Die Ketzer von Antiochia. Alexander L. Cues

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Die Ketzer von Antiochia - Alexander L. Cues


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      I

      Als Menachem erwachte, wusste er nicht, wo er sich befand. Es war stockfinster. Die Mischung aus Staub und Leichengeruch machte ihm das Atmen fast unmöglich. Eine blutende Wunde am Kopf ließ ihn erschrecken. War sie die Ursache für den stechenden Schmerz, der ihm beinahe die Besinnung raubte? Er vermochte es nicht zu sagen, genau so wenig, wie lange er hier schon gelegen hatte. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Er erinnerte sich nur noch an zwei, drei furchtbare Erschütterungen, das entsetzte Schreien der Menschen, das vom Lärm des zusammenstürzenden Hauses übertönt wurde. Als sich die Katastrophe ereignete, waren sie gerade mit der Zubereitung ihres armseligen Essens beschäftigt. Es gab einen Brei aus Getreideresten, die sie außerhalb der Stadtmauern gesammelt hatten. Beißender Qualm erfüllte wie immer den einzigen Raum ihrer Wohnung im dritten Stockwerk des Mietshauses im jüdischen Viertel von Antiochia. Sie lebten auf diesem beengten Raum mit sechs Personen: die Eltern, Arie und Rahel, mit den vier Kindern: Menachem, der Älteste, seine Schwestern Zippora und Lea und der Bruder Dror, der gerade erst vier Wochen alt war. Wo waren sie jetzt? Hatten Sie den Einsturz ihres Hauses überlebt? Quälende Gedanken überfielen ihn und ließen ihn nicht mehr los. Würde man nach ihnen suchen? Aus eigener Kraft war es ihm unmöglich, sich nicht aus dieser Trümmerwüste zu befreien. Aus der Ferne drangen leise Stimmen an sein Ohr: das Wimmern der Verletzten, deren Gliedmaßen gebrochen waren, die verzweifelten Rufe nach den Kindern, den Eltern, die unter den eingestürzten Mauern begraben waren. Die meisten hatten keine Chance, dem Verderben zu entrinnen. Ihre Insula war wie alle Wohnhäuser ihres Stadtbezirks aus getrockneten Lehmziegeln errichtet, die selbst ohne Erdstöße manchmal in sich zusammenfielen, weil die Grundmauern die Belastung nicht tragen konnten. In den oberen Stockwerken zogen sie oft zusätzliche Mauern ein, um weitere Menschen unterbringen zu können. So wuchs die Gefahr eines Einsturzes mit jedem neuen Bewohner. Menachem machte sich wenig Hoffnung, gefunden zu werden. Wenn die Eltern und Geschwister tot waren, würde niemand nach ihm fragen. Überlebende ergriffen aus Angst vor Seuchen nach solchen Katastrophen die Flucht. Schwer Verletzte lagen oft tagelang herum und starben vor Durst. Er aber wollte leben. Sie hatten unsägliche Mühen bei der Übersiedlung nach Antiochia auf sich genommen. Welchen Sinn hätte das also gehabt, würde er jetzt elend zugrunde gehen? Vor vier Jahren waren sie aus dem Bergland von Galilaea hergekommen. Menachem war gerade zwölf geworden. Er hütete in der Heimat immer die kleine Ziegenherde, von der die Familie lebte. Der Vater stellte Decken her aus Ziegenhaaren, die Mutter machte Käse und backte Brote aus Weizen und Gerste. Sie waren immer fromme Judäer gewesen, die den Sabbat feierten und die Speisegebote beachteten, wie ihre Vorfahren es schon seit Generationen getan hatten. Sie hielten Abstand zu den Fremden, die von Tyros herüber kamen, um mit ihnen zu handeln. Die Händler brachten lederne Gürtel mit und Amphoren für Wein und Öl. Manchmal tauschte der Vater aber seine Decken ein gegen nützliche Dinge, die sie im Hause brauchten: Öllampen, Kämme und Besen. Es war ein einfaches aber erträgliches Leben. Dann kam jedoch das verhängnisvolle Jahr, in dem kein Regen fiel und die Tiere keine Nahrung mehr fanden. Eins nach dem andern mussten sie schlachten. Die Parzellen, die der Vater geerbt hatte, mussten an den Großgrundbesitzer verkauft werden, damit sie sich wenigstens noch etwas zu essen kaufen konnten. Als auch dieses Geld zu Ende ging, musste der Vater als Tagelöhner anheuern. Der bescheidene Lohn reichte aber bald nicht mehr aus, um die Familie zu ernähren. Schließlich beschlossen die Eltern, in die Stadt Antiochia zu ziehen, wo ein Bruder der Mutter mit Frau und Kindern lebte. Sie zogen mit ihren wenigen Habseligkeiten fort aus dem Dorf Kedesh, wo es für sie keine Zukunft mehr gab. Vorsichtig tastete er über sein Gesicht. Die Wunde befand sich über dem rechten Auge, wo ihn ein Stützbalken getroffen hatte. Die Blutung war mittlerweile zum Stillstand gekommen, doch er musste unbedingt seinen Durst stillen und die Wunde auswaschen. Bei dem nahezu aussichtslosen Versuch, sich aus seiner Lage zu befreien, durchzog ein heftiger Schmerz seinen linken Fuß. Als er das Bein abtastete, wurde der Schmerz unerträglich. Das Fußgelenk war zertrümmert und bedeckt von einem Gemisch aus Lehm und Blut. Ihm wurde klar, dass er sich ohne Hilfe niemals würde befreien können. Er musste an die jüngeren Geschwister denken. Sie konnten die Katastrophe unmöglich überlebt haben. Und wenn doch, würden sie an den Folgen ihrer Verletzungen sterben. Er schob die unerträgliche Vorstellung beiseite. Dieser Gedanke war ihm zu schmerzhaft, denn zwei weitere Geschwister, ein Junge und ein Mädchen, waren schon kurz nach der Geburt an Infektionen, die mit hohem Fieber und rötlichen Flecken auf den kleinen Körpern einhergingen, gestorben. Der jüdische Arzt, den sie aufsuchten, nannte die Krankheit „Fleckfieber“. Helfen konnte er ihnen nicht. Er gab ihnen den Rat, ihr Wasser aus einer anderen Zisterne zu holen. Das bedeutete eine Verdoppelung des Weges für die Kinder bei der Beschaffung von Wasser, das sie aus dem syrischen Stadtbezirk holen mussten. Manchmal jagten die Anwohner sie einfach davon. Und jetzt bangten sie um das Leben des kleinen Dror, der bis jetzt noch gesund geblieben war. Menachem dachte gerade, dass er wieder ohnmächtig werden würde, als er Stimmen über sich hörte. Er konnte nicht verstehen, was in dieser für ihn fremden Sprache gerufen wurde. Mit letzter Kraft brachte er einen verzweifelten Schrei hervor, bevor ihm erneut die Sinne schwanden. Als er erwachte, schaute er in zwei fremde Gesichter. Ein junger Mann, seiner Kleidung nach ein Grieche, und eine syrische Frau beugten sich über ihn. Die Wunde am Kopf schmerzte unerträglich. Jemand hatte ihm einen Kopfverband angelegt. Er bemerkte, dass die Frau seinen verletzten Fuß versorgte. Als der Mann ihn fragte: „Willst du etwas trinken?“ zuckte er zusammen. Angst und Misstrauen überfielen ihn. Die Eltern hatten ihn gelehrt, im Umgang mit Fremden vorsichtig zu sein. Judäer waren oftmals Opfer von Anschlägen. Besonders feindlich verhielten sich ihnen gegenüber die eingeborenen Syrer, deren Sprache er nicht verstand. Warum halfen diese Fremden ausgerechnet ihm? Wohin hatte man ihn gebracht? Er wusste, dass die Stadt eine Brutstätte des Verbrechens war. Besonders jetzt, nach dem Erdbeben, waren mit Sicherheit Scharen von Plünderern unterwegs. Herumliegenden Leichen, aber auch schwer Verletzten wurde alles genommen, was irgendwie zu gebrauchen war. Der Raum, in dem er sich befand, zeigte bedrohlich wirkende Risse im Mauerwerk. Es war lebensgefährlich, sich hier aufzuhalten. Jeden Moment konnte das Dach einstürzen. Wussten seine Retter nicht, in welcher Gefahr sie sich hier befanden? Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte die Frau: „Wir haben die Mauern abgestützt. Das Dach ist heil geblieben. Wenn nicht ein neues Beben kommt, sind wir sicher. Du brauchst dich nicht zu fürchten.“ Als er zu trinken versuchte, zitterte er so stark, dass ihm der Becher aus der Hand fiel. Die Frau füllte ihn neu und half ihm, den Becher zum Mund zu führen. „Lass´ Dir Zeit. Es ist genug da.“ Auch sie sprach Griechisch, das er gut verstand. Die Nachbarn im Haus waren aus Kreta nach Antiochia gekommen. Von ihnen hatte er die Sprache gelernt. Jetzt erst merkte er, dass noch andere Personen im Raum lagen und versorgt wurden. Zwei lagen ganz nahe bei ihm, ihr schmerzhaftes Stöhnen war für ihn deutlich zu vernehmen. Zwei weitere Verletzte lagen auf der anderen Seite des Raumes neben dem Eingang. Sie schienen zu schlafen. Er konnte nicht erkennen, ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Wieder wandte sich die Frau an ihn: „Du brauchst unbedingt Ruhe. Versuche zu schlafen.“ Er war jedoch noch viel zu aufgewühlt von den Geschehnissen, um einfach schlafen zu können. Zudem beschäftigte ihn die Frage, bei was für Menschen er sich hier befand. Er konnte sich nicht vorstellen, was diese Menschen bewegte, sich um die Verletzten zu kümmern, wagte jedoch nicht, seinen Rettern eine Frage zu stellen, die sich abwechselnd mal dem einen, dann dem anderen Verletzten zuwandten, ihnen zu trinken gaben und die Wunden versorgten. In einer Nische des Raumes sah er einen Tisch, auf dem er eine Buchrolle erkennen konnte. Als sich die Tür öffnete, betrat ein weiterer Mann den Raum, an Kleidung und Haartracht unschwer als Judäer zu erkennen. Er begrüßte die beiden Helfer mit einem Kuss und sagte: „Kyrios Jesous“. Diese erwiderten seinen Gruß mit denselben Worten. In einer bereitstehenden Schüssel wusch er den Staub von seinen Füßen und ließ sich von den anderen erzählen, wie es um die Verletzten stand. Dann kam er auf Menachem zu und fragte ihn, wie er heiße. „Menachem, Sohn des Arie aus Kedesh,“ antwortete er stockend und mit leiser Stimme. „Ich glaube, wir haben deine Eltern und Geschwister gefunden. Sie leben, aber dein Vater ist schwer verletzt. Er hat immer wieder deinen Namen gerufen. Sie werden gerade hierher gebracht.“ Als er diese Worte des Fremden vernahm, wollte Menachem sich aufrichten, spürte aber, dass seine Kraft dazu nicht reichte. „Du wirst sie bald sehen. Sie können nicht aus eigener Kraft gehen. Es kann aber nicht mehr lange dauern. Bleib´nur ruhig liegen.“ Diese Nachricht hatte eine


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