Verloren. Josef Rack

Читать онлайн книгу.

Verloren - Josef Rack


Скачать книгу
Gewissen, da es doch eigentlich unanständig ist, jemanden so intensiv zu studieren, ohne dass derjenige etwas davon weiß. Aber er will ihr ja nichts Böses. Das, was er ihr zu sagen hätte, wenn er es sich trauen könnte, würde ihr vielleicht gefallen. Also kann sie doch auch nichts dagegen haben. Was würde er ihr denn sagen? ‚Dass sie eine herrliche Stimme hat’ ‚Dass sie so wunderschön ist?’ ‚Dass sie so schöne Haare hat?’ ‚So schöne Wangen, eine niedliche Stupsnase?’ Oder gar: ‚Dass sie so einen wunderschönen verlockenden Mund hat?’

      Dann denkt er wieder: ‚Wenn die das wüsste?’

      Am liebsten würde er selbst aufhören zu singen, nur um ihrer Stimme besser lauschen zu können. Das Mädchen kommt ihm vor wie ein süßer Traum. So nah und doch unerreichbar.

      So viel er weiß, ist sie schon fünfzehn, zwei Klassen über ihm und heißt Ildiko. Sie wird ihn noch gar nicht bemerkt haben, bestimmt ist er in ihren Augen noch ein kleiner Bub mit seinen 13 Jahren. Wenn er dann singt, strengt er sich ganz besonders an, er will ihr ja imponieren.

      Das Schöne an den abendlichen Proben ist, dass die Schüler - und natürlich auch die Schülerinnen - einzeln bzw. mit ihrem direkten Nachbarn den Weg zurückgehen können. Ist Toni einmal früher fertig, drückt er sich noch so lange irgendwie herum, um dann zur gleichen Zeit wie sie den Heimweg zurückzulegen. Solange ihr Weg der gleiche ist, geht er hinter ihr her.

      Einmal passiert es, dass er bis zu Ildikos Haustüre geht. Wie in Trance folgt er ihr und merkte dann erst, dass er falsch ist. Zum Glück ist er nicht vor der Türe stehen geblieben oder gar hineingegangen. Hätte dies jemand beobachtet, wäre seine Zeit hier zu Ende gewesen.

      Na ja, es ist nochmals gut abgegangen.

      Ganz beschwingt kommt er dann nach solchen Proben auf sein Zimmer. Das zu übende Lied geht ihm im Kopf herum, solange er singt, ist SIE ihm nah.

      ‚Ob sie schon gemerkt hat, dass sie mir gefällt?’

      Er glaubt nicht, dass sie ihn überhaupt wahrnimmt, will aber die schönen Gedanken in seinem Kopf bewahren, damit er mit diesen einschläft und von ihr träumt.

      Was er dann auch tut.

      Das Leben hier in der Abgeschlossenheit, die Strenge, selbst die schwersten Aufgaben - alles erscheint ihm jetzt leicht und wunderbar.

      Ach ist das Leben schön. Was ist nur mit ihm passiert?

      * * *

      Ab und zu denkt er mit Wehmut an seinen alten Freund Attila. Was der jetzt wohl macht?

      Erst vier Monate nach ihrer Schul-Trennung sehen sie sich das erste Mal wieder. Toni hat schon gedacht, er würde ihn gar nicht wieder sehen. In der ersten Zeit, in der Toni im Vierwochen-Rhythmus heimkommt, klappt es nie.

      Zuerst ist er ganz fertig und will nur ausruhen, auch hat er vom Internat Aufgaben mitgebracht, die er zu Hause mit Olgas Hilfe erledigen muss.

      Es kommt immer was anderes dazwischen. Einmal will Toni ihn besuchen, aber da ist niemand da.

      Und dann steht nach vier Monaten, als samstagnachmittags Andrej mit Toni in ihren Hof einfährt, SEIN Attila da und wartet auf ihn.

      Welch eine Überraschung! Hat ihm Andrej doch verschwiegen, dass Attila schon einmal da war und nach ihm gefragt hat.

      Toni springt aus dem ausrollenden Auto und fällt seinem Freund um den Hals.

      Attila - groß und stark ist er geworden. Er ist ja auch fast ein Jahr älter als Toni.

      Olga steht hinter dem Fenster, wie immer, wenn sie jemanden erwartet.

      Sie öffnet das Fenster und ruft hinunter:

      „Hallo ihr beiden, Attila soll doch mit heraufkommen, es gibt Tee und Kuchen!“

      Diese Einladung können sie natürlich nicht ausschlagen. Toni will ja auch seine Mutter begrüßen, sich dann aber wieder Attila widmen.

      Olga gibt Toni einen herzhaften Kuss, da steht Attila neidisch daneben.

      Andrej legt einen Arm über Attilas Schultern und bemerkt zu ihm: „Wenn ich heimkomme, geht’s mir nicht so gut.“

      Olga lachend: „Kommt her, heut’ bin ich so glücklich, heut’ könnt ich die ganze Welt umarmen.“ lässt Toni los, der Luft holen muss, weil ihn Olga so sehr drückt, geht auf die beiden Wartenden zu und umarmt auch sie.

      Attila weicht mit hochrotem Kopf einen Schritt zurück; so eine Umarmung von einer so schönen Frau, das ist er nicht gewöhnt, es macht ihn ganz verlegen.

      Die Teezeremonie dehnt sich lange aus. Toni muss viel erzählen. Aber dann hat Olga ein Einsehen: „So ihr beiden, jetzt könnt ihr gehen, ihr werdet euch bestimmt allerhand zu sagen haben.“

      Toni und Attila springen von den Stühlen, Attilas Stuhl kippt um, er bedankt sich artig und schon sind sie zur Tür raus. Olga ruft noch hinterher:

      „Um 19 Uhr gibt’s Abendessen, Attila kann auch mitkommen.“

      Ob die zwei noch alles gehört haben, weiß sie nicht.

      „Attila, jetzt musst du aber von dir erzählen, wie läuft’s in der Schule, hast du auch schon eine Freundin? Und… und… und...“

      Attila berichtet von der Schule. „Viele Veränderungen finden statt. Verschiedene neue Lehrer haben wir erhalten. Warum die ‚Alten’ aufgehört haben oder ob sie entlassen wurden, weiß man nicht. Es wird viel gemunkelt.“ Toni ist ganz Ohr.

      „Die Lehrer, die ausgetauscht wurden, waren irgendwie viel menschlicher. Die Neuen sind so richtige Parteibonzen, wir sind doch nicht beim Militär.“

      „Oh Attila, bei uns ist es im Prinzip genauso, alles wird überwacht und man hört nur Partei-Propaganda. Wer sich da nicht unterordnet, hat verspielt.“

      „Siehst du, so ist es meinem Vater doch auch gegangen, jetzt hat er einen schlecht bezahlten Dienst.“

      „Das tut mir furchtbar leid für euch“, bedauert ihn Toni

      „Ich hoffe, dass wir überhaupt noch in unserer Wohnung bleiben können, ich möchte dich grad beneiden. Ihr seid doch Russen, dein Vater ist hoher Parteifunktionär, euch kann nichts passieren.“

      Toni schwächt aber ab: „Du, bei meinem Vater könnte es vorkommen, dass er zurückberufen wird nach Russland - und dann?“

      „Der wird schon hier gebraucht, nur keine Bange.“

      „Hoffentlich behältst du Recht.“

      „Wenn ich nur wieder so einen Kumpel wie dich finden würde“, klagt Attila. „Meine Schulleistungen lassen nach, ich könnte ab und zu etwas Unterstützung gebrauchen.“

      „Das geht mir genauso, nicht wegen der schulischen Aufgaben, bei mir sind es die menschlichen Probleme.“

      Er erzählt ihm die Geschichte mit Janos.

      „Auch funktioniert bei uns alles nur nach dem kommunistischen Prinzip. Wer nicht absolut linientreu ist, bekommt Schwierigkeiten. Der Lehrstoff ist immens umfangreich und schwer. Gott sei Dank kommt meine Mutter ein paar Mal in der Woche, bei der habe ich dann auch etliche Stunden. Das hilft mir dann, damit besser fertig zu werden.“

      „Ich bin ja ganz gut im Sport, ich werde mich darauf mehr verlegen. Sport wird ja vom Staat sehr gefördert, vielleicht kann ich da was erreichen, dann habe ich auch bessere Karten“, meint Attila, „da wird man zwar auch ganz schön rangenommen, das liegt mir aber mehr als die schulischen Fächer.“

      Zum Abendessen kann Attila leider nicht bleiben.

      Sie verabschieden sich vor Attilas Haus.

      Toni geht nachdenklich den Höhenweg heim.

      Alles ist jetzt anders.

      Die Kinderzeit möchte er festhalten – aber die Zukunft wartet.

      * * *

      Wenn


Скачать книгу