Jakob Ponte. Helmut H. Schulz
Читать онлайн книгу.des römischen Index, und natürlich etliches an Bibeldrucke. Aber seine Richter hatten Verständnis und Mitleid mit diesem armen Tropf und ließen ihn am Leben.
Mein Meister las als theologisch gebildeter Mann beinahe alle europäischen Sprachen. Unglücklicherweise war er kein Liebhaber des Neuen Testaments, vielmehr studierte er vorzugsweise die blutigen alten Geschichten, in denen es stets um Macht und um Liebe geht, obschon alle diese schlüpfrigen Histörchen in das Mäntelchen des Glaubens gehüllt sind, das heißt, unter der Oberhoheit Jahves verübt wurden. Nachdem wir erfahren hatten, wie und warum Judith den Holofernes umgebracht und mit welchen Mitteln David den Ehemann aus dem Wege geräumt hatte, um sich der Bathseba zu bemächtigen, durften wir nach Belieben in den Bücherschränken und in den Regalen nach Lesestoff unserer Wahl forschen, in alten Wälzern mit den Holzschnitten der Apokalypse Dürers blättern, den Totentänzen und Weltuntergängen. Von Cranach bis Bosch kannten wir bald alle diese Gestalter von erhabenen Katastrophen. Um einige Bücher zu nennen, deren Titel ich damals hörte, später las und immer wieder las, die Ilias des alten Fabulierer Homer natürlich, zunächst nur in den holprig-poltrigen deutschen Übersetzungen, die Abenteuer des Don Quijote, Platos Staatsideen, die Utopia des Thomas Morus, alles fiel mir zeitig in die Hände, und weckte oder nährte den Skeptiker in mir. Genug, es waren frühe Freuden und geistige Abenteuer, die meinen Weg mitbestimmt haben. Einmal aber kam die Frage zwischen uns Jungen und ihm, dem Erfahrenen, zur Erörterung, was ihn an diesen Platz in Müllhaeusen gebracht hatte, und was ihn hier festhielt, ein Umstand, der selbst unseren Eltern rätselhaft erschien. Ruhig saß er in seinem großen Chorstuhl, die Füße auf ein Kissen gestellt und den Ellenbogen aufgestützt, die Hand an die Wange gelegt. Erinnere ich mich richtig, so gab er vor, mit seinem Los zufrieden zu sein. Bei anderer Gelegenheit kamen wir, er und ich, uns näher und er erklärte sich für mich verständlicher. Ich hockte ihm zu Füßen, ein schlitzäugiger, spilleriger Teufel, unruhig und schlau; wir waren ein hübsches Gespann.
In diesen Tagen reiste der Führer Adolf Hitler durch unsere Stadt, aus welchem Grunde, habe ich vergessen, finde auch nichts darüber verzeichnet. Die Historiker behaupten, der Führer habe während des Krieges öffentliche Auftritte gescheut und sei nur selten gereist. Einmal zumindest war er es doch und besuchte unsere Provinz, und unser Haus am Markt, das schöne alte Knochenhauerinnungshaus, wurde für diese Stunde an diejenigen vermietet, die vom Schicksal nicht so begünstigt waren wie wir. Mein Zimmer im Giebel blieb von den Mietgästen verschont, aber ich durfte meine Freunde zum Schauen einladen. Bereits in der Nacht vor dem großen Ereignis begann sich der Platz unter uns mit Menschen zu füllen. Die Leute brachten Stühle mit und verzehrten während des Wartens die mitgebrachten Esswaren; die sogenannte Verdunkelung ward aufgehoben, Autos fuhren heran und wieder ab, im Rathaus waren alle Fenster besetzt, und ein dichter Wald großer roter Fahnen mit dem Hakenkreuz darin beherrschte den im Frühdunst liegenden Platz. Nach einer unruhigen Nacht, noch ehe die Sonne aufging, wickelten wir uns, Jan und Karl, aus den Decken. Großmutter kam herauf und brachte uns Frühstück. Auf dem Platz unten war schon kein Durchkommen mehr, ein breiter Gang, der in eine Seitenstraße führte, musste entweder von der SS-Leibgarde oder einem SA-Sturm offengehalten werden. Von dort würde der Erwartete also wohl kommen. Eine SA-Kapelle zog auf und begann Märsche zu spielen. Just um diese Zeit kam auch mein Wahlvater Fabian, um zu fragen, ob wir jungen Leute ihm einen Platz in ihrer Mitte gewähren würden. Zuletzt erschien noch sein Freund, der Oberstudienrat Kniri und bat auch um Asyl.
»Als wenn der Papst kommt«, sagte Jan, der wie sein Vater nur kirchenfromm und das heißt, gleichgültig gegenüber dem Christentum war. »Päpste gehen nicht auf Reisen, mein Sohn«, erklärte Hochwürden Fabian, »sie lassen kommen, sie gewähren Audienz«!
Damals fing ich an, Unterschiede zu sehen, die aus den Veränderungen in der Welt herrührten, was meinen Enthusiasmus für das Führertum im Allgemeinen nicht schmälerte. Zuerst hörten wir in der Ferne ein Brausen, es kam aus einer Vielzahl menschlicher Kehlen. Auf dem Platz rasselten Trommeln, Fanfaren fielen schmetternd ein, und dann strudelte eine Gruppe Menschen durch den frei gehaltenen Gang auf den Platz. Der Führer trug eine dunkle Hose, den hellen braunen Waffenrock und Mütze, mit schnellen Schritten erklomm er die Treppe unseres Rathauses, gefolgt von einigen seiner Getreuen in schwarzen, braunen und grüngrauen Uniformen. Gesichter ließen sich nicht erkennen. Mir stieg ein Kloß in die Kehle; ob mein Vater, wie ich Hochwürden in diesen Aufzeichnungen fortan nennen will, ganz wie ich in der Wirklichkeit jener Jahre, dem Augenblick ebenso erlag wie ich? Der Mittelbalkon des Rathauses war geöffnet worden, und der Führer trat grüßend heraus; dort stand ein Mensch, aus den Tiefen aufgestiegen bis zum Beherrscher Europas, und wir alle glaubten uns an seinen Stern gebunden, was auch kommen werde, und schwelgten in Seligkeiten, nicht nur wir kleinen Leute, auch die Großen der Welt, und deshalb habe ich gute Gründe anzunehmen, dass auch mein Vater in dieser Stunde eher das Licht sah, nicht aber die Schatten, die dieser Herrscher warf, wie jeder ungewöhnliche Mensch.
Unten auf dem Platz zuckte und schrie die Menge, reckte die Arme, drängte dicht an das Podest heran, indessen der Führer, den Arm erhoben, dastand, ohne Bewegung, die Hand ans Koppel gelegt. Er hielt keine Rede, blieb nur kurze Zeit auf dem Balkon, ehe er ins Innere des Rathauses verschwand. Die Menge unten verlief sich jedoch nicht. Als der Führer nach Stunden wieder herauskam, grüßte, Hände schüttelte und lächelte, war das Gedränge eher noch größer geworden. Der Führer nahm den kürzesten Weg durch die Menge; er verließ uns. Viele weinten, sie konnten nach diesem Erlebnis nicht einfach auseinandergehen; sie schlenderten herum, redeten, das Volksfest dauerte bis in die Nacht. Damals beschloss ich, ein junger Nationalsozialist und Gefolgsmann des Führers zu werden, und in das deutsche Jungvolk einzutreten, obschon ich angeblich zu klein und zu jung war, um aufgenommen zu werden. Mama, auch meine Großeltern hielten mich für ungeeignet, einer solchen Körperschaft beizutreten.
Für die Nachgeborenen, die es nicht wissen können; beim Jungvolk handelte es sich um eine Unterorganisation der Hitlerjugend, in letzterer durfte der junge Deutsche erst nach vollendetem vierzehntem Lebensjahr eintreten. Der heiße Wunsch aller Kinder aber richtete sich auf die Erlaubnis der Eltern zum Eintritt ins deutsche Jungvolk, das uns ab zehntem Jahr offenstand. Die Großen aber teilten das Begehren ihres Nachwuchses, in eine paramilitärische Organisation einzutreten, nicht immer. Mama war wie gesagt der Ansicht, ich sei zu klein und zu schwach, um den Strapazen einer barbarischen Erziehung gewachsen zu sein, die mit den Pflichten eines Jungvölkischen, verbunden gewesen sind. Großmutter sah alles von der praktischen Seite her an, sie fürchtete die Aufwendungen an Geld für meine Ausrüstung und darüber hinaus, dass mein Lebensweg zum Geistlichen unterbrochen werden könnte. Denn irgendwie hatte sie ihre Pläne mit mir geändert und mich vom Uhrmacherhandwerk entbunden und zum Theologen bestimmt.
Am Tag nach dem Hitlerbesuch hatten wir Knaben einander geschworen, den Widerstand unserer Eltern zu brechen. Herr Caskorbi und Fräulein Krebs waren pflichtgemäß der Auffassung, wir alle gehörten in den Rock dieser Jugend. Die Lehrer mochten andere Gründe haben als wir, aber alles hing eben von der Zustimmung der Eltern ab. So kam die Stunde heran, wo ich im Erkerzimmer, unserem Thingplatz, die Familie mit meinem unabänderlichen Entschluss bekannt machte, Nationalsozialist und Gefolgsmann des Führers zu werden. Übrigens hatte sich Großvater des Urteils enthalten; er war Parteimitglied und konnte nicht gut gegen meine Pläne stimmen.
Besonnen fragte Großmutter: »Hat Herr Links seinen Jan auch schon angemeldet?« Ich mogelte ein halbes Ja in meine Antwort, denn zur gleichen Stunde mussten die Verhandlungen im Hause Links begonnen haben, mit ebenso ungewissem Ausgang. »Und was sagt Herr Oberstudienrat?«
»Ich glaube«, schaltete sich mein Wahlvater Fabian ein, der am Familienrat teilnahm, »da hat es keine Not. Lassen Sie es gehen, wie es will! Wir sind eingekreist, liebe Großtante, sind belagert, und übrigens hat es wenig Sinn, die Zustimmung zu verweigern, weil alle diese Knaben eben nach frühem Waffenruhm streben. Das wird sich legen«. Nach einer Weile fragte ihn Großmutter: »Sind Sie eigentlich auch schon Nazi? Offenbar sind alle verrückt geworden. Was sich da gestern abgespielt hat, das ging auch schon über meinen Verstand. Wozu muss ein solch kleiner Bengel in Uniform herumlaufen? Jakob wird Geistlicher, kein Krieger«. Anderntags suchte ich mit Großvater ein Effektengeschäft auf, um die Uniform zu kaufen; mit Geld waren wir gut versehen. Zuerst betraten wir das Café, denn auch Jan war erfolgreich gewesen. Herr Links erschien,