Jakob Ponte. Helmut H. Schulz

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Jakob Ponte - Helmut H. Schulz


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zu verleiden. In ihren Adern schien kein Blut zu rollen, sondern ein Gemisch aus Wasser, Säure und Bitterstoff. Wenn Fräulein Krebs den Kopf nach hinten oder zur Seite warf, so flogen ein paar Ohrgehänge wie aus einer Schleuder mit herum, sodass ich immer fürchtete, sie müssten ihre Ohrläppchen, die freilich ungemein lang herabhingen, zerreißen. Sobald sie uns zum Singen aufrief, schlich sie durch die Reihen, den Kopf vorgestreckt, um einen Brummer zu erwischen. Die Geige wie eine Wippe unter den Arm geklemmt, den Bogen zum Kampf gegen die Kinder gezückt, blieb sie bei diesem oder jenem stehen, und stieß misstönende schrille Rufe aus. Das gepeinigte Kind sang lauter und demzufolge falscher, was die Lehrerin veranlasste, es je nach Geschlecht als einen Ochsen oder als eine Kuh zu bezeichnen. Kühe allerdings hatten wir keine in der Klasse, weil die Einrichtung in Geschlechtern getrennt war. Zur Strafe musste der Brummer allein singen, was allemal kläglich ausfiel, denn man kann einen Menschen zwingen Steine zu klopfen, ihn aber nicht zum harmonischen Singen bewegen. Meine schlechten Noten in Musik konnten sich meine Angehörigen nicht erklären, denn zu Hause sang ich wie eine Lerche und bin wie erwähnt auch zur Verstärkung des Laienchores als Kindersopran herbeigezogen worden, einmal sogar als Aushilfe bei der Oper als einer der Drei Knaben in der Zauberflöte des Musikmagiers Wolfgang Amadeus.

      Am ehesten zu ertragen war der Turnlehrer, der eine Trillerpfeife zwischen den Zähnen hielt, wenn er uns im Laufschritt durch die Turnhalle trieb, in einem verblödenden Trab, bei dem wir uns anrempelten und mit den Ellenbogen stießen, froh, uns bewegen zu können. Der aufmerksam gewordene Lehrer pfiff Protest und brachte uns wieder zur Ordnung. Er verschmähte es zu prügeln, zog aber körperbegabte Menschen in auffallender Weise vor. Ich hatte das Glück, meine Gliedmaßen gut zu beherrschen; auch gefielen mir die Leibesübungen am Turnreck und an der Kletterstange, sie kamen meinem Drang nach Bewegung entgegen. Fröhlich schwang ich meinen dürren Leib zwischen den Holmen des Barrens, und Lehrer Marx, so hieß er, sah es mit Wohlgefallen. Andere Pädagogen gab es in der sogenannten Volksschule nicht, als die, von denen ich berichtet habe; sie sind Plagen genug gewesen.

      Endlich machte ich die Bekanntschaft anderer junger Menschen und zog einen großen Nutzen daraus. Da einige meiner Jugendfreunde den Leser durch meinen Bericht begleiten werden, sollen hier erste Beschreibungen ihrer Vorzüge und Schwächen folgen.

      Zuerst aber muss eine kurze Bilanz gezogen werden. Es war nicht zu leugnen und gab nichts zu beschönigen, im Ganzen bereitete mir die Schule kein Vergnügen, und da ich sie nicht lieben konnte, rächte sie sich mit miserablen Zensuren. Das wiederum regte meine Familie zur Kritik an. Wieder fielen negative Äußerungen über meinen abwesenden und fraglichen Vater, Worte, deren Härte und Feindseligkeit mich befremdeten. »Er wird genauso faul wie der Argentinier«, hieß es über mich. »Was hat er denn eigentlich geleistet, dieser sogenannte Argentinier? Staubsauger verkauft hat er! Ein Vertreter also, haha!«

      Zu jener Zeit wurden die Kinder zu Ostern eingeschult. Wir arbeiteten uns einige Wochen lang bis zu den großen Ferien hindurch ab, die allerdings kürzer waren als heute und etwa im Juli begannen. Wir vergessen leicht, ich habe schon darauf hingewiesen, dass Kinder einen anderen Zeitbegriff haben als wir, die Erwachsenen, deren Tag aus vielen Gründen kürzer ist. Unseren kleinen Brüdern und Schwestern wird der Vormittag manchmal sehr lang, entweder weil er Gutes, oder aber weil er Schlimmes birgt. Jedenfalls ist ihr Tag so lang wie unsere Woche, sie trödeln, wo wir eilen. Ein Jahr ist ihnen wie eine Ewigkeit, uns vergeht es im Fluge. Aber sie lernen an einem Tag auch mehr als wir in vier Wochen. Als ich an der Hand Mamas auf dem Schulhof stand und der Einweisung in den Schultag harrte, waren mir ein paar Jungen aufgefallen, deren gediegen, bürgerlich Äußeres, so will ich es nennen, auf eine innere Verwandtschaft zu mir schließen ließ. Des Umganges mit Erwachsenen war ich etwas überdrüssig; ihre Schrullen, ihre Heuchelei, ihre tiefe Verlogenheit und Rechthaberei kannte ich schon, sie boten mir nichts Neues. Mich dürstete es nach der Reinheit von Kindern. Auf Geschwister durfte ich nach Lage der Dinge nicht hoffen, obschon meine arme Mama sich anlässlich der Siegesfeier wegen ihres nächtlichen Ausbleibens strenger Kritik durch Großmutter ausgesetzt sah.

      Die Namen meiner künftigen Freunde seien hier feierlich mitgeteilt: Jan Links, Artus Hengst, beziehungsweise Pflaumenbaum, zuletzt Prunicaeus und Karl Kniri. Später kam noch der Freiherr Ehrenfried von Schramm hinzu, den ich an der passenden Stelle einführen werde. Bis in diese Tage hinein haben unsere Beziehungen gehalten. Deshalb gehören ihre Namen auf die Ehrentafel der großen Männerfreundschaften, etwas durchaus Seltenes, wie jeder zugeben wird.

      Jan war der Sohn des Kaffeehausbesitzers Links, welcher sein Geschäft am Rande des Marktes betrieb, und zwar mit erheblich ökonomischem Erfolg und kulturellem Nutzen. Jan schienen am Tag unserer Einschulung ähnliche Gefühle wie mich zu bewegen, die Gleichheit unserer Schicksale band uns von vornherein aneinander. Wie ich zählte auch er zu den Schwachen, das heißt also zu den begabteren Schülern, mit denen keine Schule je etwas anzufangen gewusst hat, eben weil sie alle Kinder gleichmachen will und muss. Von Gestalt war er mir ähnlich, die Handgelenke schmal und die Finger lang und grazil. Sein bräunlicher Teint und das dunkle Haar ließen brüderliche Zuneigung zwischen uns entstehen, denn ich besaß ähnliches Haar und ähnliche Augen, die allerdings, anders als seine, asiatisch geschlitzt waren. Wir übten uns im Kampf und galten bald als Raufbolde. Selbstredend kam ich ihm zu Hilfe, wenn er im Gefecht mit anderen zu unterliegen drohte, wie umgekehrt er mir in kritischen Lagen beistand. Nach den anfänglichen Erfahrungen der morgendlichen einsamen Schulgänge warteten wir aufeinander und berieten unterwegs die Strategie, unsere Lehrer zu hintergehen, oder uns kleine Vorteile über sie zu verschaffen. Es verband uns noch etwas anderes, die edle Musica. Jan spielte schon meisterhaft auf dem Klavier in seinem Zimmer oder auf dem Stutzflügel im elterlichen Café. Manch ein Musikliebhaber hielt sich seinetwegen länger dort bei einer Tasse Kaffee auf. Übrigens konnte Jan für älter gelten, er war ein frühreifer Mensch und stritt sich nie mit den Lehrern, er trug während der vier Jahre Volksschule eine schöne Überlegenheit zur Schau; seine unkindliche Arroganz empörte natürlich die Aufseher, und er errang demzufolge immer schlechtere Noten in den allgemeinen Fächern. Wenn ich mich eben als Raufbold ausgab, so bedarf es dazu einer Anmerkung. Im Grunde genommen schreckt meine Natur vor der körperlichen Gewalt zurück. Aber ich war einer jener Taugenichtse, die aus einer Meute heraus Überfälle provozieren, was meine Feinde als heimtückisch bezeichneten, nicht bedenkend, wie hinterlistig sie selbst waren. Aufs Ganze betrachtet und vom Standpunkt der Erwachsenen aus, handelte es sich um harmlose Rangeleien unter Jungen, um jenes Balgen, das nötig ist, um Kräfte zu messen und eine Rangordnung zu entwickeln. Allein es zeigten sich doch unterschiedliche Anlagen, und ich bin überzeugt, dass sich in unserer Schülerklasse auch Kinder befanden, die viel gelassener, also viel blöder und eintöniger dahinlebten. Durch Jan Links wurde ich ins Kaffeehaus eingeführt. So wie mich das Innere einer Kirche zu erheben und zu berauschen vermochte, so rasch geriet ich in den Bann dieses weltlichen Etablissements. Auf den runden Marmortischen befanden sich Ascher und jeweils ein kleiner silberner Ständer mit der Nummer des Tischchens. Die Stühle waren dunkel gebeizt und die Wände mit einer schwarzen Täfelung versehen. Neben diesem Braun und Schwarz herrschte Grün vor, das Glas der Türen war grün, die Samtbezüge der Sofas in den Seitennischen ebenfalls, und überall fanden sich die so eigenartig geschnörkelten Schriftzeichen der Jugendstilepoche. An einer Seite, fast die ganze Wand einnehmend, stand das Büfett, im Ton wie das andere edle Mobiliar gehalten, aber durch blitzende Spiegel, Gläser und Kristall herausgehoben. Die Kasse war durch Herrn oder Frau Links ständig überwacht, während ein Schwarm junger Mädchen in kurzen schwarzen Seidenröckchen, so kurz wie es der damalige Sittlichkeitsbegriff der Provinz erlaubte, und weißen Servierschürzen zu passenden Häubchen die Gäste mit Kaffee und Kuchen, Likören und Wein versorgte und durch gefälliges Lächeln zum Bleiben ermunterten. An den Nachmittagen bis in die Abendstunden hinein saß ein Pianist vor dem Stutzflügel und bot, was man Kaffeehausmusik nennt; in das Tröpfeln der Töne mischte sich leises Klingeln der Löffel an Tassen oder Tellerrändern. Manchmal stieg ein Lachen von einem der Tische auf, und jedenfalls schwebte über alledem der Zauber einer trägen, vom Nichtstun gekennzeichneten lasziven Welt, einer Welt zwischen den Zeiten. Denn noch war beinahe alles wie es zuvor gewesen, zumal in einem Provinzcafé, dessen Chef viele Beziehungen zu den Lieferanten aufrechterhielt.

      Als Freund des Hauses genoss ich hohes Ansehen bei den jungen Dienerinnen, die mir Schokolade servierten, mich anlächelten oder mir


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