Der Teufel von Tidal Basin. Edgar Wallace
Читать онлайн книгу.für das Schicksal eines Dockarbeiters interessieren?
»Oh, mein Gott!« flüsterte sie und schwankte.
Dr. Marford stützte sie.
Sie begann zu weinen, und er sah hilflos auf sie nieder.
»Es war ein Unfall«, versuchte er sie zu trösten. »Der Mann stolperte, schlug mit dem Hinterkopf auf die scharfe Kante der Bordschwelle ...«
»Ich habe ihn so sehr gebeten, nicht in seine Nähe zu gehen«, rief sie verzweifelt. »Ich habe ihn so sehr gebeten! Als er mich anrief und sagte, daß er auf seiner Spur sei ..., daß er ihn hierher verfolgt habe ..., ich kam in einem Auto ..., ach, ich habe ihn doch beschworen, zurückzukommen!«
Sie sprach zusammenhanglos, und manches ihrer Worte wurde von Schluchzen erstickt. Er ging zu seinem Arzneischrank, goss etwas Medizin in ein Glas und fügte Wasser zu.
»Trinken Sie das, dann werden Sie ruhiger und können mir alles der Reihe nach erzählen«, sagte er freundlich, aber bestimmt.
In ihrem Zustand sagte sie ihm mehr, als sie jemals ihrem Beichtvater anvertraut hätte. Das Unglück, das über sie hereingebrochen war, machte sie vollkommen hemmungslos, Dr. Marford hörte ihr zu und betrachtete sie, während er mit der kleinen Medizinflasche spielte.
»Der Verstorbene war ein Dockarbeiter«, meinte er schließlich, »ein großer, schwerer Mann mit blonden Haaren. Über einen Meter achtzig groß. Und der andere war ein junger Bursche von etwa zwanzig Jahren. Ich sah ihn nur einen kurzen Augenblick, als er verhaftet wurde. Er hatte einen hellen, fast weißen Schnurrbart.«
Sie starrte ihn an.
»Heller Schnurrbart ... und sehr jung?«
Er hielt ihr wieder das Glas hin.
»Trinken Sie. Sie sind noch zu aufgeregt, Sie müssen sich beruhigen.«
Aber sie schob das Glas beiseite.
»Sehr jung? Wissen Sie das sicher? Waren es nur zwei gewöhnliche Leute?«
»Ja, zwei betrunkene Arbeiter. In dieser Gegend kommt das häufig vor. Wir haben jede Nacht durchschnittlich zwei schwere Schlägereien, am Sonnabend gewöhnlich sechs. Die Leute hier haben wenig Zerstreuung und müssen sich irgendwie austoben.«
Allmählich kam wieder Farbe in ihr Gesicht. Sie zögerte noch einen Augenblick, dann nahm sie das Glas und trank.
»Schmeckt scheußlich!« Sie verzog das Gesicht und wischte die Lippen mit dem Taschentuch ab. Dann erhob sie sich.
»Es tut mir leid, Doktor, daß ich Sie gestört habe. Aber Sie nehmen es mir sicher übel, wenn ich Ihnen die verlorene Zeit bezahle.«
»Ich rechne zehn Cents«, sagte er ernst.
Sie lächelte.
»Wie liebenswürdig Sie doch sind! Sie halten mich für eine Amerikanerin? Das bin ich auch, obwohl ich schon sehr lange in England lebe. Vielen Dank, Doktor. Vergessen Sie bitte, wenn ich sehr viel Unsinn geredet habe.«
Sein Gesicht war im Schatten, als er neben der Tischlampe stand.
»Das kann ich Ihnen nicht versprechen, aber ich will es jedenfalls nicht weitererzählen.«
Sie nannte ihren Namen nicht, und er fragte auch nicht danach. Er bot ihr an, sie hinauszubegleiten und ein Auto für sie zu besorgen, aber sie lehnte es ab. Kurze Zeit blieb er noch vor der Haustür stehen und schaute ihr nach, während der feine Regen ihm ins Gesicht sprühte.
Polizist Hartford kam gerade vorbei und redete ihn an.
»Eben habe ich gehört, daß Stephens tot ist. Nun ja, Leute, die trinken, müssen eben auch die Folgen tragen. Ich werde es niemals bereuen, daß ich Abstinenzler geworden bin. Ich habe eine junge Dame zu Ihnen geschickt, die mich nach Stephens fragte. Ich wußte noch nicht, daß er tot war, sonst hätte ich es ihr gleich gesagt.«
»Ich bin froh, daß Sie es ihr nicht gesagt haben.«
Er ging diesem ungewöhnlich gesprächigen Mann gern aus dem Weg, weil er niemals ein Ende finden konnte. Rasch schloß er die Tür und kehrte in sein Sprechzimmer zurück. Er zog die Vorhänge auf und schaute auf die verlassene Straße. Im Schatten der Umfassungsmauer, die das Grundstück der Eastern Trading Company umgab, bewegte sich jemand. Im Licht einer Laterne konnte er einen Mann und eine Frau erkennen, die miteinander sprachen. Es war auffallend, daß der Herr Gesellschaftskleidung trug. Nicht einmal die Kellner besaßen in Tidal Basin einen Frack.
Marford ging wieder hinaus und öffnete gerade die Haustür, als sich beide nach entgegengesetzten Richtungen entfernten. Kurz darauf bemerkte er einen zweiten Mann, der dem Herrn in Abendkleidung rasch folgte. Dieser hielt plötzlich an und drehte sich um. Sie gerieten in einen Wortwechsel und schlugen aufeinander ein. Schließlich stürzte der eine Mann wie ein Holzklotz zu Boden. Der andere beugte sich kurz über ihn, entfernte sich dann aber schnell und verschwand unter dem großen Bogen der nahen Eisenbahnunterführung.
Dr. Marford hatte alles aufmerksam beobachtet. Er wollte eben über die Straße gehen, um dem Gestürzten zu helfen, als dieser wieder aufstand und sich eine Zigarette anzündete.
Eine Uhr in der Nähe schlug zehn.
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