Das Gesicht im Dunkel. Edgar Wallace

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Das Gesicht im Dunkel - Edgar Wallace


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hinuntergegangen. Sie suchen dort nach der Leiche eines Mannes, der heute Abend in den Fluß geworfen wurde.«

      »Geworfen?« wiederholte Dick bestürzt. »Sie meinen wohl, er ist hineingesprungen?«

      »Nein. Eine Patrouille der Strompolizei ruderte an der Embankmentmauer entlang, als der Nebel noch nicht so dicht war wie jetzt, und dabei sahen die Leute, wie der Mann aufgehoben und übers Geländer geworfen wurde. Der Sergeant pfiff sofort, aber es war gerade keiner von uns in der Nähe, und so ist der Kerl, der es getan hat, entkommen. Sie suchen jetzt nach der Leiche. Ich sollte es Ihnen mitteilen, wenn Sie kämen, meinte der Inspektor.«

      Shannon zögerte keinen Augenblick und machte sich sofort wieder auf den Weg. Mühsam tastete er sich durch den Nebel, bis er mit dem Inspektor zusammenstieß.

      »Ein Mord«, sagte der Beamte. »Eben haben sie die Leiche gefunden. Der Mann ist totgeschlagen und dann ins Wasser geworfen worden. Wenn Sie die Stufen herunterkommen, können Sie ihn sehen.«

      »Wann ist es denn geschehen?«

      »Heute – oder vielmehr gestern Abend gegen neun. Jetzt haben wir gleich zwei.«

      Shannon ging hinunter und beugte sich über die dunkle Gestalt, die ein Polizist mit seiner Taschenlampe beleuchtete.

      »Er hat nichts bei sich«, meldete der Sergeant, »aber seine Persönlichkeit wird sich leicht feststellen lassen. Er hat eine große Narbe im Gesicht.«

      Als Dick mit dem Inspektor nach Scotland Yard zurückkam, herrschte dort fieberhafte Tätigkeit, denn während ihrer Abwesenheit war eine Nachricht eingelaufen, die auch den letzten Reservedetektiv aus dem Bett jagte.

      Das Auto der Königin war an der dunkelsten Stelle der Mall überfallen, der Detektiv erschossen und die Diamantkette geraubt worden.

      3

      Von den Hühnern hat jedes vier Schillinge gebracht«, berichtete die alte Mrs. Graffit und zählte das Geld auf den Tisch.

      Audrey Bedford rechnete rasch nach.

      »Mit den Möbeln macht das siebenunddreißig Pfund und zehn Schillinge. Reicht also gerade für den Hühnerfuttermann, Ihren Lohn und meine Reise.«

      »Eine Kleinigkeit könnten Sie doch noch für mich zulegen«, bat die Frau weinerlich. »Seit Ihre liebe Mutter starb, habe ich Sie betreut und alles für Sie besorgt –«

      »Seien Sie ruhig!« unterbrach sie das junge Mädchen. »Sie haben Ihr Schäfchen bei der Geschichte wirklich ins trockene gebracht. Hühnerzucht lohnt sich nicht und wird sich niemals lohnen, wenn der Generalstabschef einen heimlichen Eierhandel betreibt.«

      »Wohin wollen Sie denn?« fragte Mrs. Graffit, um das Gespräch auf ein weniger gefährliches Thema zu bringen.

      »Ich weiß es noch nicht. Vielleicht nach London.«

      »Eine fürchterliche Stadt! Nichts als Morde und Diebstähle –«

      »Weil Sie gerade von Diebstählen sprechen – was ist denn aus den letzten vier Hühnern geworden?« erkundigte sich Audrey freundlich.

      »Ach – habe ich Ihnen das Geld dafür nicht gegeben? Ich muß es tatsächlich verloren haben.«

      »Nun, dann brauchen wir ja nur den Gendarm zu holen, der versteht sich aufs Suchen.«

      Mrs. Graffit fand plötzlich das Geld sofort, legte es auf den Tisch und ging dann mürrisch hinaus.

      Audrey sah sich in dem Zimmer um. Sie hatte den Sessel verbrannt, in dem ihre Mutter immer mit düsteren Blicken in den schwarzen Kamin gestarrt hatte. Ihren Vater hatte sie nie gesehen. Er mußte wohl ein schlechter Mensch gewesen sein. Wenn Audrey als Kind fragte: »Ist er tot, Mutter?«, so antwortete Mrs. Bedford stets: »Hoffentlich!«

      Audreys Schwester Dora hatte niemals so unwillkommene Fragen gestellt; aber sie war auch älter und teilte die unbarmherzigen Anschauungen ihrer Mutter.

      Nein, dieses Haus barg keine freundlichen Erinnerungen für Audrey, und der Abschied fiel ihr nicht schwer.

      Sie war nicht betrübt und auch nicht besonders froh. Vor der Zukunft hatte sie keine Angst, denn sie hatte eine gute Erziehung genossen, viel gelesen, viel nachgedacht und sich an langen Winterabenden mit Stenographie beschäftigt.

      »Noch viel Zeit!« brummte der Omnibuskutscher, als er ihren Koffer in den dunklen, muffigen Wagen warf. »Wenn die blödsinnigen Autos nicht wären, würde ich erst später losfahren. Aber so muß man vorsichtig sein.«

      In diesem Augenblick erschien ein Fremder und zog den Hut vor Audrey.

      »Verzeihung, Miß Bedford. Mein Name ist Willitt. Könnte ich Sie heute Abend nach Ihrer Rückkehr einmal sprechen?«

      »Ich komme nicht mehr zurück.«

      »Nicht? Darf ich dann um Ihre Adresse bitten? Es handelt sich um eine sehr wichtige Angelegenheit.«

      »Eine Adresse kann ich Ihnen noch nicht geben. Aber wenn Sie mir die Ihre mitteilen, schreibe ich Ihnen.«

      Er kritzelte sie auf einen Zettel. Sie nahm ihn, stieg ein und schlug die Wagentür zu. Gleich darauf setzte sich der Omnibus in Bewegung.

      An der Ecke von Ledbury Lane ereignete sich ein Unfall. Dick Shannon nahm die Kurve zu knapp und schnitt das eine Omnibusrad glatt ab.

      Audrey stand bereits auf der schmutzigen Landstraße, als Dick auf sie zueilte. Auf seinem hübschen Gesicht lag ein reumütiger Ausdruck.

      »Es tut mir furchtbar leid! Sie sind doch nicht verletzt?«

      Er schätzte sie auf siebzehn Jahre, obwohl sie schon neunzehn zählte. Sie trug billige Konfektionskleidung, war aber sehr schön. Dick fürchtete sich fast davor, ihre Stimme zu hören, denn vermutlich wurden seine Illusionen über dieses schöne Mädchen dann zerstört.

      »Nein, ich bin nur etwas erschrocken. Aber nun werde ich meinen Zug nicht mehr erreichen.« Bekümmert schaute sie auf das abgefahrene Rad.

      Mit Entzücken hatte er ihrer klaren, reinen Stimme gelauscht. Er hatte sich nicht getäuscht – diese Bettelprinzessin war wirklich eine Dame!

      »Sie wollen zum Bahnhof von Barnham?« fragte er eifrig. »Ich komme durch den Ort – und ich muß dem armen Kutscher doch auch Hilfe schicken.«

      »Warum passen Sie nicht auf?« schimpfte der Mann wütend. »Haben Sie vielleicht die Landstraße gepachtet?«

      Dick knöpfte seinen Mantel auf und nahm eine Visitenkarte und eine Banknote aus seiner Brieftasche.

      »Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, sagte er und reichte ihm beides. »Ich schicke Ihnen sofort Leute aus Barnham.« Er wandte sich wieder an Audrey. »Wollen Sie sich mir anvertrauen?«

      Lächelnd stieg sie ein. Der Kutscher reichte den Koffer in den Wagen, und Dick nahm seinen Platz am Steuer ein.

      »Darf ich Sie nicht ganz nach London bringen?« fragte er, als sich das Auto in Bewegung setzte.

      »Danke, ich möchte lieber mit der Bahn fahren. Es ist möglich, daß mich meine Schwester abholt.«

      »Sie wohnen hier in der Gegend?«

      »Ich hatte eine Geflügelfarm in Fontwell. Aber von Hühnern kann man nicht leben, und ich habe das alte Haus verkauft – oder vielmehr, es hat sich alles in Hypotheken aufgelöst.«

      »Wie schön, daß Sie dann eine Schwester haben, die Sie erwartet«, erwiderte er in fast väterlichem Ton, denn sie erschien ihm so jung und schutzbedürftig.

      In Barnham stieg er mit ihr aus, brachte ihren kleinen Koffer auf den Bahnsteig und bestand darauf, die Ankunft des Zuges abzuwarten.

      »Ihre Schwester wohnt natürlich in London?«

      »Ja, in der Curzon Street.«

      »Ist sie – ich meine – ist


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