Lebenswege - Eine ostpreußische Familiengeschichte. Frank Hille
Читать онлайн книгу.die anderen über ihn lustig, denn dessen viel zu kurzen Hosen wurden nur mit Hilfe von Hosenträgern am dürren Körper des Lehrers gehalten und der Rock den er trug, hatte auch schon bessere Tage gesehen, wovon auch die Flicken an den Ellbogen zeugten. Dazu kam, dass Backmann seit einer Kinderlähmung über seltsam verdrehte Knochen verfügte, die ihn für jegliche Arbeit in einer Wirtschaft untauglich machte, und er aufgrund dieser Erkrankung auch noch von geringem Wuchs war. Hätte man ihn auf ein Feld gestellt wäre der Eindruck nicht falsch gewesen eine Vogelscheuche zu sehen, zumal er auch die Angewohnheit hatte, beim Reden mit den Armen herumzufuchteln. Im Gegensatz zu seiner schmalen Gestalt bedeckte ein kräftiger und struppiger Vollbart sein Gesicht, nur die wachen Augen zeigten an, dass man es keineswegs mit einem Irren zu tun hatte. Um den Kontrast dieses Menschen komplett zu machen war ihm eine tiefe Bassstimme gegeben worden und es gab durchaus Momente, dass sein Brüllen durch das Schulgebäude dröhnte, wenn die Halbwüchsigen es wieder einmal zu toll trieben. Im Dorf wurde gemunkelt, dass seine Vorfahren aus Galizien stammen sollten, seinem Aussehen nach waren diese Gerüchte nicht abwegig.
Backmann galt somit als seltsamer Vogel aber genoss auch eine Art Anerkennung bei den Dörflern, denn er verzichtete darauf die Kinder körperlich zu züchtigen, und wenn ein Bauer einen Vertrag abschließen wollte oder sich darüber unklar war welche Preise er verlangen könnte war er derjenige, der die richtigen Erklärungen fand. Er schien genügsam zu sein, denn der einzige Luxus den er sich leistete war etwas Tabak, den er manchmal im Dorfladen kaufte. Das war auch die Währung für die Ratschläge die er gab, von seinem Verdienst als Lehrer konnte er die Wohnung bezahlen und Kleidung brauchte er augenscheinlich nicht, mit zwei Hosen, drei Jacken und einem schäbigen Mantel kam er durch alle Zeiten des Jahres.
Eine Frau, die ein wenig ein Auge auf ihn warf gab es nicht, er lebte schon immer allein und seine Eltern waren früh gestorben. So hielten sich auch hartnäckige Gerüchte, dass er in Wahrheit ein vermögender Mann sei, denn der Verkauf des Hofes hätte viel Geld einbringen müssen und manche wollten wissen, dass er bei der Bank in Stadt ein gut gefülltes Konto führte. Seltsamerweise gab es zwei feste Termine im Jahr in denen Backmann das Dorf für gut zehn Tage verließ, wohin er reiste wusste niemand, und das gab den Spekulationen zwangsläufig weiteren Auftrieb. In der Schankwirtschaft kam es zu diesen Zeiten immer zu erregten Diskussionen darüber wo sich Backmann aufhielt, und die Palette der Mutmaßungen reichte von einem Ferienhaus an der Ostsee bis hin zu einer heimlichen Geliebten, was bei seinem Aussehen zwar wenig wahrscheinlich war, aber man wusste ja nie, ob sein eventuell vorhandener Reichtum so etwas ermöglichte. Jedenfalls schossen die Verdächtigungen schneller ins Kraut als das Getreide wuchs und jedes Mal wurde der Tag mit Spannung erwartet, an dem er wieder in das Dorf zurückkehrte. Zu aller Enttäuschung traf kein neu eingekleideter Backmann ein, sondern der Mann kehrte genau in den abgerissenen Sachen zurück, in denen er das Dorf verlassen hatte, er brachte auch keine Frau von seiner Reise mit. Da er sich nur jeden Sonntag in der Gastwirtschaft auf ein Bier sehen ließ, ansonsten verließ er seine Wohnung nur um Tabak im Laden zu besorgen, und jeden Gesprächsversuch mit Schweigen quittierte, kam man der Lösung des Rätsels keinen Schritt näher. Die Neugier war so groß, dass die Eltern ihren Kindern auftrugen Backmann in der Schule genau unter die Lupe zu nehmen, etwa, ob er neue Sachen trug oder sich sonst irgendwie veränderte.
Mit dieser Melange an Gefühlen trat Peter zu seiner ersten Unterrichtsstunde an und er fand einen Lehrer vor, der entspannt in einem Buch las.
„Setzt dich an den Tisch, mein Junge“ begrüßte er ihn und legte das Buch beiseite.
„Ich nehme nicht jeden als Schüler, aber dein Großvater und ich sind alte Freunde und deine Eltern geben ihr sauer verdientes Geld damit du mehr lernen kannst als die anderen. Bei manchen deiner Freunde wäre es auch nicht sehr sinnvoll, die bleiben ihr Leben lang einfache Bauern, bei dir sieht es anders aus. Ich habe so viele Schüler gehabt dass ich erkennen kann, wo es sich lohnt. Merke dir, andere, nämlich deine Eltern, verzichten für dich, und das solltest du immer bedenken, wenn es dir vielleicht auch manchmal zu viel wird. Das wird kein Spaß werden und wenn ich feststelle, dass du nicht bei der Sache bist, beenden wir den Unterricht sofort.“
An diesem Tag brachte er Peter bei, wie man große Zahlen dividierte, und der Junge sah einen anderen Lehrer vor sich, als in der überfüllten Dorfschule. Backmann hatte die seltene Gabe, sich auf den Wissensstand seiner Schüler zu begeben, und genau auszuloten, wie deren Gedanken spielten. Mehrfach schickte er Peter in kleinere Denkfallen und zu seiner Freude stellte er fest, dass der Junge sich davon nicht beirren ließ, sondern diese mit seinem zweifellos analytischen Verstand umkurvte. Am Ende der Stunde dröhnte Peter der Schädel und Backmann drückte ihm mit einem Grinsen ein Stück Papier in die Hand: seine Hausaufgaben.
„Nun, das wird deine Abendbeschäftigung bis übermorgen sein, ohne Übung kein Meister“ sagte er zum Abschied.
Peter Becker trottete nach Hause. Auf ihn wartete noch das Ausmisten im Schweinestall, das Füttern der Kühe und nach dem Abendbrot musste er sich über die Aufgaben hermachen. Backmanns Worte saßen tief, vor allem war ihm klar, dass er seine Eltern nicht enttäuschen würde. Nach dem Essen ging er in seine Kammer, breitete das Blatt auf dem Tisch aus, und begann zu rechnen. Wie es Backmann geahnt hatte konnte er in einem Zahlensystem denken und die Lösung der Aufgaben war für ihn nicht sonderlich schwierig. Als er fertig war zog er sich aus, legte sich ins Bett, und war in drei Minuten eingeschlafen. Selbst im Schlaf hielt er Disziplin, denn ohne einen Wecker zu benötigen wurde er jeden Morgen gegen fünf Uhr munter.
Der Traktor, Ostpreußen, Ende der 1930iger Jahre
Sein Vater und der Großvater hatten ihren Sonntagsstaat angelegt und sahen ganz anders aus als die Männer die unter der Woche in alten Sachen auf dem Hof arbeiteten. Ihre Anzüge rochen leicht muffig, da sie sonst nur im Schrank hingen. Wenig getragen gaben sie ihnen aber ein ganz anderes Aussehen als das der anderen Bauern die sie neugierig ansahen, als sie mit dem Pferdewagen durch das Dorf fuhren. Es hatte sich natürlich herumgesprochen, dass sie einen Traktor kaufen wollten, eine kleine Sensation für das Dorf, sie würden der zweite Hof sein, der dann so eine Maschine besaß. Als das Dorf hinter ihnen lag sprach sein Vater mit dem Großvater.
„Meinst du, dass wir richtig handeln, Vater“ fragte er ihn etwas unsicher.
„Willst du jetzt noch einen Rückzieher machen, du bist doch sonst kein Hasenfuß“ blaffte ihn der Alte an.
Peter Becker war erstaunt, sonst war sein Vater der Entscheider und der Alt Bauer fügte sich dem was er bestimmte. Er wusste aber auch, dass sein Vater zwar kein furchtsamer Mensch war, aber kein Interesse daran hatte sich in Konflikte mit anderen zu begeben. Er verstand ihn schon, er selbst ging zum Unterricht bei Backmann, was eigentlich für einen Bauernjungen untypisch war, und dann wagte der Vater sich noch eine Maschine zu kaufen, die ihm die Arbeit im Vergleich zu den anderen deutlich erleichtern könnte. Kurzum: sein Vater hatte mächtige Bauchschmerzen vor dem möglichen Neid der anderen Bauern. Gut vorstellbar, dass die Männer in der Gastwirtschaft über ihn herziehen würden weil er etwas tat, wovor sie sich selbst scheuten. Peter wusste von seinen Freunden sehr genau, dass auch in deren Familien darüber diskutiert wurde ob man sich eine dieser Maschinen zulegen sollte. Am fehlenden Geld konnte es nicht liegen, die letzten Jahre hatten ihnen üppige Ernten beschert und auch die Preise waren gut gewesen. Im Vergleich zu den Fabrikarbeitern, die sich für einen schmalen Lohn in den immer mehr entstehenden Fabriken verdingen mussten, waren die Bauern wohlhabend. Generationen von Landwirten kannten es aber gar nicht anders, als mit ihren Händen und wenigen Geräten die Äcker zu bewirtschaften, und weit ab von den immer stärker und schneller wachsenden Industrien blieben sie mit ihrem geringen Bildungsstand lieber den herkömmlichen und ihnen vertrauten Arbeitstraditionen verhaftet. Allen Ernstes behaupteten einige von ihnen, dass die Maschinen ihre Felder so schädigen würden, dass der Boden bald unfruchtbar werden würde und die Geräte ohnehin fortlaufend reparaturbedürftig wären, somit wenig Nutzen hätten, und das Geld schlecht angelegt wäre. Was Peter nicht wusste war, dass sein Großvater den Vater schon lange dazu gedrängt hatte, sich einen Traktor zuzulegen.
1916 war der für ihn schon alte Mann in den Krieg gezogen und hatte in Frankreich einen Kettenschlepper gefahren der die Geschütze