrast hatte. Anscheinend hatte sie ihn erst hier kennen gelernt. Aber niemand konnte etwas zu ihm sagen.
Was für Marrakesch der Djemaa el Fna, war für Tanger der Zoco Grande, den wir nun nach Svea absuchten. Wir fanden keine Spur von