Jakob Ponte. Helmut H. Schulz

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Jakob Ponte - Helmut H. Schulz


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einem bürgerlichen Dasein in Glück und Wohlstand. Den Namen Hengst trug er zu recht, weil er immer in Eile schien, hin und hertrabend, als entgehe ihm etwas. Er war ein Frühauf, um uns am Morgen frische Semmeln zu bringen, also unsere Leinenbeutel an den Haustüren mit frischem Gebäck zu füllen, damit uns nichts ermangele. Der geschätzte Leser wird einmal mehr finden, dass diese Darstellung viel zu hoch gegriffen ist, da es sich um Kinder zwischen sechs und sieben Jahren gehandelt hat. Dass gewöhnlichen Menschen täglich frisches Gebäck gebracht wurde, ei, wo gab es das denn! Gewiss, das gab es; ich stütze mich auf die Erfahrungen meines Lebens. Latscht ihr nur in die Märkte und kauft etwas, dass aus einer Fabrik kommt und den Namen Brötchen trägt! Und nennt es Fortschritt!

      Von diesen Gefährten meiner Kindheit wird viel die Rede sein, deshalb war es notwendig, erste kurze Porträts von ihnen vorzulegen.

      In das Jahr AD 1941 zurückgreifend, will ich hier noch von meiner schwersten Krise berichten, die sich in der Woche vor dem 22. Juni 1941 einstellte. Besorgt verabreichte Doktor Wilhelmi schmerzstillende Mittel, auch mein Meister Fabian wachte an meinem Bett, Mama ablösend, und notierte für sie, was er durch Fragen aus mir herausbrachte. Mir stehen also zwei verschiedene Deutungen in ihren Tagebüchern zur Verfügung. Von heute aus gesehen, könnte man meinen Anfall als Wendefieber oder als Wechselfieber bezeichnen. Rascher als gewöhnlich und zum Erstaunen meiner beiden Pfleger, die sich an meinem Krankenlager einmal nicht stritten, sondern in wirklicher Sorge um mich gewesen sind, gesundete ich bald. Was mir aus dem Tagebuch Mamas und in meiner Erinnerung an jene schweren Stunden meiner Krise bekannt ist, bleibt merkwürdig genug. Mir scheint es von besonderem Interesse, darauf hinzuweisen, dass ich damals in einen telepathischen Kontakt zu einem Soldaten der Wehrmacht mit Namen Liskow getreten sein soll, der sich, von Beruf Arbeiter in einer Möbelfabrik zu Kolberg, am 21. Juni 1941 von seiner Wehrmachtseinheit, der 74. Infanteriedivision, die an der polnisch-sowjetischen Grenze lag, kühn, aber entschlossen und eigenmächtig entfernte. Um den Weltfrieden besorgt, schwamm jener über den Bug, um die Offiziere der Roten Armee am anderen Ufer vor dem bevorstehenden Einmarsch der Wehrmacht zu warnen. Anschließend kämpfte er klassenbewusst in ihren Reihen und fiel, wie ich annehme und für ihn hoffe, denn was aus ihm wurde, ist unbekannt.

      Ich hätte ihn gern kennengelernt und solidarisch die Hand gereicht und ihm von meinem Traumgesicht erzählt, beziehungsweise ihn nach seinen Gesichten und Traumerfahrungen befragt, denn wir sind Verwandte im Geiste gewesen. Wer mir nicht glaubt, der kann den historischen Fall im Lexikon der Geschichte recherchieren. Zu diesem mir völlig unbekannten Mann trat ich also in ein kurzes, aber inniges telepathisches Verhältnis, sah ihn in jener Sommernacht zum Fluss wandern, dessen Namen ich nie gehört hatte, sah ihn die Uniform ablegen, die ihn beim Schwimmen behindert hätte und entschlossen ins Wasser steigen. Sogar seinen Übergang zur andern Seite verfolgte ich mit innerem Auge, wohnte dem freundlichen Empfang durch einige sowjetische Offiziere bei, hörte sie Angstrufe ausstoßen, als ihnen der Soldat Liskow das Geheimnis anvertraute das der großen Wende in den Beziehungen der beiden Paktmächte. Alle, die mein Schmerzenslager umstanden, hörten mich wiederholt und sorgenvoll den ihnen unbekannten Namen hervorstoßen. In Mamas Tagebuch steht jedenfalls eine Notiz, die deutlich macht, wie verstört alle gewesen sind und sich fragten, wie es nach der Botschaft Liskows weitergehen würde, im Gang der Geschichte. Nur meine Großmutter Clara Katharina soll gesagt haben: »Dieser Lümmel hält uns alle mal wieder zum Narren; was bei solch einer verrückten Mutter kein Wunder. In der Tat wird es Krieg mit den Russen geben, aber wenn es jedermann weiß, warum ist es dann ein Geheimnis?«

      »Womit Sie es getroffen haben«, trat ihr mein Meister Fabian beipflichtend an die Seite. Der Arzt schaltete sich ein. »Jedenfalls schließt die Wissenschaft telepathische Fähigkeiten nicht grundsätzlich aus, verehrte Frau Ponte. Wie sie zustande kommen, ist eine andere Frage. Es ist nicht seine Schuld, wenn wir Jakob nicht begreifen«.

      »Na, sehen Sie«, sagte der Geistliche zufrieden und legte mir die Tatze auf die Stirn. »Schritt für Schritt kommen sich Geistlichkeit und Atheist näher«

      »Aber ich finde es sehr anstrengend, einen Hellseher im Hause zu haben«, soll Großmutter geendet haben. Mamas Tagbuch ist gelegentlich recht genau, wie der gutgläubige Leser sieht, womit mir die Sicht auf jene Zeiten erleichtert wird. Anderen Tags aber war mein Traum Wirklichkeit. Deutschland befand sich im Krieg mit Russland! Mit der Sowjetunion. Die mündliche Überlieferung der Ereignisse um den Soldaten Liskow wurde allerdings erst Jahre später von den politischen Historikern nutzbringend aufgegriffen. Zu diesem Liskow gesellten sich unzählige Mahner und Warner, dass ich mir die Freiheit herausnehmen darf, mich unter sie wegweisend weiter vorn einzureihen. Ich musste hier darüber wahrheitsgetreu berichten als einem weiteren Beispiel meiner Kunst, auch wenn sich später herausstellte, dass es überall Liskows gab, die Bescheid gewusst haben, dass es geradezu von ihnen wimmelt. Nach dieser wichtigen Einlassung darf ich in der Schilderung meines Lebens fortfahren. Hier haben Sie ein Beispiel wie man Geschichte schreibt, hätte hierzu Voltaire bemerkt.

      Ich hatte endlich und nach überraschend kurzer Zeit lesen gelernt hatte. Aber ich dachte gar nicht daran, bei den Kinderbüchern, die sie mir kauften, stehen zu bleiben, obschon ich einige las. Einen Mann namens Sigismund Rüstig lernte ich kennen und blätterte seine Geschichte flüchtig durch, fand alles zuerst recht spannend, bemerkte aber noch rechtzeitig die versteckten erzieherischen Zwecke hinter diesem ehrlichen, arbeitsamen und wahrheitsliebenden, leider etwas doofen Menschen.

      Den Höhlenkindern im heimlichen Grund folgte natürlich Robinson Crusoe und Gullivers Reisen, das heißt die für das kindische Eiapopeia zurechtgestutzten Fassungen. Es handelte sich, wie ich ahnte bei dieser Art Bücher um ein listig hergestelltes moralisches Gemisch, um die kindliche Lust am Abenteuer auszunutzen. Der Wunsch, die Welt durch außerordentliche Leistungen zu überraschen, wurde hier wie auch in anderen Kinderbüchern, die mir zugänglich waren, mit dem Zuckerwerk des erwünschten Verhaltens zu einem süßen Brei verrührt. Instinkt und Beobachtung sagten mir, dass die wirkliche Welt um manches ärgerlicher, ungerechter und grausamer war als dieses von weggelaufenen Lehrern geschriebene Zeug. Ich brauchte nur in ein Kino zu gehen, um die Wirklichkeit zu erkennen; in der Wochenschau bekamen kleine Jungen nicht bloß einen Husten, den Mama und Papa mit ein paar Tropfen Honigsirup heilen; sie bekamen nicht den Klaps auf den Hintern, sondern den Fangschuss, ihre Leichen wurden in Reihen hingelegt und wurden gefilmt, als sei nichts von Bedeutung geschehen. Still lagen sie neben ihren getöteten Vätern, und ihre Mütter trugen Rot-Kreuz-Binden und gingen gleichgültig zwischen den Toten hin und her.

      Mein Wahlvater Fabian besaß eine schöne Bibliothek. Ich mochte acht oder neun Jahre alt gewesen sein - der kluge Leser wird diesen Zeitsprung um so lieber in Kauf nehmen, wenn er sich vergegenwärtigt, dass im Leben kleiner Jungen nicht viel Aufschreibenswertes geschieht - als ich diesen Reichtum an Büchern wahrnahm. Durch den Flur seiner Wohnung kam der Besucher in einen großen Raum, seinem Studierzimmer mit fast schwarzen Eichenmöbeln, mit Lesepult, dem Schreibtisch, einem meterhohen Kruzifix; im Nebenzimmer, einer schlichten Kammer, stand ein breites Bett und ein kleiner Tisch mit Leselampe. Außer diesen beiden Zimmern, die übrigen Räume lernte ich erst später kennen, enthielt die Wohnung des Geistlichen noch eine große Küche mit Wandbrettern und Borden voller Kasserollen und Tiegel und einem gut versorgten Weinkeller. Entgegen den Gepflogenheiten zölibatärer Geistlicher bestellte er sich weder eine Köchin noch eine Magd zur Bedienung am Tisch und im Bett. Hin und wieder kam eine alte Frau, die ihm alles in Ordnung brachte. Ich glaube, dass er eigentlich nur für seine Bücher lebte. In meiner freien Zeit begab ich mich nun öfter entweder allein oder mit Jan und Karl zu ihm, der uns an seinen Bücherschätzen teilhaben ließ und sicherheitshalber jedes ausgeliehene Buch in ein Heft eintrug.

      In jener Zeit, als ich zu lesen und also zu begreifen anfing, stand ich natürlich vor einem Dschungel ohne Weg und Steg. Lesen, anschauen durften wir bei ihm, soviel wir wollten und solange wir ihn nicht störten, aber nur ungern ließ er uns ein Buch mit nach Hause nehmen. Mit Recht, denn Bücherfreunde sind im Allgemeinen Bücherdiebe. Dieser Zug ängstlichen Festhaltens am Bücherbesitz und sein manischer Trieb, wertvolle Bücher zu erwerben, erinnert mich an jenen Kriminalfall im Sächsischen, wo ein Pfarrer als mehrfacher Frauenmörder gerichtlich belangt werden musste, weil ihn die Leidenschaft des Sammelns von Druckwerken dazu gebracht hatte, vermögende Frauen aufzuspüren, möglichst reiche Witwen, sie zu heiraten,


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