Crazy Zeiten - 1975 etc.. Stefan Koenig
Читать онлайн книгу.als Sitzunterlage. Superkomfortabel hatten es jene, die ihren Schlafsack als Unterlage nutzten. Vor sich hatten sie Tücher ausgebreitet, auf denen sie handgefertigten Schmuck und selbstgeschriebene Reisebeschreibungen mit Adressen-Hinweisen für günstige Übernachtungen und allerlei Krimskrams verkauften.
Man spielte auf der Klampfe oder trommelte auf Bongos, sang lyrische Songs oder Protestsongs der längst vergangenen Sechziger. Wir fragten die jungen Leute, ob jemand Svea gesehen habe. Drei Holländerinnen, die gewiss seit einigen Wochen keine Dusche genossen hatten, versicherten uns, sie hätten sie in einer Art Jugendherberge namens »Jardins des Tanger« getroffen und auch ein paar belanglose Worte mit ihr gewechselt. Das gab uns Hoffnung.
Für einen Dollar machten sie sich in der Mittagssonne mit uns auf und führten uns durch vor Schmutz starrende Gassen zu einem ziemlich maroden Gebäude. Es gab keinen Portier und eine unbesetzte Rezeption. So gingen wir erfolglos von Zimmer zu Zimmer. Oben angekommen, hatten wir einen wunderbaren Überblick über die Stadt. Während wir unsere nächste Suchaktion besprachen, kam ein arabischer Mitdreißiger die Treppe heraufgeschnaubt. Stella zeigte ihm das Foto. „Ja, hier war eine Frau mit diesem Aussehen“, räumte er ein. „Nur eine Nacht. Ja, sie war in Begleitung mehrerer junger Marokkaner. Nach dem Morgenmokka gingen sie wieder.“
Mehr konnte er nicht sagen. Unsere Hoffnung schwand dahin. So gingen wir zurück zur Polizeistation. Wir wollten mit Hassan und unseren Freunden Wolle, Gerd, Leif und Jan-Stellan, die ihrerseits auch nach Svea gesucht hatten, besprechen, was nun zu tun sei.
Unser Herz schlug höher, als Hassan auf uns zukam und sagte: „Wir haben sie gefunden. Doch sie ist nicht in bester Verfassung.“
„Was ist mit ihr?“, fragte John erregt.
„Sie ist unterernährt, dazu das Rauschgift, Drogen, Heroin, was immer. Nichts Ungewöhnliches. Sie ist im Krankenhaus.“
Wir fuhren allesamt mit seinem Polizeiwagen und mit Wolles Bulli zum Stadtrand in die Klinik. Sie wurde von katholischen Schwestern geführt. Eine der liebenswürdigen Nonnen stellte sich als Oberschwester vor, warnte uns jedoch sogleich vor zu großem Optimismus. In diesem Moment musste ich daran denken, wie schwer es dieses muslimische Land den christlich motivierten Ordensschwestern einst gemacht hatte.
Aber eine Münze hat immer zwei Seiten. Aus Sicht der Moslems war die Aktivität der christlichen Gemeinschaft in ihrem Land eine Art ideologischen Untergrundkampfes – oder im platten weltlichen Geheimdienstjargon ausgedrückt: Zersetzungsarbeit. Katholisch ausgedrückt: einfach nur Missionierung. Das konnte mir jetzt zwar völlig egal sein, aber wie unser Gehirn so spielt – es lässt sich nicht immer den strikten Tagesbefehlen unterordnen. Spätestens in einer der ruhigeren Momente setzt es sich mit seinen Erinnerungswünschen durch.
So auch jetzt, während wir noch eine halbe Stunde im schattigen Innenhof der Krankenhausanlage warten sollten. Mir ging die Auseinandersetzung zwischen den Katholiken in Westberlin durch den Kopf. Meine redaktionelle Mitarbeit an Dr. Duwes Streitzeitschrift »bundesdeutsche tabus« hatte viele informelle Kontakte zur Folge. So erhielt ich eines Tages eine völlig neu entstandene Zeitung auf den Schreibtisch. Sie hieß DIALOGIKUS – Christliche Monatszeitung.
In dieser christlichen Schrift gab es etwas revolutionär Neues: Eine mit der Chefredaktion gleichberechtigte Redaktion, die obendrein auch noch unabhängig von den Auflagen der Kirchenleitung arbeiten durfte. Es gab – Revolution! Revolution! – eine Leserversammlung, die mitbestimmen durfte, welche Themen bearbeitet wurden und – welch ein frevelhafter Bruch mit der Vergangenheit! – die aktive Mitarbeit des einfachen katholischen Fußvolkes jeglicher politischer Couleur war ausdrücklich erwünscht. Führten bislang nur äußerst CDU-treue, konservativ-etablierte Kreise das Wort in Kirchenzeitungen, so kamen nun auch andere Positionen – insbesondere sozialethische – zu Wort.
Das passte naturgemäß nicht ins festgezurrte Weltbild der beamteten Pfarrer und ihrer kirchlichen Vorgesetzten. So kam es zu Boykottaufrufen des Kirchen-Establishments gegenüber dem DIALOGIKUS. Doch steter Tropfen höhlt den Stein: Im Laufe der Auseinandersetzung und mit dem Wechsel des gesellschaftlichen Klimas konnten sich die progressiven Kräfte schließlich auch in kirchlichen Publikationen einen Standort – und damit zumindest Gehör – verschaffen. Die religiös verbrämte Maulkorbpolitik des Vatikans fand ein zaghaftes Ende.
Mit diesen Gedanken im Kopf sah ich die Oberschwester aus der Krankenstation auf uns zukommen und dachte noch: Wenn die hier wüssten, mit welchem kleinkarierten Mist sich ihre Glaubensbrüder und Ordensschwestern gerade in der Heimat rumschlagen!
„Die junge Frau ist schwer krank“, warnte sie uns auf dem Weg zur Station. „Es wäre besser, wenn nur einer von Ihnen hineingeht.“
Stella schaute zu mir und ich zu John. Ich zögerte. Da sagte Sören: „John sollte gehen, er hat das innigste Verhältnis zu Svea.“ John sah ihn dankbar an. Kommissar Hassan zog einen dänischen Pass hervor. „Das ist die junge Frau, nehme ich an.“
John nahm den Pass und schlug die Seite mit dem Foto auf, wobei ihm ein Stöhnen entfuhr. „Sorry“, sagte er, „aber sie sieht so schön aus, ihre feinen Gesichtszüge. Hoffentlich …“, er brach ab. Wahrscheinlich dachte er, wie wir alle in diesem Moment, an die bekannten Zeitungsfotos mit den hageren ausgemergelten Gesichtern von Drogenkranken. „Ja, das ist sie“, sagte er schließlich.
Die Oberschwester führte ihn in das Krankenzimmer, aber innerhalb von einigen Sekunden stürzte er mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck zurück in den Flur: „Das ist nicht Svea!“
Stella, Sören und ich drängten uns an der Nonne vorbei ins Zimmer, wo eine brünette junge Frau von etwa Mitte Zwanzig auf dem Bett lag. Sie sah Svea überhaupt nicht ähnlich. Wir hielten sie für eine Engländerin. Aber es war zweifellos so, dass wir sie in diesem Zustand nicht fragen konnten, woher sie den Pass hatte. Nach einem Blick auf ihre fahle Haut und ihren herabhängenden Unterkiefer, der die untere Zahnreihe freigab, hatte ich meine Zweifel, ob wir sie überhaupt je würden befragen können.
Wir stiegen wieder in unsere Autos, wobei John und ich in der klapprigen Bullenkiste von Kommissar Hassan mitfuhren. Der Kommissar wollte uns das neue Signalhorn vorstellen, und so fuhren wir bei fast menschenleeren Straßen mit großem Tatütata – es klang in meinen Ohren wie arabische Schlangenbeschwörer-Musik – zum Jardins des Tanger zurück, wo wir wieder auf den bekannten Araber trafen, der diese Anlage offenbar leitete.
„In den vergangenen Wochen haben viele europäische Jugendliche bei mir gewohnt“, sagte er in bestem Französisch. Hassan übersetzte. „Darunter, wie ich meine, Schwedinnen, Dänen, Britten, Deutsche und Norweger sowie einige Franzosen. Jemand von ihnen könnte sicherlich Sveas Pass gestohlen haben. Aber es ist auch möglich, dass Svea den Pass gegen gutes Geld verkauft hat.“
Hassan bestätigte diese Einschätzung mit einem Nicken. Wir waren so schlau wie zuvor.
*
In der Berliner Clausewitzstraße 2 lag ein unscheinbares Büchlein, versteckt hinter hunderten von Büchern in einem Wandregal. Ein Tagebuch, das ich bald schon finden würde. Es war mit schwer lesbarer Krixel-Handschrift geschrieben. Verfasst von meinem guten Kumpel und Mitgründer unserer ersten Wohngemeinschaft, Rolf, konnte ich folgende Zeilen entziffern:
29. Januar: Schlimm oder nicht schlimm. Ich merke, dass ich so richtig zu saufen angefangen habe. Ich komme da irgendwie nicht mehr raus und bin meistens so besoffen wie alle Funktionäre der KPdSU zusammengenommen. Eines Nachts hatte ich sogar schon das Brotmesser mit ins Bad genommen und mich in die Badewanne gelegt, als gerade niemand in der WG war außer mir. Und dann dachte ich, Moment, alter Junge, vielleicht möchte deine Liebste auch noch mal mit dir sprechen. Und dann kam sie tatsächlich.
Peggy war noch gerade rechtzeitig von einer Kneipentour heimgekommen und hatte mich gefragt, was das soll. Ich sei betrunken, sagte ich entschuldigend.
30. Januar: Am Morgen, als ich zu mir kam, schlief Peggy noch, und als erstes rotzte ich auf den Teppich im Gemeinschaftsraum, weil – ich weiß nicht warum. Alle schliefen noch, und ich rauchte drei Zigaretten