Lebenswege - Eine ostpreußische Familiengeschichte. Frank Hille

Читать онлайн книгу.

Lebenswege - Eine ostpreußische Familiengeschichte - Frank Hille


Скачать книгу
nicht richtig glücklich wurde, obwohl er sich eine Wohnung leisten konnte, in der es fließendes Wasser und Gas zum Kochen gab.

      Auch am nächsten Abend hatte Peter keine Entscheidung getroffen, es überließ es lieber dem Vater seinen Weg zu bestimmen.

      „Gut, wenn du nicht weißt was du willst werden wir es so machen, dass du eine Woche bei meinem Bruder wohnen wirst um zu sehen wie das Leben in der Stadt ist. Ich schreibe ihm heute noch einen Brief und bitte ihn, dich für eine kurze Zeit aufzunehmen, er wird es nicht abschlagen, schließlich sind seine Kinder in den Ferien hier auch bei uns auf dem Hof. Schau‘ es dir an, dann musst du selbst entscheiden.“

      Peter Becker war erleichtert, schließlich konnte der Bruder des Vaters doch noch absagen, und selbst wenn er in die Stadt fahren würde, war die Aussicht auf schnelle Rückkehr auf den Hof tröstlich.

      Insgeheim hatte er Angst vor der Stadt.

      Die Luft in dem kleinen Zimmer war stickig. Jetzt im Juli glühte die baumlose Straße und strahlte die Hitze auf die Häuser ab. Obwohl das Fenster die Nacht über geöffnet geblieben war haftete an dem Bettzeug ein muffiger Geruch. Die beiden anderen Kinder schliefen noch zusammen in einem Bett, Peter Becker war ein Sofa zugeteilt worden, auf dem er sich recht und schlecht eingerichtet hatte, kein Vergleich mit seinem Bett auf dem Hof, das länger und breiter war. Seit zwei Stunden war er munter, gegen fünf Uhr war die erste Straßenbahn quietschend um die Straßenecke gerumpelt und auch das Nageln der Dieselmotoren der Laster hatte ihn gestört. Obwohl er zu Hause noch zeitiger aufstehen musste fühlte er sich müde und zerschlagen. Alle waren gestern schon zeitig ins Bett gegangen, denn der Bruder seines Vaters hatte einen langen Weg bis zu der Fabrik vor sich und Karla, seine Frau, fing sechs Uhr als Verkäuferin in einem Bäckerladen an. Es war klar, dass die Kinder sich bis zu ihrer Rückkehr allein beschäftigen mussten. Als er gestern mit seinem kleinen Reisekoffer in der Hand angekommen war wurde er freundlich aufgenommen, sein Onkel sagte so etwas wie „bist ja groß geworden, schau‘ dich um“, seine Tante nahm ihn in den Arm. Karl und Anton, die jünger als er waren, blickten ihn neugierig an. Zum Abendbrot gab es Brot, Wurst und Tee, die Rationen wurden von der Mutter genau zugeteilt und Peter war erstaunt, wie schmal sie ausfielen. Als sie gegessen hatten zog sich sein Onkel um und erschien in einer Uniform, an einer Armbinde prangte auf rotem Tuch ein schwarzes Kreuz. Er küsste seine Frau, fuhr seinen Jungs mit der Hand über das Haar und verließ die Wohnung. Später, als Peter mit den beiden anderen im Zimmer war, ihre Mutter nähte in der Stube, fragte er sie nach der Uniform.

      „Die kennst du nicht“ fragte Karl verwundert „der Papa ist in der Partei“ sagte er stolz.

      „Was ist denn die Partei“ wollte Peter wissen.

      „Na eine Truppe, die den Führer helfen den Krieg zu gewinnen, davon musst du doch auch auf deinem Dorf schon mal gehört haben“ antwortete Anton.

      Peter erinnerte sich. Vor zwei Jahren war in den Abendstunden ein Lastkraftwagen in das Dorf gerollt auf dem einige Männer in diesen Uniformen standen, an den Seitenwänden des Fahrzeugs hingen Transparente, die einen Mann mit einem eigenartigen Bart zeigten. Das Auto hielt vor dem Wirtshaus und die Bauern kamen aus der Gaststube um zu sehen was los war. Sein Vater hatte später davon erzählt.

      „Heute waren Leute aus der Stadt im Dorf, sie wollten Mitglieder für Hitlers Partei werben, allerdings hat sich niemand dazu bereit erklärt. Die sollen uns mit ihrem Quatsch in Ruhe lassen. Der Hitler will Deutschland angeblich wieder zu einer Weltmacht führen und er sagt, dass wir zu wenig Lebensraum haben, und uns den im Osten holen müssten, die Leute dort wären im Vergleich zu uns rückständig und wir müssten denen erst beibringen wie man ordentlich arbeitet und lebt.“

      Peter verstand das nicht, die Felder und Seen gaben für alle genug her und ihre Lieferungen in die Getreidemühlen, die Schlachthöfe und die Händler in der Stadt hatten ihnen allen einen bescheidenen Wohlstand beschert. Die Häuser und Höfe waren gepflegt und die ersten Bauern kauften sich Maschinen und Motorräder. Manches Jahr hatten sie Mühe, die üppig ausgefallenen Ernten einzubringen, und die Scheunen füllten sich mit den Waren, die Viehbestände wuchsen immer mehr an und auch die Seen schienen eine unerschöpfliche Quelle für die Fischer zu sein. Er konnte nicht erkennen, dass es ihnen an wesentlichen Dingen des Lebens mangelte. Im Jahr seiner Geburt, 1930, war das Dorf auch die Stromversorgung angeschlossen worden und die Zeit der Öllampen damit vorbei, für ihn war es schon nicht mehr vorstellbar im müden Schein dieser Funzeln in einem Buch zu lesen. Sein Vater hatte versucht, es ihm noch besser zu erklären, was die anderen Männer gemeint hatten.

      „Deutschland hat 1918 einen großen Krieg verloren, einige Gebiete sind an andere Länder gefallen und wir haben damit Land verloren. Frage nicht, ob das gerecht oder ungerecht war, wir haben diesen Krieg begonnen und dafür bezahlt. Uns auf dem Land hat die Zeit nach dem Krieg nicht so hart getroffen wie die Leute in den Städten, wir hatten immer genug zu essen. Denen ging es richtig schlecht und viele standen ohne Arbeit da und das Geld war auf einmal nichts mehr wert. Langsam wurde es wieder besser, aber viele waren unzufrieden und wollten wieder ein mächtiges Deutschland, das will der Hitler auch. Ich bin froh, hier zu leben, und meine Arbeit zu haben. Ich brauche kein neues Land im Osten, und deshalb will ich mit den Leuten nichts zu tun haben, die anderen auch nicht.“

      Peter Becker sah die beiden Jungen an, denen der Stolz auf den Vater aus den Augen leuchtete, sie konnten mit ihren fünf und sieben Jahren noch nicht wissen worum es ging. Die nächsten drei Tage würde er mit ihnen verbringen, und nachdem sie etwas Brot und Marmelade gegessen hatten, gingen sie aus dem Haus. Peter fühlte sich zwischen den Häusern, die die laute Straße einrahmten, unwohl und das Fehlen jeglichen Grüns machte ihm deutlich, dass er die heimatliche Weite und Freiheit vermisste. Die Jungen führten ihn durch die Straßen und drückten sich an den Fensterscheiben der Geschäfte die Nasen platt, ein Wohnungsblock reihte sich an den anderen und nach kurzer Zeit hatte er keine Vorstellung mehr wo er sich befand. Erst der Anblick eines Flusses, der die Stadt in zwei Hälften teilte, weckte die Hoffnung, dort ein Stück Natur wiederzufinden. Seine Enttäuschung war groß als er sah, dass die Menschen das Wasser zu beiden Seiten in Mauern gezwängt hatten, um darauf Fußwege anzulegen. Von der ursprünglichen Kraft des Stromes war nicht viel übrig geblieben, er kam ihm vor wie in Ketten gelegt und im Gegensatz zu dem klaren Wasser ihrer Seen malmte hier ein dreckiges Gebräu flussabwärts, das zudem noch faulig roch. Als er sich weiter umsah erkannte er, dass aus Rohren, die zu Fabriken am Fluss führten, flockendes Wasser schäumte und sich mit der braunen Brühe vermischte, Abwasser aus Produktion jeglicher Art. Die beiden Jungen führten ihn zu einer Stelle an der sie ein Stück zum Fluss hinabsteigen konnten. Direkt neben einem Kanal aus dem stinkendes Wasser kam nahmen sie Steine und warfen sie in den Fluss. Scheißbrocken trieben vorbei und Peter wusste, dass sie sich neben einem Zulauf aus der Kanalisation befanden. Von seinem Vater hatte er früh gelernt, dass ein Landwirt oder Fischer die Natur nutzen, aber auch bewahren musste, um auf Jahrzehnte hin von ihr zu leben. Hier sah er nur Zerstörung und er ahnte, dass die kräftig pulsierende Stadt die wenigen Stellen, die der Mensch noch nicht mit Häusern oder Fabriken gepflastert hatte, in absehbarer Zeit auch unter sich begraben würde. Sie streiften noch ein wenig durch die Häuserschluchten und sein Unbehagen nahm zu, selbst im Haus gab es keine Ruhe, zwei Frauen schrien sich im Treppenhaus an, aus der kleinen Werkstatt im Innenhof hörte er das Rasseln von Maschinen. Zum Abendbrot fragte ihn der Bruder seines Vaters nach seinen Eindrücken.

      „Ach, alles ist schneller, lauter und schmutziger als bei uns, so richtig gefällt es mir nicht“ war seine Antwort.

      Der Mann lachte.

      „Das ging mir zum Anfang genauso, aber man gewöhnt sich daran. Schau mal, am Sonntag fahren wir mit der Straßenbahn ins Bad, essen Eis und spielen Federball. Und an diesem Tag müssen wir nicht arbeiten, du gehst doch aber früh in den Stall, oder?“

      Peter Becker nickte, das tat er, aber dieser eine Tag hatte ihm klar gemacht, dass die Stadt nicht sein Platz werden würde. Wohl oder übel würde er die kommenden Tage noch hier verbringen, was er seinem Vater sagen würde stand für ihn aber bereits fest.


Скачать книгу