FUKUSHIMA - IM SCHATTEN. Juergen Oberbaeumer

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FUKUSHIMA - IM SCHATTEN - Juergen Oberbaeumer


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tat sie hier. Leon verbrachte sein ganzes Leben hier und so ist unser Haus voller Erinnerungen an Kinderlachen, an schnelle Fuesschen und kleine Strolchereien aller Art. Darueber hinaus voll von den Werken kleiner Haende, immer noch. Trotzdem vieles halb vergessen schlaeft, in Kaesten und Kisten, und viel in der grossen Kiste landete: dem Muell. Auch voll von Marikos Textilarbeiten, ihren guten Webereien aus selbstgesponnenen, selbstgefaerbten Garnen und seit zwei Jahren auch voll von auf der neunzig Jahre alten Singer genaehten Sachen, voll von Fotos und Buechern, alten LPs und viel zu vielen schoenen alten Moebeln. Voll Leben. Voll lieber Geheimnisse eben. Voll Erinnerungen!

      Jeder mag dies Haus, jeder ist gern hier, sogar die Leute vom deutschen TV neulich erklaerten, sie koennten verstehen dass wir hier bleiben wollten… wobei Mariko erst solche Bedenken hatte unsere Huette in aller Oeffentlichkeit zu zeigen. Kam aber doch gut an. Mir waer‘s sowieso egal gewesen! Sie versprachen aber „schoene“ Aufnahmen, und hielten ihr Versprechen, so weit sie konnten. Merci. Es ist einfach gut bei uns – was nicht unbedingt mein Verdienst ist. Eher noch – das unserer (gegenwaertig) fuenf Katzen.

      Ein Garten geht ganz um das Haus herum, mit vierzehn Ecken wie ich einmal bei einer Flasche Rotwein zaehlte; das war im Mai. Die ganze Einfahrt war von wildwuchernden Margariten zugewachsen, und bei betoerend milder Luft zaehlten die Katze Happy und ich die Sterne wie die Gartenecken einer lauen Fruehsommernacht. Ein Teil des Gartens, etwa 50 m² hinterm Haus, ist Marikos Gemuesebeet, und da war sie mit Sicherheit an DEM Morgen auch beschaeftigt. Sie ist wie alle guten Hausfrauen, im Gegensatz zu mir, Fruehaufsteherin! Ging morgens als Erstes mal kurz raus zu ihren Radieschen und Zwiebeln.

      Anfang Maerz – fuer meine schoene Gaertnerin eine Jahreszeit voll Hoffnungen, voller kleiner Einkaeufe im Markt „Komeri“, der an diesem Morgen auch nur noch ein paar Stunden Frist hatte ohne dass es einer ahnte.

      Immer neue Blumen und Stauden schleppte sie an, pflanzte Baeumchen an den unmoeglichsten Stellen: „Die sind doch so klein!“ und ueberliess mir dann die undankbare Aufgabe mit dem zu gross gewordenen Wuchs irgendwie fertig zu werden… Sie hatte an jenem Morgen aber auch eine Verabredung in der Galerie „Komorebi“, die fast eine Stunde Autofahrt von hier bergwaerts an einer herrlichen Flussbiegung mitten in unberuehrter Natur liegt. Es gibt hier so schoene Stellen! Im „Komorebi“ gab es eine kleine Ausstellung von Malern aus der Gegend, unter Anderem ihrer Freundin Yasuko. Die ist aufs Meer spezialisiert. Eine mutige aeltere Dame mit interessanter Vergangenheit: folgte vor langer Zeit ganz ohne einen Pfennig jemandem nach Amerika, mit einem kleinen Kind auch noch, schlug sich da irgendwie durch, kam nach langen Jahren zurueck und malte dann sehr schoene Seelandschaften.

      Ihr war also erspart, weglaufen zu muessen… denn natuerlich lebt sie am Wasser, uebrigens ganz in der Naehe meines bayrischen Leidenssgenossen. Ihr Haus blieb verschont: die Strahlung trieb sie dann aber sehr weit fort, von hier bis nach Shikoku, Westjapan. Ob sie wohl immer noch das Meer malen mag?

      Ihr Onkel muetterlicherseits war uebrigens der ehemalige Praefektur-Oberst Kimura: der in den 60er Jahren die Atomkraft zu uns holte! Und, selbstverstaendlich nicht zu seinem Schaden. „Wie gewonnen – so zerronnen“ kommentiert meine Frau die Tatsache, dass der leichtsinnige Sohn dann alles wieder verspielte. Fast alles – denn uns blieb das glueckliche Atom.

      Nach dem Ausstellungsbesuch assen die beiden zusammen etwas Sushi in so einem Revolvershop; also aufs Fliessband wird serviert und vom Fliessband nimmt man sich Tellerchen und geniesst. Ein zweifelhafter Genuss eigentlich, aber diese Restaurants sind ein absoluter Hit weltweit scheint es. Nun also. Mariko kam vor Mittag noch zurueck, die perfekte Hausfrau und Gattin, die sie ist, rechtzeitig bevor ich zur Arbeit musste.

      Ich las derweilen auf meinem Lieblingsplatz in der Kueche und weiss sogar noch was: „The Revenge of Gaia“ von James Lovelock, dem Englaender. Er wird ja immer als der Erfinder des „Gaia-Konzepts“ dargestellt, was sicher eine gewisse Berechtigung hat, wenn auch Gustav Theodor Fechner vor hundertfuenfzig Jahren das gleiche viel besser beschrieb; aber die Erde als lebendes Wesen verstehen – kann jeder der ein bisschen Grips im Kopf und ein Herz in der Brust schlagen hat.

      Muesste eigentlich jeder koennen…

      Ich aergerte mich ueber seine Blauaeugigkeit was die Gefahren der Atomkraft angeht! Er haette nichts dagegen einen Reaktor bei sich im Garten stehen zu haben! schrieb er tatsaechlich. Das stiess mir uebel auf; „so ein Quatsch!“ dachte ich. Uns hier mit den Scheiss AKWs in der Naehe so was sagen zu wollen! dachte ich empoert – einen halben Tag bevor uns alles um die Ohren flog!

      Hatte ich hier Vorahnungen? Ich weiss, warum er die Atomkraft fuer das kleinere Uebel haelt: aber wie kann man den Teufel mit Beelzebub austreiben wollen?

      Ich las gleichzeitig, unsere staedtische Bibliothek ist erstaunlicherweise sehr gut ausgestattet mit englischen Buechern, George Monbiot: „Heat. How to Stop the Planet from Burning“. Es muss schnell etwas gemacht werden! war und ist mir glasklar. Jeder muss JETZT anfangen; die kleinsten Tropfen hoehlen auf Dauer den haertesten Stein. Jeder kann versuchen etwas einfacher zu leben, etwas bescheidener zu leben: sich nicht mehr verdummen zu lassen vom „Kauf, kauf, kauf!“.

      Das ist der erste Schritt; und jeder kann ihn tun. Nicht verschwenden. Achtsam leben! Freund Adrian, als guter Buddhist, lehrt dies nicht: er lebt es vor! Meine persoenliche grosse Suende ist aber leider nicht leicht abzustellen – wie soll ich nach Deutschland kommen wenn nicht mit dem Flugzeug?

      Die beiden Buecher uebrigens fand ich fast zwei Monate spaeter wieder und brachte sie zurueck in die Bibliothek: niemand beschwerte sich ueber die lange Ausleihdauer!

      Wir assen Mittag, Mariko zauberte mir in Minutenschnelle eine kleine Nudelsuppe, mit entweder braunem Buchweizen, „Soba“ oder weissem „Udon“, welche von beiden weiss ich nicht mehr – nur eine kleine Portion, und dann war es schon Zeit fuer mich loszufahren. Zur Arbeit.

      Kurz vor zwei los, knapp zwanzig Minuten Fahrt die grosse Strasse, ehemals von Tokyo zur Metropole des Nordens, Sendai, also die Nationalstrasse 6, runter nach Taira. Taira ist der Hauptort der Stadt Iwaki. „Iwaki“ ist eine kuenstliche Schoepfung (wie Salzgitter etwa) aus vierzehn kleineren Orten, die neulich ihr 40-jaehriges Jubilaeum feierte. Erster Oktober 1966 ist das Gruendungsdatum. Kohle-Bergbau in ganz grossem Stil wurde hier betrieben bis in die sechziger Jahre. Dann war’s ploetztlich aus, alles geht hier viel schneller als bei uns wenn es denn so weit ist! Wie es das Sumo als Nationalsport Japans zeigt. Nach scheinbar endlosem Positionieren der Kolosse, nach langem Schieben und doch Nicht-vom-Fleck-Weichen gewinnt eine Seite einen fast nicht wahrnehmbaren Vorteil: und der unglueckliche Gegner taumelt, oder fliegt gleich im hohen Bogen aus dem heiligen Strohring…

      Ploetzlich war es also vorbei mit der Kohle. Heute bleiben aus der Bergbau-Zeit neben etwas rauheren Manieren im Strassenverkehr nur ein kleines Museum und eine ueberdurchschnittliche Zahl von Laeden mit Alkohollizenzen uebrig; und ein Filmchen: „Hula-Girl“, das die erstaunliche Wandlung der „Joban Mines“ zum „Spa Resort Hawaiians“ in bewegten Bildern in etwas dick aufgetragenem Dialekt wiedergibt. Irgendein Vizechef, ein Verrueckter, ein Visionaer sagt man ja im Erfolgsfall, hatte die sicher von Bier oder Sake befluegelte Phantasie: HIER muss ein Hawaii auf dem Dorfe hin!

      Ganz im Gegensatz zu einer anderen grossen Anlage vor den Toren der deutschen Hauptstadt gelang dies Wahnsinnsprojekt ueber alle Massen und der Film erzaehlt sehr interessant davon.

      Marikos Cousine Keiko erscheint kurz darin; traegt als Trauergast bei der Beerdigung des verunglueckten Vaters der Heldin ein Foto des Verstorbenen einen gewundenen Pfad entlang der inzwischen verschwundenen riesigen Abraumhalden. Hula-Taenzerin zu werden – was fuer ein Traum! Fuer einige oertliche Maedchen, die haertesten, begabtesten, unerschrockensten sicherlich, erfuellte er sich. Und fuer die erfreuten Iwakianer war es moeglich, auch ohne die total unerschwingliche Flugreise ein bisschen Ferngefuehl zu empfinden. Man muss wohl an Freddy Quinn auf dem Weg ins Glueck Italiens denken wenn man dies verstehen will! (uebrigens spricht Freddy als Meier II in einer Szene mit falschen Japanern nicht unuebel japanisch!) Wie es die Leute hingekriegt haben, den hiesigen Bergbau in so ein riesiges Spassbad, angehaengt mehrere grosse Hotels und ein Golfplatz fuer das Praktikum unserer Tochter zu verwandeln, begreife ich zwar trotz des „Hula Girls“ nicht ganz: aber das „Hawaiians“ steht und


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