Schulpsychologie -. Jürgen Mietz

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Schulpsychologie - - Jürgen Mietz


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anders dar. Beratung und Beratungsverständnisse sind deutlich davon geprägt, dass sich die staatliche Schulbehörde auch gegenüber der Schulpsychologie und Beratung mit ihren Grundprinzipien der Beratung (immer beschworen, wenig verstanden und gesichert) als durchsteuernde Instanz sieht. Was als Leitlinie der Schulbehörde gilt, ist hier eng ausgelegt und lässt den Beratungsorganisationen wenig Raum für die Entwicklung einer Beratungskultur, die Glaubwürdigkeit und Substanz im Sinne eines entwickelten Beratungsverständnisses ausstrahlt.

      Die unterschiedlichen Verständnisse der in den Hamburger schulischen Beratungsorganisationen vertretenen Professionen über Beratung sind nach diversen Fusionen nicht zu einer kohärenten Beratungsidentität und -kultur weiterentwickelt worden. Die Schulverwaltungslogik dominiert die Beratungslogik. Die Grenzen zwischen (relativ) unabhängiger Beratung und Schule sind löchrig, den Beratungsabteilungen sind schulrechtliche und »eingreifende« Aufgaben zugewiesen. Der schulische Raum für die Reflexion heikler, verunsichernder Facetten des Lehr-Lernprozesses und der Rolleneinnahme im Sinne vertiefenden Wissens und Könnens ist damit eingeschränkt. Wo doch eine glaubwürdige Abgrenzung zwischen Beratung und Schule Vertrauen (und Nutzen) schaffen könnte, geht das Hamburger Konzept in eine andere Richtung. Die ehemaligen Beratungs- und Unterstützungsstellen, in denen die Schulpsychologie aufgegangen war, sind nun unter ein organisatorisches Dach mit den Förderschulen gebracht worden.

      In meinen jüngeren Aufsätzen setze ich mich mit den Folgen solcher Politik auseinander. Den Fokus meines Denkens bildete das Bemühen, erkennbar zu machen, dass Nachdenkräume für Subjektentwicklung bedroht sind und Humanität und Gestaltungspotenzial damit verloren gehen. Weniger konnte es darum gehen, konkrete Fragen der Subjekt- und Team-/Organisationsentwicklung zu bearbeiten. Gleichwohl wäre es vermutlich sinnvoll zu beschreiben, wie sich subjektbezogene Arbeit unter den Bedingungen von Rationalisierung und Hierarchisierung formt.

      Es kostet einige Mühe, angesichts einer Ruinierung von Fachlichkeit, die Fassung zu wahren und die Angriffe auf sie kenntlich zu machen. Was erstaunt, ist, mit welch – man möchte fast sagen – diktatorischer, politisch-bürokratischer Entschlossenheit und Hermetik gegenüber fachlichen Einwänden der staatliche Steuerungsanspruch umgesetzt wird. Dabei schleift er Standards bürgerlich-demokratischer Lebensführung und Selbstbestimmung, wie sie über Jahrzehnte entstanden sind: Selbstkenntnis und Kenntnis sozialer und psychologischer Zusammenhänge sollten Bürger und Bürgerin, wie auch Professionelle in die Lage versetzen, demokratisch und selbstbestimmt zu handeln. Professionell qualifizierte Beratung war gedacht als Mittel zur (Selbst-) Klärung und Stärkung der Verantwortungsfähigkeit. Damit war sie Teil eines Versuchs, Emanzipation und Partizipation zu stärken. Sie fachlich fundiert auch von staatlicher Seite als Öffentlichen Dienst für eigene Beschäftigte und Bürger bereitzuhalten, sagte etwas über das Selbstverständnis staatlich-öffentlicher Einrichtungen aus. Der betriebswirtschaftlich agierende Staat ist offensichtlich entschlossen, sich von diesem Verständnis zu verabschieden und »Verstehen« als Voraussetzung zivilisierten Umgangs zu delegitimieren. Ob er das absichtsvoll oder getrieben von »höheren« Mächten tut, ist offen. Von Bedeutung wird sein, ob die Beschäftigten und Bürger auf die Verkehrung der emanzipatorischen Kraft von Beratung reagieren und wissen, welchen Schatz sie zu hüten haben.

      Vorbemerkung

      Der folgende Artikel ist der Versuch, die Erfahrungen aus meiner Weiterbildung und meiner Praxis im Arbeitsfeld Schule zusammenzubringen. Vielleicht wirkt das, was ich 1995 zu Papier brachte und schon einige Jahre praktischen Vorlauf gehabt hatte, in der Schreibweise angestrengt und künstlich. Das rührt wahrscheinlich nicht zuletzt daher, dass ich das »ganze Universum« zwischen Gesellschaftlichkeit und individueller Subjektivität erfassen wollte. Nun gut. Später entspannte ich mich wohl ein wenig, mit Hilfe von einigen Kolleginnen und Kollegen, mit Hilfe der Resonanz, die ich für meine Arbeitsansätze erfuhr. Der Ansatz war eine wichtige Plattform, von der aus ich meine Arbeit weiterentwickeln konnte.

       Die Rolle der Persönlichkeit in Unterricht, Erziehung und Schulentwicklung

      1995

      Ist es überhaupt notwendig, Fragen der Persönlichkeit und des Individuums in der Schule zum Thema zu machen? Gesetze, Richtlinien, Lehrpläne, Curricula geben der Schule vor, Persönlichkeit zu bilden, auf das Leben vorzubereiten, Menschen- und Naturrechte zu achten, Demokratie und Frieden zu entwickeln. Die Zusammenhänge zwischen Demokratie, Bürgersinn, Persönlichkeit und Aufgaben der Schule scheinen zufriedenstellend hergestellt. Andererseits wird der Schule immer wieder Bürokratismus und Menschenferne vorgeworfen. Mit ihren beharrenden Momenten entferne sie sich von den Entwicklungsbedürfnissen der Wirtschaft und der Gesellschaft. Diesen Einschätzungen stimme ich im Wesentlichen zu. Schule leistet in zu geringem Maße Beiträge zur gesellschaftlichen und zu ihrer eigenen Entwicklung, weil sie in der Falle ihrer eigenen subjektskeptischen Tradition steckt und damit den Prozessen gesellschaftlicher Individualisierungs- (Vereinzelungs-) tendenzen ausgeliefert ist. Diese Lage kann überwunden werden, wenn die Rolle des Individuums neu definiert wird.

      1 Der individuumskeptische Charakter der Bildungsorganisation

      Schule ist diesen Individualisierungsbedürfnissen und -notwendigkeiten nicht gewachsen. Mit ihrer Organisationsform und ihrem Selbstverständnis entspricht sie entgegengesetzten Interessen: Sie entspringen dem Interesse bürgerlicher und bestimmter adliger Schichten des ausgehenden 18. Jahrhunderts an staatlicher Machtdurchsetzung gegen die die Willkür, Chaotik und "Provinzialität" feudaler Souveräne. So sehr das ein historischer Fortschritt für die Anerkennung des Individuums als allgemeines Prinzip war, so gehört(e) zum Vermächtnis der Aufklärung und der Moderne die Vorstellung der Planbarkeit technischer und menschlich-sozialer Prozesse. Gärtnerisch inspirierte Züchtungsvorstellungen spielten und spielen noch heute eine große Rolle in schulischen Selbstverständnissen.

      Was sich in den Schriften der Aufklärung wie eine Hymne an das Individuum liest, ist oft nichts anderes als der Versuch, den Menschen, wie eine Maschine zu mechanisieren (oder wie eine Pflanze zu züchten) und verfügbar zu machen. Dieses auch der Schule zugrundeliegende Entwicklungsmodell kann dem Bedürfnis nach Individualisierung, wie auch der Notwendigkeit der Individualisierung nicht gerecht werden.

      Verführerisch erscheinen Gesetze, Richtlinien, Lehrpläne. Es ist alles darin, was sich das Lehrer- und Demokratenherz wünscht: Mündigkeit, Achtung der Menschenwürde und der Natur, Persönlichkeitsentwicklung und noch vieles mehr. Offenbar wird all das für planbar durch Dienstordnungen, Curricula, Methodik und Didaktik gehalten. Diese Konzeptionen sind Ausdruck des Vertrauens in Regelbarkeit durch übergeordnete Instanzen, wie auch Ausdruck des Mißtrauens in die sich einer Kontrolle entziehenden Individuen.

      Die hehren Ziele ernsthaft erreichen zu wollen, erforderte ein Ernstnehmen des Subjekts, Anerkennung seiner Eigenwilligkeit und Absage an seine Planbarkeit. Tatsächlich haben wir es in der staatlichen Schulpädagogik (und in weiten Teilen der Gesellschaft!) mit einem anthropologischen Pessimismus und pädagogischen Optimismus zu tun - eine Spaltung, die zahlreiche Paradoxien erzeugt (Wie wird der schlechte Mensch durch Erziehung zu einem Guten?).

      Viel erziehungswissenschaftlicher und psychologischer Schweiß ist darauf verwendet worden, den Zwiespalt zwischen staatlichen Interessen an Macht und Ordnung einerseits - Schule ist dazu ein Mittel - und subjektiven (Lern-) Interessen der Individuen andererseits aufzulösen. Die Legitimierung des Schulwesens als im Interesse der Lernenden liegend ist dennoch nie gelungen.

      Wie sollte die Schule auch ein Ort der Persönlichkeitsentwicklung, Bildung und Vervollkommnung sein, wenn ich "zur Not" mit Zwang dahin gebracht werden kann? Wie kann sich Humanität und Gerechtigkeit entwickeln bzw. welche Vorstellungen entwickeln sich davon in einem System, in dem Persönlichkeit und Beurteilung meiner Kompetenz sich in einer Notenskala von 1 bis 6, mit Zehntel-Noten "Genauigkeit" zusammenfassen lassen; ganz zu schweigen von den logisch-statistischen Irrationalitäten des Benotungssystems? Stattdessen entwickelt sich ein Wissen über den Doppelcharakter des Systems, über seine Unausweichlichkeit, über die Abhängigkeit von ihm und wie man sich auf es einrichtet.

      Die


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