der verstellte Ursprung. L. Theodor Donat

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der verstellte Ursprung - L. Theodor Donat


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abgesondert von gleichaltrigen Kameraden. In meiner Kindheit erlebte ich meine Mutter als recht kränklich. Sie musste diverse Kur-Aufenthalte und Operationen über sich ergehen lassen. Aber sie ist fast 101 Jahre alt geworden.

      „Wer jung jammert kann alt meckern“, sagte Vater manchmal in seinem Dialekt.

      Ihre gesundheitlichen Schwierigkeiten erschienen mir während meiner Jugend als grosse Bedrohung, denn sie war für mich die hauptsächliche Person im Austausch von Zuneigung. Ich sah Mutter oft beten, ziemlich unbequem auf der Eckbank kniend und mit dem Gesicht zur Wand. Dies und die damals herrschende Auffassung: „Opfer bringen Spiritualität“ sowie der individualistische Katechismus prägten meine Einstellung, dass die Beziehung zu Gott etwas eher Schwieriges sei. Im Übrigen wurde in der Familie nie über Religion gesprochen, so klar war es, einfach alles mitzumachen, was in der Kirche verkündet wurde.

      Meine Beziehung zu meinem Vater wurde erst während meines zweiten Studiums vertieft und während der Urlaube in der Heimat. Er, Kind armer Leute, musste mit 15, obschon sehr intelligent, in einer Schuhfabrik arbeiten. Seine Mutter soll ihm beim Frühstück immer etwas Geschriebenes neben die Tasse gelegt haben und sei es eine bedruckte Nahrungsmitteltüte. Sie fand, dass sich der Horizont eines Menschen mit jedem Lesen erweitert. Weil er selbst nach der obligatorischen Schule in die Fabrik musste, nahm sich mein Vater vor, dass alle seine Kinder eine optimale Ausbildung erhalten sollten.

      Als ich geboren wurde, war er 42 Jahre alt, und ich war wahrscheinlich nicht mehr im Zentrum seines Interesses. Er wurde eher von seiner Sammlung von Mollusken-Schalen gefesselt, über die er, inzwischen Abteilungsleiter, mit Professoren im Ausland korrespondierte. Er arbeitete genau 50 Jahre in derselben Fabrik. Als er um die 60 war, wurde ein „preussischer“ Direktor eingestellt, um die Fabrik auf Vordermann zu bringen. Mein Vater war richtig gestresst. An einigen Wochenenden musste er Karteikarten nach Hause nehmen und arbeiten, anstatt die Natur, seinen Garten oder die Schnecken-Schalen geniessen zu können. Das machte mich damals sehr betroffen, es war das erste Mal, dass ich ein Unternehmen als Bedrohung empfand.

      Ich glaube, dass mein Vater alle Pflanzen auf unserem Gemeinde-Gebiet, mit deutschen und lateinischen Namen kannte. Noch mit achtzig Jahren wollte er darüber ein Buch schreiben, hatte aber nicht mehr die Kraft dazu. Während meiner Jugend war er involviert in der Schulkommission und im katholischen Arbeiterverein. In seiner Jugend gehörte er der Musikgesellschaft und dem Radlerverein an. Er war Aktuar der Kommission für eine Güterzusammenlegung. Ich machte viele Spaziergänge mit ihm, und er hat entscheidend mitgeholfen, dass ich die Natur lieben lernte. Aber eben, über persönliche Probleme oder Fragen sprach man damals nicht.

      — Geschwister

      Meinen ältesten Bruder – er ist zwölf Jahre älter als ich – lernte ich erst mit etwa acht Jahren kennen. Mit fünfzehn Jahren hatte er die Familie verlassen und war Ordensmann geworden, da war ich drei Jahre alt. Während meiner Kindheit hatte er nur alle fünf Jahre jeweils zehn Tage Urlaub in der Familie. Er spielte mit mir Monopoly und Schach. Ich freute mich auf seine Ferien, aber erst vor meiner Reifeprüfung wurden wir vertrauter. Damals machte ich mit ihm eine entscheidende Nachtwallfahrt – ich liebte das Marschieren in der Nacht mehr als die Wallfahrten – die mich zum definitiven Entschluss führte, in seine Ordensgemeinschaft einzutreten. Später habe ich ihm auf gemeinsamen Spaziergängen von meinen Freuden und Leiden in der Gemeinschaft erzählt und wir tauschten theologische Ansichten aus.

      Er war verschiedentlich Oberer in unserem Orden sehr aktiv bis er mit 82 Jahren in kurzer Zeit zum Pflegefall wurde und zwei Jahre später verstarb.

      Ich denke indessen nicht, dass er die wichtigsten Wandlungen in meinen Überzeugungen mitbekommen hat.

      Meine zehn Jahre ältere Schwester ist für mich die wichtigste Person unter meinen Geschwistern. Zum einen war sie, als ich in der vierten Klasse war, bereits Grundschullehrerin und hatte somit einen erzieherischen Blick mir gegenüber. Sie versorgte mich mit guten Büchern. Allerdings nahm sie so weniger wahr, dass ich mit der Zeit gleichfalls erwachsen wurde! Später bildete sie sich weiter und unterrichtete Deutsch an einer Mittelschule. Sie besuchte mich als einziges Mitglied der Familie während meiner Arbeit in meinem Gastland.

      Bei meinen Urlauben in der Heimat holte sie mich jeweils am Flughafen ab und begleitete mich am Ende der Ferien oft dorthin zurück.

      Bei unseren gemeinsamen Wanderungen konnte ich über meine echten Probleme sprechen, was sonst nur mit Dir möglich war. Sie blieb jedoch ein kritisches, aber treues Mitglied der Rkk. Unter den Geschwistern blieben wir damals beide mager, die anderen wurden beleibter. Sie unterstützte mich immer wieder in materiellen Belangen. Und ich spürte die Liebe, die sie mir schenkte, auch wenn diese Liebe über eine gewisse Zeit – bis ich dies artikulieren und sie es erfassen konnte – etwas besitzergreifend war. Die Liebe der Mutter war es auch, ohne dass sie sich dessen bewusst war. Mit ihr konnte ich jedoch kaum darüber sprechen. Mit 37 Jahren heiratete meine Schwester einen sehr netten – in den Augen der Eltern, oh Schreck, geschiedenen und reformierten – Mann französischer Muttersprache. So traf ich ganz persönlich auf die die Problematik der Zulassung Geschiedener zu den Sakramenten. Leider starb mein Schwager schon acht Jahre später.

      Mein sieben Jahre älterer Bruder war bereits Chemielaborant, als ich noch klein war. In den Kriegsspielen, die er als Knabe organisierte, spielte ich wegen meines Alters eine untergeordnete Rolle. Er wurde Chemiker und später Abteilungsleiter in einem Institut für Reaktorforschung. Er ist im Gegensatz zu mir sehr rasch im Antworten und kühl in seinen Entscheidungen. Mit seiner Frau habe ich immer noch Schwierigkeiten. Sie scheint mir viel zu sicher in ihren Überzeugungen und in ihrem Tun. Wahrscheinlich betrachtet sie mich nicht als einen sehr ernstzunehmenden Mann der Kirche. Als Präsident seiner Kirchgemeinde erwirkte mein Bruder eine Gabe, dank derer unser Kollegium den esten Fotokopierer kaufen konnte. Sonst schien ihn meine Arbeit in unserem Gastland nicht sehr zu interessieren. So ist die Beziehung mit ihm und seiner Frau nicht sehr eng.

      — Skrupel

      Als ich bei der Erstbeichte mit neun Jahren bekannte, ich hätte Unkeuschheit getrieben, sagte mir der Pfarrer ohne weitere Erklärung, dass dies nicht möglich sei. Überhaupt war die Erstbeichte eine von vielen, die mir als Skrupulant Angst einflösste.

      Damit war ich so etwas wie ein religiöser Perfektionist, weil ich mich bei Beichte und Kommunion immer fragte, ob ich das betreffende Sakrament eigentlich gültig empfangen habe.

      So wurde ich auf eine eher quälende Introspektion trainiert. Und es war am „sichersten“ vor der Kommunion zu beichten. Aber ja, die Beichte ebenfalls musste gültig empfangen werden! Sehr oft habe ich mich gefragt, ob ich alle „schweren“ Sünden gebeichtet und „wirkliche Reue“ erlangt hätte. Jetzt meine ich, dass ich zum Pharisäertum geradezu hingeführt wurde, da es doch vor der Kommunion darum ging, seinen „Stand der Gnade“, gewissermassen seine „Unschuld“ festzustellen! Viel, viel später begriff ich, dass die Kommunion keine Belohnung der Braven, sondern ein Zeichen der Freundschaft Jesu ist.

      Wegen dieser Skrupel und Zweifel waren Erstkommunion und Firmung keine wirklich friedlichen Erfahrungen. Mein Bruder Laborant war Firmpate, und mein Vater hatte das Geschenk, eine Uhr, gekauft. Ich warf mir vor, während der Feier mit dem Bischof zu sehr an die Uhr gedacht zu haben und fragte mich lange, ob meine Firmung „gültig“ sei. Ich wagte es nicht, einem Priester solche Fragen zu stellen, weil mir die Artikulation des Problems zu schwierig schien. So war ich mit meinen Ängsten allein, was ziemlich verheerend war.

      Meine erste Passion war das Lesen. Man machte sich lustig über mich, wenn ich am Tisch, in ein Buch vertieft, plötzlich in das Gespräch eingreifen wollte und nicht wusste, an welchem Punkt man angekommen war. Allerdings las ich meistens mit einem schlechten Gewissen, weil ich doch arbeitsam erzogen wurde und die Mutter nie untätig war. Wegen meiner Mutterbeziehung war ich eher schüchtern, ein gescheiter Aussenseiter in der Grundschule und auch in späteren Jahren noch.

      Bei den Ministranten fand ich mich erstmals in einer ausserschulischen Gruppe wieder. Der Oberministrant war damals noch ein Respekt einflössender junger Mann. Den Vikar fand ich sympathisch. Der Pfarrer hingegen, ehrlich und hart, wie


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