Schulpsychologie -. Jürgen Mietz

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Schulpsychologie - - Jürgen Mietz


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übernehmen keine Verantwortung für das, was sie treiben und herstellen. Sie werden unproduktiv, krank, lerngestört etc. Das gilt für Wirtschaft und Schule. Zentralistische, mechanistische, undemokratische Formen des Entwickelns und Organisierens werden zu einem Destruktivitätsfaktor.

      Heute rückt der Zeitpunkt näher, zu dem es immer wichtiger wird, die individuellen EntwicklungsPotenziale für den einzelnen Menschen und für die Gesellschaft zu nutzen. Also kommt es darauf an, Individualität in Schule nicht zurückzuweisen, sie als Störung aufzufassen, sondern sie in ihrer Eigenart verstehbar zu machen und sie in Schule zu integrieren. Dazu braucht man eine Theorie der Persönlichkeit.

      2 Tendenz zu Individualisierung und Differenzierung

      Ein wesentliches Kennzeichen der Gegenwart und absehbaren Zukunft sind Differenzierungsprozesse. Es gibt ein allgemeines Streben nach Individualität. Was einheitlich und festgelegt war, nimmt unterschiedlichste Formen an: Lebensstile, Lebensziele, Berufsperspektiven variieren in einem breiten Spektrum und lassen sich immer weniger an bestimmte Schichten, Traditionen, Zeiträume, Rollenfestlegungen anbinden. Dieses festzustellen heißt nicht, die Schattenseiten, Deformierungen und Merkwürdigkeiten, wie die Form des Konsumierens, dieser Entwicklung zu übersehen.

      Sich selbst von anderen zu unterscheiden, auch über die Verbindung zu anderen (Bildung von Szenen) ist wichtiges Element individueller Selbstverständnisse und des Überlebens. Selbstverwirklichung ist ein zentrales Thema und eine dialektische Antwort auf Entindividualisierungsprozesse der Industriegesellschaften. Diese Bedürfnisse lassen sich nicht durch Moral oder Politik unterbinden. Die einseitige Verarbeitung dieser Entwicklung im Sinne einer Bedrohung kann selbst zu einer Gefahr werden; denn die Diskriminierung bestimmter Individualisierungs- und Identitätsbedürfnisse schaffen diese nicht aus der Welt. Abwehrhaltungen erschweren nur die Aussichten, die Prozesse der Individualisierung und Differenzierung zu gestalten. Dieses wiederum ist an persönliche "Qualifikationen" gebunden, die weiter unten erörtert werden sollen.

      Wenngleich widersprüchlich und nicht ungebrochen, so verstärken sich auch in den Bereichen der Betriebs- und Volkswirtschaft Tendenzen, die in der Individualisierung einen wesentlichen Schlüssel zu mehr Kreativität und Produktivität sehen. Der Mensch als Anhängsel der Maschine oder als ausführendes Organ einer höheren, unternehmerischen Weisheit hat zwar noch lange nicht ausgedient. Aber unter dem Eindruck wachsender Bedürfnisse nach mehr Individualität, Freiheit und Verantwortung muss dem Individuum mehr Rechnung getragen werden.

      3 Individualität als Basis für Erneuerung und Produktivität - ein Modell der Persönlichkeitsentwicklung

      3.1 Individualität braucht Geschichte und Generationenarbeit

      Diese Theorie nimmt sich nicht eine Störung, einen Defekt oder eine Krankheit zum Ausgangspunkt, sondern die "normale" Persönlichkeit: Woraus ist sie gemacht und zusammengesetzt? Welche speziellen Deutungsmuster und Handlungsorientierungen sind ihr eigen? Was macht ihre einzigartige Qualität aus? Wie ist Persönlichkeit verstehbar zu machen?

      Jeder Mensch - zumindest in unserer Kultur - baut auf den vielschichtigen Lebenserfahrungen von Vater und Mutter und den vorangehenden Generationen auf. (Auch im Falle der Adoption, Inpflegenahme, Heimerziehung spielen diese Kategorien für die Lebensgestaltung eine wesentliche Rolle). Jede nachfolgende Generation hat damit - im Prinzip - eine komplexere, reichhaltigere Lebenserfahrung zur Verfügung als die vorangehende.

      In der Familiengeschichte sind Erfahrungen von Arbeiterexistenz, bäuerlicher, unternehmerischer Existenz, Arbeitsteilung usw. versammelt; Erfahrungen vom Umgang mit Krisen und Konjunkturen, von Migration, Neuaufbau usw. Immer haben einzelne Personen in konkreten, sozialgeschichtlichen Situationen und Herausforderungen mit ihrer Persönlichkeit Leben und Überleben organisiert und dabei auf Vorerfahrungen zurückgegriffen, sie damit weiterentwickelt und wiederum nachfolgenden Generationen zur Verfügung gestellt.

      Selbstverständlich spielen dabei nicht nur die Erfahrungen und Handlungen eine Rolle, die unmittelbar der Existenzsicherung dienen, sondern auch solche kultureller Art (Arbeitsteilung von Mann und Frau, Geschlechterrolle, Religion, Kunst, Art der Geselligkeit, Freizeitgestaltung etc.). In diesen "versammelten Lebenserfahrungen", die sich in einer Person finden, sind die historisch-gesellschaftlichen Existenzbedingungen und die Besonderheiten des Lebens der Ursprungsfamilien enthalten (die subjektiven Aneignungsformen und die immer wieder "überarbeiteten" Ergebnisse der Auseinandersetzung mit der Umwelt).

      3.2 Objektives und verfügbares Potenzial

      Die in einer Person versammelten Lebenserfahrungen - ein Ergebnis von Generationenarbeit -, stellen ihr Potenzial dar, mit dem sie sich am gesellschaftlichen Prozeß beteiligen kann. Wir verwerten unsere Potenziale für die Lebensgewinnung im Rahmen bestimmter gesellschaftlicher Anforderungen. Ist von dem objektiv gegebenen Potenzial ein großer Teil verfügbar, erhöhen sich die Chancen für umfassende Verarbeitung und Mitgestaltung. Ist nur ein kleiner Teil verfügbar, gelingt nur eine reduzierte Verarbeitung und Mitgestaltung. Die Ursachen für geringe Verfügbarkeit sind vielfältig: Wechselseitige Entwertung väterlicher und mütterlicher Lebenserfahrungen (s. u.); Tod, Migration, gesellschaftliche Entwertungen, radikale Umstellungen der Lebenssicherung sind ebenfalls häufig Ursache für den Verlust von Lebenserfahrungen und damit von Entwicklungspotenzial.

      3.3 Individualität als Einheit der Widersprüche aus väterlichen und mütterlichen Systemen

      Aus den Vorgaben der unterschiedlichen väterlichen und mütterlichen Systeme muss das Kind seinen eigenen Weg finden, seine Persönlichkeit entwickeln.

      Die Vorgenerationen sind im Kind enthalten und gleichzeitig repräsentiert das Kind damit neue Qualität. Im Kind entsteht Neues aus bis dahin unabhängigen Systemen. Aus der Verarbeitung der Unterschiedlichkeiten und Gegensätzlichkeiten entsteht die besondere Dynamik des Kindes, seine einmalige Persönlichkeit.

      Es kann sie nutzen, wenn von den Eltern die Unterschiedlichkeiten zugelassen werden können, m.a.W.: das Kind "darf" und kann Ergebnis mütterlicher und väterlicher Geschichte sein.

      Hindernisse für Entwicklung

      Hindernisse für Entwicklung ergeben sich aus fehlenden Identifikationsmöglichkeiten, möglicherweise durch Tod, Flucht, Vertreibung, Auswanderung; oder durch gegenseitige Abwertung und Ablehnung der Eltern, die auf das Kind übertragen werden, die das Kind sich aneignet. Für das Kind heißt das, dass es etwas in sich hat - denn es definiert sich über beide Eltern -, was aus väterlicher oder mütterlicher Sicht wertlos, unbrauchbar, negativ ist. Damit hat es Schwierigkeiten, sich als wertvoll "ausgestattet" zu verstehen: Es ist unsicher, irritiert, wechselhaft usw.

      Beispiel: Der Vater eines Kindes hält viel davon, seinen Sohn zu fordern und zu beanspruchen. So hat er es von seiner Mutter und seinem Vater kennengelernt. Die Anforderungen sind eingebunden in Vorstellungen über die Männerrolle und über die zukünftigen Aufgaben des Mannes als Ernährer einer Familie.

      Die Mutter des Kindes hält einen solchen Stil für "zu hart". Sie hat erlebt, wie ihr jüngerer, kränklicher Bruder von der Mutter beschützend und schonend betreut wurde. Bei ihrem eigenen Kind hat es Probleme während der Schwangerschaft gegeben. Mit diesen unterschiedlichen "Programmen" treten die Eltern nun an ihr Kind heran. Für das Kind heißt das, dass es nicht weiß, wie es sich fühlen soll: Ist seine Handlungsfähigkeit eingeschränkt und ist es schonbedürftig oder ist es handlungsfähig und belastbar? Und: Orientiert es sich am Vater, erschrickt es die Mutter; orientiert es sich an der Mutter, ist der Vater unzufrieden.

      Beispiel: Ein Schulleiter mag nicht leiten. Er versteht sich als Vermittler, kommt aber damit immer mehr unter Druck. Aus seiner Familiengeschichte ergibt sich, dass seine Mutter aus einer Kleinunternehmerfamilie stammt; sie ist mit dem entscheidungsfreudigen Vater identifiziert, ist auch das Denken in Kosten-Nutzen-Kategorien


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