der andere Revolutionaer. L. Theodor Donat

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der andere Revolutionaer - L. Theodor Donat


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Kalebasse. Kleine flaschenförmige Kalebassen werden zur Aufbewahrung von Medikamenten u.Ä. benutzt. Besonders grosse Kalebassen werden, mit einer Tierhaut überzogen, für verschiedene Musikinstrumente verwendet, z.B. für eine Art Langhalslaute.

      Wenn man so mit anderen um einen grossen Krug sitzt, erfährt man Wichtiges, Philosophisches und Humorvolles. Obwohl ich erst nach vielen Jahren begann, Schlüsselinstitutionen oder -begriffe zu ordnen, fühlte ich mich von Anfang an in meiner neuen Welt aufgenommen, und ich konnte neue Situationen immer besser verstehen. Natürlich stellte es sich manchmal heraus, dass mein Verständnis ein nur vorläufiges war. Meine Integration blieb immer ein Prozess.

      Die Elemente zum Verständnis meiner Gastkultur lieferte mir eine Vielzahl von Einflüssen, Hunderte von Besuchen, vor allem in drei kleinen Dörfern. Oder Hunderte Momente des Lachens mit einem Freund oder mit einem der Ältesten. Das Lernen und Praktizieren traditioneller Tänze, die Teilnahme an Initiationsriten, Festen und „Funérailles“ etc., all das waren gewissermassen Mosaiksteine, mit denen in vielen Jahren ein Bild entstehen konnte.

      Funérailles, notabene, ist ein wichtiges, mit einem Fest verbundenen Totengedächtnis, das etwa ein Jahr nach dem Tod eines älteren Menschen stattfindet.

      Ein Schüler erzählte nach einem Aufenthalt im traditionellen afrikanischen Milieu folgende Geschichte: Der Grossvater hält sich mit zwei kleinen Kindern im Eingangshaus auf. Er sagt zum Kleineren, er möge den Grösseren fesseln. Es ist natürlich der Grössere, der den Kleineren bändigt. Der Kleinere gibt sich alle Mühe, gegen den Grösseren anzukommen, aber schliesslich liegt er ohnmächtig auf dem Rücken. Der Grossvater sagt lächelnd zum Kleinen: „Ich habe dir doch gesagt, du sollst deinen grossen Bruder fesseln, ihn nicht einfach niederdrücken“. Das Lächeln des Grossvaters federt den Zorn des Kleinen ab und die Komik zwischen der Bemerkung und dem Sachverhalt tut das ihre. Der Kleine hatte so ganz beiläufig und auf eine interessante Weise gelernt, dass man sich im Leben nicht mit Stärkeren anlegen soll.

      Mit einem traditionelles Milieu meine ich Dörfer, in denen eine überwiegende Mehrheit der Männer und Frauen nicht ausserhalb des Dorfes arbeitet und es entweder keine oder nur eine sehr bescheidene Schule gibt, Dörfer in denen Entscheidungen nicht von einem Häuptling allein, sondern von der Gemeinschaft getragen werden. Dörfer, die so abgelegen sind, dass sie kaum mit einem Taxi erreichbar sind und in denen es wenig oder gar keinen Abfall gibt. Taxi nennt man einfach irgendein Auto, das in unregelmässigen Abständen die Verbindung zwischen den Dörfern und Städten aufrechterhält. Der Fahrer fährt gewöhnlich den Gewinn für den Besitzer ein. Das Gefährt ist oft ein in Europa aus dem Verkehr genommenes Auto, das meist zu übertriebenen Preisen an den Küsten Afrikas verkauft wird. Unregelmässig sind die Verbindungen, weil ein Taxi prinzipiell nur abfährt, wenn es mit Personen und Waren überfüllt ist.

      Einerseits begriff ich das vollkommen Neue meiner Gastkultur einfach durch das tägliche Mitleben und Miteinander. Für Anderes musste ich Durst ertragen, unter der brennenden Sonne marschieren, mitleiden; ich musste zuhören und Geduld haben. Wie Du weisst, war es für mich das Wichtigste, Dich als Freundin zu haben. So konnte ich mich ganz einfach im traditionellen Milieu hinsetzen, zuschauen. Aber es braucht Zeit, eine Freundin zu finden, die eben offener ist für die Dinge des Lebens.

      Ein Wort noch zum Begriff der Kultur: Entweder kann man sie von der Gesamtheit gelernter und weitergegebener Verhaltensweisen her definieren oder nach den Gründen fragen, die zu den betreffenden Verhaltensweisen führen. Diese Gründe liegen in der Wahrnehmung, der Sprache und vor allem in den täglich umgesetzten Werten. Ich ziehe diese zweite Art von Definitionen vor, scheint mir doch der Grund einer Handlung wichtiger zu sein als die Handlung selbst.

      Es scheint mir unsinnig, von Hochkulturen zu sprechen, auch wenn ich diesen Ausdruck noch an der Universität gehört habe. Natürlich können Gebäude, die Tausende von Jahren überdauert haben, bewundert und fotografiert werden. Unter welchen Bedingungen aber wurden sie gebaut? Wie viel Sklaven-Elend ist damit verbunden? Eine Kultur, die Konstruktionen grosser Gebäude von ihrem Wert der Gleichheit her verbietet (s.u.), scheint nicht konkurrieren zu können.

      Die griechische Götterwelt, bei der es sich doch um die Religion einer sogenannten Hochkultur handelt, ist von Mord, Totschlag, Ehebruch und Neid gekennzeichnet. Der Gott meiner Gastkultur ist über solch anthropomorphes Verhalten erhaben.

      Für Werte einer egalitären Konsens-Kultur wie der subtilen Konfliktlösung, der Weisheit des Palavers, des Reichtums des Brauchtums um die Gastfreundschaft u.v.a.m. gibt es kaum Illustrationen, die Jahrhunderte überdauern. Ein hierarchisches Ordnen von Kulturen, wie es unterschwellig im Begriff „Hochkultur“ mitschwingt, verlangt nach einer Werte-Tabelle, die aber notwendigerweise aus einer bestimmten Kultur stammt.

      ---- Bibel und afrikanische Mentalität

      Es war entscheidend für mich, dass ich schon im ersten Jahr an einer Studienwoche über „Bibel und afrikanische Mentalität“ teilnehmen konnte. Ein sehr einfacher und sehr belesener Priester machte uns klar, dass die mich umgebenden Kulturen und Menschen gar nicht so fremd waren, wenn man sie von der Bibel her betrachtet. Diese Woche war für mich wie der Schlüssel zu meiner neuen Welt. Ich begriff, dass die Mentalität in meiner Heimat nicht einfach die bestmögliche ist. Ich erhielt eine Menge Tipps, wie man sich einer Kultur nähern kann.

      1972 bat man mich, einen Vortrag über unsere Arbeit in „Afrika“ zu halten. Ich bereitete einen andern Vortrag vor: „Was mir der Aufenthalt in unserem Gastland bisher geschenkt hat“. Leider wird sehr oft von Afrika gesprochen, als ob es sich um eine bedürftige Region und nicht um einen Kontinent handle, dessen Vielfalt seinesgleichen sucht. Selbstverständlich war der damalige Vortrag höchst ungenügend, aber es war ein erster Schritt in eine vernünftigere Richtung.

      Ich glaube, dass die Zeit, in der ich mich in eine neue Welt einlebte, vermutlich gerade noch ermöglichte, die Konturen der Tradition meiner Gastkultur zu sehen. Mit Tradition möchte ich den Versuch einer Extrapolation auf die Kultur bezeichnen, wie sie vor der Kolonisation bestanden hatte. Ich denke also an die Zeit um die Jahrhundertwende zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert. Es ist möglich, über diese Zeit etwas Gültiges zu sagen. Ich habe mit älteren Leuten sprechen können, die den Umschwung durch die Kolonisation noch erlebt hatten. Und gerade die mündliche Überlieferung ist für ein genaues Bewahren geeignet (B 2.1.). Erst die Einführung der Schule durch Kolonisation und Mission zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat diese Situation verändert. Durch die Schule wird die Existenz nicht mehr mit dem gesichert, was man gemeinsam durch ständiges Weitergeben aufrechterhält, sondern das Vertrauen verlegt sich auf das Geschriebene. Es wird möglich, „Wahrheiten“ aus dem Buch und nicht mehr aus dem Leben zu beziehen.

      Ich hatte das unwahrscheinliche Glück, auf zwei geografisch benachbarte egalitäre Konsens-Kulturen (s.u.) zu treffen. Ich wusste bis anhin nicht, dass es neben hierarchischen und demokratischen Strukturen noch etwas Anderes, Seltenes, gibt. Ich werde in der Folge noch mehrmals darauf zurückkommen, weil es für mich so wichtig war und es immer noch ist.

      Dieser etwas längere Brief ist natürlich kein ethnographischer Aufsatz. Er möchte von einem Geschenk berichten, dem grössten, das ich in meinem Leben je erhalten habe. Das Einleben in eine neue Kultur, die ganz anderen Erfahrungen und die neuen Erkenntnisse prägen fast selbsttätig das Innere eines Menschen. Natürlich braucht es auch ein „Sich-Einlassen“, ein „Sich-nähern-Wollen“. Das macht übrigens den Reichtum interkultureller Ehen aus.

      Wenn aber einer der Partner die Kultur des anderen nur oberflächlich kennt, das habe ich leider erlebt, dann werden solche Ehen früher oder später an Missverständnissen scheitern. Das Leben in meiner Gastkultur half mir zudem, Werte und Probleme gewissermassen „von unten her“, von der sogenannten Dritten Welt her, zu sehen. Und damit offener zu werden für die Wirklichkeit.

      Nochmals: Es geht hier bloss um wenige Details zur Tradition geht. Ich werde versuchen, das zu schildern, was mir in Bezug auf die heutige Zeit, in Bezug auf eine katholische Kirche, in Bezug auf die Problematik von Macht und Reichtum besonders erwähnenswert erscheint. Es geht um ein paar Pinselstriche zu einer Skizze, nicht um wissenschaftliche Vollständigkeit. Ich habe des Öfteren festgestellt, dass mein „fremder“


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