Lebenswege - Eine ostpreußische Familiengeschichte. Frank Hille
Читать онлайн книгу.mit der Einsicht wieder, dass es für den Menschen zuträglicher sei, seine Arbeit im Verbund der Großfamilie zu leisten und damit auch die Gewissheit zu haben, mit dem Älterwerden nicht in Armut zu enden, sondern weiter versorgt zu sein. Außerdem waren sie in der Situation, ihre Ernährung selbst zu sichern, und der Wohnraum ging von Generation an Generation über, keiner war ohne Bleibe. Abwechslung hatten sie in ihrem Fleck erwartungsgemäß wenig. Die Männer saßen nach dem Tagewerk bei Bier und Schnaps in der Schankwirtschaft und plauderten über das Vieh oder die Dinge die in den Familien passierten, die Frauen sammelten sich gern am einzigen Laden im Dorf und bei Ihnen drehten sich die Gespräche meistens um die Kinder. Die Dorfjugend hätte für ihre überschüssige Kraft kein besseres Quartier als die Gegend um ihr Dorf herum finden können. Die Väter erlaubten den Jungen auf Pferden die Gegend zu durchstreifen, und die Mädchen saßen an den Seeufern und tratschten über die heranwachsenden jungen Männer.
Natürlich ging der Fortschritt an ihrer Idylle nicht vorbei und Ende der zwanziger Jahre tauchten die ersten Automobile auf, die sich über die sonst nur von Gespannen befahrenen Wege mühten. Mit diesen Fahrzeugen kamen Güter in den Dorfladen, und auf dem Rückweg war der Wagen mit Säcken voller Getreide beladen oder waren Kühe darauf festgebunden, deren letzter Weg in den Schlachthof führte. Der Laster kam stets am Donnerstag gegen die Mittagszeit und Peter Becker versuchte jedes Mal die Maschine in Augenschein zu nehmen. Verglichen mit den Mitteln, die sie für die Feldarbeit zu Verfügung hatten, schien ihm das Auto wie die Verheißung besserer Zeiten, wenn sie über solche Technik verfügen würden wäre das das Ende der Plackerei mit dem pferdebespannten Pflug. Der Fahrer war einem Schwatz nicht abgeneigt und sonnte sich in der Bewunderung der Männer und der Jungs, die das Gefährt ehrfürchtig umrundeten. Wie um ihnen zu zeigen, welch komplizierten Mechanismus er beherrschte, öffnete er ab und an die Motorhaube und schraubte geschäftig an diesem oder jenem Teil herum. Brummelnd hielt er eine Zündkerze in das Licht, um diese dann fachmännisch zu reinigen und wieder in den Motor einzubauen. Die Männer fragten ihn nach dem einen und anderen und Peter merkte genau, wie der Fahrer in seiner Rolle als Spezialist Zentimeter für Zentimeter wuchs.
„Man muss schon ein Gefühl für die Maschine haben, sonst geht das nicht. Mein Wagen hat immerhin sechs Zylinder und einen Hubraum von fast drei Litern, mit den 45 PS schaffe ich auf einer guten Straße leicht 80 Kilometer in der Stunde.“
Für Peter Becker waren dies unverständliche Worte, und auch die Männer sahen sich verwundert an. Zwar arbeitete bei einigen ein Diesel, um zum Beispiel Dreschmaschinen über Transmissionsriemen anzutreiben, aber zu mehr als das Gerät ein- und auszuschalten waren sie nicht in der Lage. Verweigerten die Maschinen den Dienst war der einzige, der etwas ausrichten konnte, der Schmied, der in seiner Werkstatt imstande war einfache Ersatzteile herzustellen. Konnte er aber auch nicht helfen mussten sie auf den Mann der Maschinenbaufirma warten, der dann mit einem Motorrad mit Beiwagen auf dem Hof erschien. Glücklicherweise besaß der Bürgermeister in seinem Haus den einzigen Telefonanschluss des Dorfes, so konnte er wenigstens Bescheid geben. Peter selbst war von den grobschlächtigen Dieselmaschinen fasziniert, und als ihre eines Tages ausfiel, erlaubte ihm sein Vater bei der Reparatur zuzusehen. Zusammen mit seinem Großvater, anderen alten Männern und einigen Jungen sahen sie dem Mechaniker zu, als dieser am späten Nachmittag die Maschine demontierte. Nachdem er mehrere Schrauben gelöst hatte hob er den Zylinderdeckel ab und die Kolben wurden sichtbar. Zwischen dem Motorblock und dem Deckel war eine bröselige Lage zu sehen, die an Pappe erinnerte.
„Hab ich‘s doch geahnt, die Kopfdichtung ist kaputt“ sagte der Mann zufrieden.
Er steckte eine Kurbel auf die Welle und die Zylinder bewegten sich auf und ab, an einer Stelle stießen sie an die Dichtung, die dort schon zerstört war. Der Mann fingerte ein Teil aus dem Beiwagen des Motorrads das genau auf den Motorblock passte: die neue Dichtung. Vorsichtig brachte er die Dichtung an, setzte den Zylinderkopf wieder auf, und verschraubte diesen. Bedächtig wischte er sich die ölverschmierten Hände an einem alten Lappen ab, setzte sich auf eine Bank im Hof und steckte sich eine Zigarette an. Alle sahen ihn verwundert an, seine Arbeit war noch nicht beendet und er gönnte sich schon eine Pause. Peters Großvater sprach ihn an.
„Sag‘ mal, du hast die Maschine noch nicht einmal getestet und machst erst einmal gemütlich Pause? Ist das bei euch Städtern so?“
Der andere grinste ihn breit an und antwortete:
„Willst du mit mir wetten, dass der Diesel wieder läuft“ fragte er.
„Woher soll ich das wissen, du scheinst dir ja ziemlich sicher zu sein“ erwiderte der Großvater.
„Hör‘ mal zu“ fuhr der andere fort „das hier ist eine Maschine, kein Pferd. Ich weiß wie sie funktioniert, und wenn ich fertig geraucht habe, werde ich sie starten. Hast du noch Lust zum Wetten?“
„Ach, lass mich doch in Ruhe“ knurrte Peters Großvater.
Der Mechaniker trat die Kippe in den Boden, packte wortlos die Kurbel, und nach ein paar Umdrehungen begann der Motor stotternd zu arbeiten. Er richtete sich auf, schaute die Leute spöttisch an und blickte auf die Uhr.
„Ich muss morgen früh bei Bachmann auch noch was reparieren, bei wem kann ich übernachten“ fragte er in die Runde.
„Natürlich bei uns“ antwortete der Großvater „du bist unser Gast, Platz haben wir genug. Peter, bring seine Sachen in die Bodenkammer. Ich hole dir ein Bier, es ist heiß heute.“
Das Gepäck des Mannes war leicht, eine kleine Tasche fasste die Dinge die er brauchte um ein, zwei Tage auf dem Dorf zu leben. Peter Becker schleppte sie in die Bodenkammer, dieser Raum war einfach eingerichtet, nur ein Bett, ein Schrank, ein kleiner Tisch und eine Waschschüssel waren vorhanden, genug, um die Nacht dort zu verbringen. Als er wieder auf den Hof trat saßen sein Großvater und der Mechaniker auf der Bank und unterhielten sich, beide tranken langsam aus schlanken Bierflaschen.
„Ein guter kühler Schluck“ ließ sich der Mann vernehmen.
Der Großvater nickte.
„Das Bier kommt aus der Brauerei in Baselow. Mein Bruder lebt in diesem Ort, manchmal kommt er mit seinem Pferdewagen zu uns und hat immer zwei, drei Kästen Bier mit. Im Gegenzug bekommt er von uns eingemachte Wurst und Gemüse. Was du heute Abend unbedingt probieren musst sind die sauer eingelegten Pilze. Die Kinder gehen im Herbst gern in die Wälder um Pilze zu suchen, man braucht nur wenig Zeit um die Körbe zu füllen. Gott hat uns mit unserer Heimat ein gutes Geschenk gemacht, unsere Äcker sind ergiebig und die Seen voller Fische, was wollen wir noch mehr? Wir haben unser Auskommen, Hunger müssen wir nie leiden, schau dir unser Haus an, mein Großvater hat es gebaut und mit den Jahren ist es größer und schöner geworden. Es ist ein Glück, auf diesem Land zu leben.“
Der Mechaniker sah ihn nachdenklich an.
„Du hast Recht, es ist schön bei euch hier. Aber für mich wäre es wohl auf die Dauer nicht interessant genug. Glaub mir, in der Stadt findest du viele Dinge die Spaß machen. Die Kinos, die Restaurants, die Bäder, Museen, der brausende Verkehr, die vielen Geschäfte. Dort ist nie Ruhe, selbst am Abend, wenn ihr in eurem Haus sitzt, sind dort Leute unterwegs die sich vergnügen wollen.“
„Das mag sein“ erwiderte der Großvater „jeder stellt sich sein Leben anders vor. Ich bin hier geboren, habe hier meine Frau gefunden, meine Kinder sind hier zur Welt gekommen, seit mehr als sechzig Jahren ist das meine Heimat. Denkst du, ich vermisse irgendetwas? Kannst du mehr als Essen, Arbeiten und Schlafen? Gut, du kannst deine freie Zeit anders verbringen, gehst du eben ins Kino oder ins Schwimmbad. Es käme mir doch aber gar nicht in den Sinn in ein Restaurant zu gehen, wir haben doch alles selbst, schau‘ in unsere Speisekammer, da herrscht kein Mangel. Die Menschen in der Stadt sind ruhelos, können nicht den Augenblick genießen, sind immer auf der Suche nach Neuem. Das brauche ich nicht.“
„Natürlich ist das Leben in der Stadt anders als bei euch“ sagte der Mechaniker „aber bedenke, wenn es so beschaulich wäre wie bei euch gäbe es nur wenig Fortschritt. Sieh dir die Maschinen an, sie erleichtern euch doch schon die Arbeit. Und in einigen Jahren werdet ihr motorisierte Schlepper haben, die statt der Pferde den Pflug ziehen. Transporte werden