Die gefiederte Schlange. Edgar Wallace

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Die gefiederte Schlange - Edgar Wallace


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Endlich stand sie auf und verschwand hinter einem Seidenvorhang, um sich anzuziehen. Man hörte ihre scharfe Stimme, mit der sie der Garderobiere die Meinung über irgendeine kleine Nachlässigkeit sagte. In der besten Laune war sie heute Abend wirklich nicht, aber Mr. Crewe ließ sich davon nicht im mindesten beunruhigen. Tatsächlich gab es nur wenige Dinge, die die stoische Ruhe dieses erfolgreichen Börsenspekulanten stören konnten. Und trotzdem war an diesem Morgen etwas vorgefallen, das ihn aus der Fassung gebracht hatte.

      Ella kam in einem tief ausgeschnittenen Abendkleid wieder zum Vorschein. Die Perlenschnur, die mit fünf Smaragden besetzte kostbare Spange und die Ringe, die sie trug, sahen aus, als hätten sie ein kleines Vermögen gekostet.

      »Ich habe alles wie ausgemacht erledigt«, begann Mr. Crewe liebenswürdig, als sich das Mädchen zurückgezogen hatte. »Bist du übrigens verrückt, dich mit diesem ganzen Schmuck zu behängen ...?«

      »Imitationen!« unterbrach sie ihn lässig. »Glaubst du vielleicht, daß ich mit einem Vermögen von zwanzigtausend Pfund herumlaufe, Billy? Und jetzt, was willst du von mir?«

      Sie hatte die letzten Worte sehr brüsk gesagt, aber er schien gar nicht zugehört zu haben.

      »Wer ist heute Abend das unschuldige Opfer?« erkundigte er sich lächelnd.

      »Ein junger Gentleman aus Mittelengland – sein Vater hat ungefähr zehn Millionen. Die Leute sind so reich, daß sie nicht wissen, was sie mit ihrem Geld anfangen sollen ... Übrigens muß mein Kavalier jeden Augenblick kommen – warum bist du eigentlich hier?«

      Mr. Leicester Crewe zog seine Brieftasche heraus und entnahm ihr ein Kärtchen; es hatte ungefähr die Größe einer kleinen Visitenkarte, ohne daß aber ein Name darauf stand. Dafür war in der Mitte eine merkwürdige Figur eingedruckt – das Bild einer gefiederten Schlange. Darunter standen die Worte:

       Damit Sie es nicht vergessen.

      »Was soll das sein? Ein Vexierbild? Blödsinn – eine Schlange mit Federn?«

      Mr. Crewe nickte.

      »Die erste Karte – sie sah genauso aus wie diese – wurde mir vor einer Woche mit der Post zugesandt; und diese hier fand ich heute morgen auf meinem Schreibtisch.«

      Sie starrte ihn erstaunt an.

      »Was soll das nur?« fragte sie neugierig. »Eine neuartige Werbung für irgendeinen Gebrauchsartikel?«

      Leicester Crewe schüttelte den Kopf und las noch einmal laut die merkwürdigen Worte: »›Damit Sie es nicht vergessen.‹ Ich habe das dunkle Gefühl, daß es eine Warnung ist ... Hast du dir vielleicht einen Spaß damit machen wollen?«

      »Ich? Ich bin doch nicht verrückt! Glaubst du, daß ich nichts Besseres zu tun habe, als Dummheiten auszuhecken? – Weshalb sollte es denn eine Warnung sein?«

      Mr. Crewe strich sich nachdenklich über die Stirn.

      »Ich weiß nicht recht ... Es gibt mir eben zu denken ...«

      Ella zuckte lachend die Schultern.

      »Und deshalb kommst du zu mir? Da kannst du gleich wieder gehen – vergiß nicht, daß ich eine Verabredung mit einem netten jungen Mann habe ...«

      Plötzlich hielt sie mitten im Satz inne. Sie hatte ihr kleines Abendtäschchen geöffnet, um ihr Taschentuch herauszunehmen. Er schaute auf und sah, daß sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. Als sie die Hand wieder aus der Tasche zog, hielt sie eine längliche Karte zwischen den Fingern – sie sah genauso aus wie die, die er ihr eben gezeigt hatte.

      »Was soll das bedeuten ...?« Sie warf ihm einen argwöhnischen Blick zu.

      Crewe nahm ihr die Karte aus der Hand. In der Mitte war ebenfalls das Bild einer gefiederten Schlange und die gleiche Inschrift.

      »Vor der Vorstellung war die Karte noch nicht in der Tasche«, sagte sie ärgerlich und drückte auf einen Klingelknopf. Die Garderobiere kam herein.

      »Haben Sie das Ding hier in meine Tasche gesteckt? Los, antworten Sie – wenn Sie sich diesen Spaß mit mir erlaubt haben, fliegen Sie noch heute Abend hinaus!«

      Das Mädchen beteuerte erschrocken, von. nichts zu wissen, und lief schließlich heulend davon.

      »Leider kann ich sie nicht auf die Straße setzen, gute Leute sind heute schwer zu bekommen«, meinte Ella. »Außerdem wird das Ganze doch nur irgendein Unsinn sein. Vermutlich Reklame für eine neue Zahnpasta – nächste Woche klebt das gleiche Bild an allen Plakatsäulen Londons. Billy, entschuldige mich jetzt bitte – mein Freund wartet.« Mit einem flüchtigen Kopfnicken verabschiedete sie sich.

      Das Café de Reims, eines der teuersten Nachtlokale Londons, war neben anderen Attraktionen auch wegen seiner vorzüglichen Küche bekannt; Miss Creed speiste dort mit ihrem Begleiter zu Abend. Der langweilige junge Mann, der sie eingeladen hatte, zeichnete sich lediglich dadurch aus, daß er der Inhaber einer großen Wollfirma war. Trotzdem wurde es zwei Uhr morgens, bis sie aufbrachen. Der junge Herr hätte Ella Creed sehr gern nach Hause begleitet, aber sie lehnte in einer plötzlichen Anwandlung von Schicklichkeitsgefühl ab.

      Ein Taxi brachte sie zu ihrem hübschen kleinen Haus in St. John's Wood, 904 Acacia Road. Das Grundstück lag hinter einer hohen Mauer; eine Zufahrt führte durch ein schmiedeeisernes Tor bis zu einem mit Fliesen belegten, glasüberdachten Gang, auf dem man zur eigentlichen Haustür kam.

      Nachdem sie den Taxichauffeur bezahlt hatte, klinkte sie das äußere Tor auf und schloß dann von innen zu. Ein Blick zu ihrem erleuchteten Zimmer sagte ihr, daß ihr Mädchen auf sie wartete. Sie ging die Zufahrt entlang ...

      »Wenn Sie schreien, drehe ich Ihnen den Hals um!«

      Diese Worte wurden ihr direkt ins Ohr gezischt, und sie blieb starr vor Schrecken und Furcht stehen. Aus den dunklen Sträuchern, die die Zufahrt an dieser Stelle einsäumten, tauchte eine breitschultrige, drohende Gestalt auf. Das Gesicht konnte sie nicht erkennen, da es von einem schwarzen Taschentuch halb bedeckt war; weiter hinten sah sie zu ihrem Entsetzen eine zweite Gestalt. Ihre Knie wankten, und sie taumelte einen Schritt zurück.

      Endlich holte sie keuchend Luft und öffnete den Mund, um zu schreien – aber eine große, schwere Hand legte sich sofort über ihr Gesicht.

      »Hören Sie! Ich bringe Sie um, wenn Sie nur einen Laut von sich geben!«

      Dann wurde es Ella Creed glücklicherweise schwarz vor den Augen, und sie, die schon oft eine Ohnmacht vorgetäuscht hatte, verlor zum erstenmal in ihrem Leben wirklich das Bewusstsein.

      Als sie wieder zu sich kam, fand sie sich in halbsitzender Stellung gegen die Haustür gelehnt. Die beiden dunklen Gestalten waren verschwunden – und ebenso ihre Perlen und ihre Smaragdspange. Es wäre nichts weiter als ein gewöhnlicher Raubüberfall gewesen, wenn sie nicht an einer Schnur um ihren Hals eine Karte gefunden hätte, auf der das Bild einer gefiederten Schlange war.

      2

      Glücklicherweise trug Miss Creed nicht ihre Juwelen, sondern täuschende Imitationen, so daß den Verbrechern keine Kostbarkeiten in die Hände fielen. Die Polizei ist im Besitz einer Karte mit der rohen Zeichnung einer gefiederten Schlange. Stündlich erwartet man eine weitere interessante Entwicklung des Falles.‹ – Das ist also die Geschichte«, fügte der Nachrichtenredakteur des »Kurier« seiner Vorlesung mit einer Selbstzufriedenheit hinzu, die Leute seines Schlages immer dann anwenden, wenn sie ihre Untergebenen fortschicken, um unlösbare Aufgaben zu lösen. »Die gefiederte Schlange gibt dem Fall eine besondere Nuance – ich verspreche mir eine Sensation ...«

      »Dann engagieren Sie doch gleich auch einen Sensationsschriftsteller für die Berichterstattung!« erklärte Peter Dewin grimmig.

      Peter Dewin war ein großer, etwas nachlässig gekleideter junger Mann mit ziemlich saloppem Auftreten. Wenn er sich sauber rasierte und einen Frack anzog, was bei gewissen beruflichen Anlässen beim besten Willen nicht zu umgehen war, sah er geradezu flott und elegant aus. Was er allerdings durchaus


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