Verloren. Josef Rack

Читать онлайн книгу.

Verloren - Josef Rack


Скачать книгу

      Toni vermeidet es, die Besucher anzusehen, das hat ihm jemand geraten. So hofft er, den Auftritt gut zu überstehen.

      Olga beginnt mit einer Ouvertüre.

      Toni ist jedes Mal fasziniert, wie harmonisch Mensch und Instrument miteinander verschmelzen.

      Die Schüler sehen sie nur von seitlich hinten.

      Das schwarze Kleid, der schwarze Flügel, die dunklen Haare darüber. Im Kontrast dann die weißen Hände, die auf den weiß-schwarzen Tasten schwebend hin und her fliegen, als berühren sie die Tasten gar nicht.

      Alle Augen sind gebannt auf Olga gerichtet.

      Toni ist sich sicher, dass niemand auf ihn achtet. Vor ihm stehen ja zwei Reihen Mädchen. Und so wagt er etwas Mutiges: Seine linke Hand schiebt sich vor, bis er die Hand Ildikos berührt. Kein Zurückzucken, nein, sie ergreift sogar einen Finger von ihm.

      Jetzt ist er sich absolut sicher, sie hat ihn erhört!

      Er ist überglücklich.

      Das erste Lied singt der ganze Chor. Anschließend kommt sein Solo-Auftritt.

      Er geht vor den Chor, stellt sich neben den Flügel.

      Jetzt kann ihn nichts mehr erschüttern, er wird alles geben.

      Höchstens bringt ihn sein vor Freude klopfendes Herz durcheinander. Es macht wahre Luftsprünge.

      Neben ihm Olga, hinter ihm SEINE Ildiko, er schwebt über den Wolken.

      Seine Stimme erschallt in der riesigen hohen Kirchenkuppel.

      So eine Akustik - fast überirdisch. Vor ihm nur eine verschwommene Masse, Köpfe nur als Halbkugeln, die einzelnen Gesichter registriert er nicht. Sie interessieren ihn auch gar nicht. Er fühlt sich auf einmal so wohl. So ein Auftritt bereitet ihm eine absolute Erfüllung.

      Er singt. Wie noch nie kommen die Töne aus seiner Kehle. Olga spielt traumhaft und lächelt ihm immer wieder aufmunternd zu.

      Es ist angesagt, erst zum Schluss eines Aufführungsblockes zu applaudieren. Aber als er endet, kann sich einer nicht zurückhalten, alle andere fallen daraufhin sofort ein und applaudieren vor lauter Begeisterung.

      Toni ist ganz überrumpelt, damit hat er nicht gerechnet.

      Aber jetzt hat er auch bemerkt, wer da angefangen hat zu klatschen. Er traut seinen Augen nicht.

      Da vorne in der dritten Reihe sitzt, halb verdeckt hinter einem größeren Mann: Attila!

      Attila ist hier – welch eine riesige Freude. Er sitzt neben Andrej. Attila streckt sich seitlich hinter einem Mann etwas hoch und klatscht wie ein Wahnsinniger, sein Vater ebenso. Attila strahlt ihn übers ganze Gesicht an und ist offensichtlich total begeistert. Es sieht so aus, als ob Attila mit Andrej mitgekommen ist. Alleine kam er bestimmt nicht hierher. So viel Freude an einem Tag! Eine Steigerung gibt es kaum mehr.

      Nach dem Soloauftritt geht Toni wieder an seinen Platz im Chor, aber nicht außen herum, er drückt sich durch die vorderen Reihen. So kommt er von vorn direkt auf Ildiko zu. Die strahlt ihn an wie aufgehender Sonnenschein. Er muss ja dicht an ihr vorbei, so kann sie ihm ins Ohr hauchen:

      „Ich bewundere dich!“

      Zum Glück kann niemand sehen, wie sein Kopf hochrot anläuft.

      Er fühlt sich wie im siebten Himmel. Könnte er jetzt SEINE Ildiko doch noch in die Arme nehmen – das wäre aber dann nicht mehr zum Aushalten.

      In der Konzertpause vermischen sich alle. Jeder versucht, sich mit seinen Angehörigen zu treffen. Olga und Andrej stehen schon am Seitenausgang, neben ihnen etwas verloren Attila, das ist nicht seine Welt. Toni sieht sie und geht strahlend auf sie zu. Attila kann es gar nicht erwarten und kommt ihm schon entgegen, nimmt ihn in seine kräftigen Arme, hebt ihn hoch und dreht sich mit ihm im Kreis.

      „Jetzt erkenne ich erst deine Begabung. Ich bewundere dich, mach so weiter, du wirst bestimmt einmal ein großer Star.“

      Olga und Andrej empfangen ihn auch mit großer Herzlichkeit.

      Dass seine Eltern Attila aufgesucht und ihn eingeladen haben, darüber freut sich Toni unendlich. Sie wissen, wie sehr die beiden unter der Trennung leiden. Attila hätte sonst ja nie die Gelegenheit, Toni bei einem Auftritt zu erleben.

      Es gibt kleine Häppchen und Verschiedenes zu trinken.

      Vorbeikommende Gäste blicken Toni wohlwollend an, manche geben ihm einen Klaps auf die Schultern oder richten ein paar anerkennende Worte an ihn. Toni ist aber gar nicht richtig auf seine Angehörigen konzentriert. Seine Augen bewegen sich suchend umher.

      Olga meint schmunzelnd: „Na Toni, reichen wir dir als deine Verehrer nicht aus?“ Er fühlt sich ertappt und wird ganz rot.

      „Ich bin nur noch aufgeregt von der Anspannung des Auftritts.“

      Darauf Olga: „Schau einmal unauffällig hinter dich.“

      Toni dreht sich um. Er sieht gleich, was Olga gemeint hat und weiß, dass sie ihn durchschaut und sein Geheimnis erraten hat. Ildiko steht mit einer älteren Frau in der Nähe, wahrscheinlich ist es ihre Mutter.

      Olga ermuntert ihn, doch hinzugehen und sie zu begrüßen, das traut sich Toni nun doch nicht.

      Da steht aber auch schon die Internatsleiterin bei ihnen und beglückwünscht sie. Vor Andrej macht sie einen richtigen Bückling. Wohlwollend streicht sie über Tonis Kopf. Er weiß gar nicht, wie ihm geschieht, fühlt aber Stolz aufsteigen.

      „Na, Genosse Bori, sind sie zufrieden, mit dem was wir aus ihrem Jungen gemacht haben?“

      „Natürlich, aber nicht nur mit Toni, alle Schüler zeigen eine hervorragende Leistung.“

      Die Worte von so einer hohen Respektsperson, gehen ihr runter wie Öl. Sie muss noch bemerken: „Da sieht man doch, wie durch äußerste Disziplin die staatlichen Zuwendungen reiche Früchte tragen.“

      Attila schaut Toni an, sie unterdrücken ein Grinsen und verdrehen die Augen.

      Die Leiterin setzt ihre Runde mit stolz geschwellter Brust fort.

      Ein Gong kündigt die zweite Hälfte des Konzerts an.

      Zuerst singt nur der Knabenchor fünf Lieder - à capella.

      Anschließend wieder der gemischte Chor. Den Schluss bilden dann drei romantische Lieder. Beim ersten spielt Olga nur und Toni singt allein neben dem Flügel. Beim nächsten singt auch Olga mit. Das letzte Stück, den „Sommernachtstraum“, spielen sie vierhändig am Flügel. Man erkennt gleich, dass diese beiden eine harmonische Einheit bilden.

      Der Schluss-Beifall ist gewaltig, alle springen auf.

      „Toni, Toni!“ – Rufe - von wem wohl?

      Andrej hält es nicht mehr an seinem Platz, er muss vor und seine Olga und auch Toni in die Arme nehmen. Attila folgt ihm.

      So bildet sich ein richtiges Durcheinander.

      Die Leiterin macht kurz Anstalten einzuschreiten, besinnt sich aber und lässt es dann geschehen. Sie steht abseits und sonnt sich an dem Erfolg, der doch auch ihrer ist.

      Auf einmal fühlt Toni eine Umarmung, hat den süßen Duft von Rosenöl in der Nase und fühlt einen Kuss auf seiner Wange. Er bleibt starr stehen. Ja nicht bewegen, es soll ja niemand etwas davon bemerken – und es soll nie zu Ende gehen.

      Er weiß, von wem der Kuss ist!

      Als endlich wieder Ruhe einkehrt, müssen sich alle auf ihre Plätze begeben.

      Die Leiterin hält noch eine Abschiedsrede mit Lobpreisungen auf den gütigen Staat. Anschließend überreicht ein Parteifunktionär allen aktiven Teilnehmern eine Urkunde.

      Toni erhält noch eine besondere Auszeichnung:

      Für seine überragende Leistung gewährt ihm der Staat einen Gutschein für drei Tage Ferienaufenthalt


Скачать книгу