Was zu beweisen wäre. Jürgen Heller
Читать онлайн книгу.befragt den jungen Mann hinter der Scheibe. Dann kauft er ein Ticket Berg- und Talfahrt. Beim Einstieg stehen zwei Angestellte der Gondelbahn, die er auch anspricht. Keiner von denen hat auch nur eine Ahnung von drei älteren Wanderern, von denen ein Mann an einer Hand einen verkürzten kleinen Finger hat. Auf der Fahrt nach oben versucht er, auf andere Gedanken zu kommen. Er versucht, sich eine zärtliche Situation mit Carla vorzustellen, es misslingt.
So kenne ich sie überhaupt nicht. Gut, es ist nicht leicht für sie. Immerhin kann es sein, dass ihre Eltern nicht mehr leben. Ich weiß nicht, wie ich mich in dieser Lage verhalten würde. Mein Vater ist lange tot und richtig intensiv getrauert habe ich nicht, wenn ich ehrlich bin. Obwohl ich meinen Vater sehr geliebt habe, bestand doch seit vielen Jahren ein gewisser Abstand. Anette hat viel länger gelitten, als der Vater starb. Vielleicht ist das ja auch geschlechtsspezifisch. Auf jeden Fall werde ich um Carla kämpfen, wenn die Zeiten wieder normal sind.
Die Gondel hat die Bergstation erreicht. Er hätte sich die Fahrt jedoch schenken können. Weder das Gondelpersonal, noch die Angestellten im anliegenden Bergrestaurant können sich an Menschen nach seiner kargen Beschreibung erinnern. Bruno ist frustriert. Wo soll man denn hier anfangen zu suchen? Hoffnungslos. Und Hermann hat ja auch völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass er keine großangelegte Aktion starten kann, wenn es nicht wenigstens einen konkreten Hinweis gibt. 20 Minuten später ist er auf seinem Zimmer. Das aufgeladene Handy motiviert ihn, zwei wichtige Anrufe zu tätigen. Erst ist es Roman Gleyer, den er zu Hause erwischt und zum Glück nicht während einer Busfahrt.
Es ist genauso, wie Bruno es dachte. Roman muss nur kurz überlegen und bestätigt dann, dass er die beiden Fahrgäste tatsächlich im Rückspiegel seines Busses beobachtet hat. Also wird aus der linken Hand die rechte und der halbe Finger wandert mit! Bruno hat nun einen zusätzlichen Grund, Carla anzurufen. Erstaunlicherweise geht sie sofort ran und scheint sogar recht gut gelaunt zu sein, gemessen an ihrem letzten Zusammentreffen.
"Hallo Bruno, das ist aber lieb, dass du mich anrufst. Stell dir vor, sie haben die Suche eingestellt, diese Idioten. Aber Werner will sich darum kümmern. Er hat schon in der Landeszentrale der Tiroler Bergwacht angerufen und..."
Werner, welcher Werner?
"Halt mal Carla, wer ist Werner?"
"Na der Inspektor oder besser Bezirksinspektor Deininger, ein wirklich kompetenter Mann!"
Und so entgegenkommend...
"Carla ich habe heute mit dem Leiter der hiesigen Bergwacht gesprochen. Sie haben überhaupt keinen Grund, noch weiter zu suchen, jedenfalls nicht auf dem Gletscher. Wir haben aber gemeinsam erörtert, wie es gewesen sein könnte und da ergeben sich..."
"Sag mal, auf welcher Seite stehst du? Die haben die Suche abgebrochen und du redest mit denen über Dinge, die sich ergeben haben könnten. Wie soll ich das verstehen?"
"Wir haben herausgefunden, dass deine Eltern offensichtlich nicht am Gletscher oben waren, jedenfalls nicht geblieben sind, sondern mit dem Bus ins Tal zurück und dann eventuell auf den Elfer hoch, mit der Gondel. Da war noch ein dritter Mann dabei..."
"Aha, der dritte Mann sozusagen. Sag mal wie viel hast du getrunken?"
Sie beendet das Gespräch. Es ist so zu Ende, wie es nur sein kann.
* * *
Donnerstag, 21. April 1955
Gestern war das Treffen mit Herrn Dr. Rohrmann. Er war sehr nett und hat mich zum Essen eingeladen. In diesem Teil von Innsbruck bin ich noch nie gewesen. Ganz in der Nähe fährt eine Bahn die Nordkette hinauf. Sie fährt auf Gleisen, wird aber von einem dicken Stahlseil gezogen. An einem der nächsten Wochenenden muß ich dort einmal hochfahren, vielleicht mit Claudia?
Meine Hoffnung, daß ich durch die Hilfe von Dr. Rohrmann vielleicht schneller zum Ziel komme, hat neue Nahrung erhalten. Ich habe direkt bei ihm meinen Beitritt zum ÖAV beantragt. Er ist Vorstandsmitglied und als solches für die Mitgliederförderung zuständig. Als Student (was ich ja streng genommen nicht bin) brauche ich auch nicht den vollen Beitrag bezahlen. Der Leiter des Geologischen Instituts, ein gewisser Professor Dr. Blasicz, ist ebenfalls im Verein. Wenn ich den überzeugt habe, steht meiner Immatrikulation nichts im Wege, sagt Dr. Rohrmann. Er will bei der nächsten Vorstandssitzung schon mal ein Gespräch mit Blasicz führen.
Heute ist mit der Post eine Ansichtskarte von Claudia gekommen. Sie zeigt eine Luftaufnahme vom Kalterer See. Dort muß es sehr schön sein. Sie schreibt, sie haben schon sommerliche Temperaturen. Zu Pfingsten soll ich sie besuchen kommen, ihre Eltern wollen mich kennen lernen. Oh Gott, wieso hat sie über mich gesprochen?
* * *
14
Bruno Hallstein hat die Nase voll, ist genervt und verspürt den Wunsch, sich etwas zurückziehen. Er schnappt sich den angefangenen Krimi, die unvermeidliche Lesebrille und macht sich auf den Weg in den Aufenthaltsraum. Der ist um die Zeit fast immer leer. Er setzt sich in seine Lieblingsecke. Von da hat er einen schönen Blick durch die Fenster auf das Elfermassiv und den Einstieg zum Pinnistal. Dann steht er nochmal auf und geht zu der kleinen Küchenzeile in der gegenüberliegenden Ecke. Er greift sich aus dem Regal ein Glas und eine kleine Karaffe und schenkt sich ein Viertel Rotwein ein. Die angefangene Flasche steht noch von gestern Abend dort. Dann schaltet er das Radio ein, dreht es aber so leise, dass die Musik gerade noch zu hören ist aber nicht beim Lesen stört. Als er wieder Platz genommen hat, nimmt er einen kräftigen Schluck, lehnt den Kopf nach hinten, bis er die holzvertäfelte Wand berührt und schließt die Augen für einen Moment, um diesen Augenblick der Ruhe in sich aufzunehmen und zu genießen.
Nach ein paar Seiten Krimi seines sizilianischen Lieblingsautors, lässt ihn ein schleifendes Geräusch aufblicken. Jemand hat die Tür der Durchreiche von der Küche aus kurz geöffnet und gleich wieder verschlossen.
Da war wohl einer neugierig und wollte sehen, wer hier sitzt.
Er trinkt einen kleinen Schluck und will weiterlesen, aber wie das nun so oft geht, passiert etwas Aufregendes.
"Hallo Bruno, bist du ganz alleine hier?"
Es ist Anna.
"Magst du einen Kaffee oder lieber einen Schnaps?"
"Hallo Anna, grüß' Dich. Also wenn schon, dann trinken wir einen Schnaps, ich habe schon mit Wein vorgelegt, ist doch auch nach vier."
Das ist schon eine runde Sache, wie sie so den Raum betritt. Manche Frauen treffen immer seinen Geschmack. Enge dunkelblaue, fast schwarze Jeans, ein breiter brauner Ledergürtel schaut unter einer weißen Bluse hervor, darüber trägt sie einen schwarzen Pulli mit kurzen Armen und einen lässig gebundenen Seidenschal, in der Farbe ihrer Jeans. Sie ist nur leicht geschminkt und ihr rötliches Haar etwas zerzaust. Ihre grünen Augen lächeln wie immer.
"Darf ich mich zu dir setzen oder willst du lesen?"
Sie stellt die beiden Schnapsgläser auf den Tisch, ihr Glas ist nur halb voll.
"Ich würde mich freuen, wenn du dich zu mir setzt, lesen kann ich später."
Wenn ich jetzt lieber lesen würde, müsste ich ja bekloppt sein.
"Hattest du einen schönen Tag?"
Ihr Parfum hat seine Nase erreicht. Alarm!
"Na, was man so schön nennt. Ich war ja in Sachen Busfahrer unterwegs. Der Hermann Gleyer von der Bergwacht hat mich mit seinem Cousin in Kontakt gebracht."
"Ach der Roman war derjenige, der die Vermissten mitgenommen hat? Stimmt überhaupt, der ist Busfahrer und auf den kannst du dich auch verlassen. Was der sagt, stimmt. Ich kenne ihn gut."
Sie greift zu ihrem Glas.
"Aber