Die Ketzer von Antiochia. Alexander L. Cues
Читать онлайн книгу.die Stimme seines kleinen Bruders Dror erkannte, der in den Armen der Mutter lag, die gerade hereingetragen und auf eine Decke gelegt wurde. Wieder wollte er sich aufrichten, um ihr etwas zuzurufen, fiel aber auf sein Lager zurück und schlief weiter. Unruhig wälzte er sich hin und her. Er erinnerte sich im Traum daran, wie sie nach Antiochia gekommen waren. Die Stadt war ihm zuerst unheimlich und gefährlich erschienen. Ihre hohen Mauern, die engen Straßen mit den Mietshäusern, der Lärm, der Schmutz und der unsägliche Gestank von Abwässern und Garküchen – das alles war ganz anders als die liebgewonnenen Lebensumstände in seinem Heimatdorf in den Bergen Galilaeas. Sie fanden zunächst Unterkunft beim Bruder der Mutter und seiner Familie, was die große Umstellung zumindest ein wenig erleichterte. Jakob ben Zakkai war im jüdischen Viertel ein angesehener Mann. Er konnte lesen und schreiben und half ihnen, sich bei den Behörden registrieren zu lassen. Er kannte sich zudem im Rechtswesen aus und verfasste Gutachten für Handwerker und Händler, die mit dem Magistrat der Stadt um Steuern und Abgaben stritten. Man konnte ihn durchaus als wohlhabend bezeichnen, denn er besaß ein Mietshaus mit vier Stockwerken, das mit seiner Rückwand einen Teil der Mauer bildete, die das jüdische vom syrischen Viertel trennte. Die eigene Wohnung bestand aus drei Zimmern, einer Küche und hatte eine Latrine, was schon ein gewisser Luxus war. Eins der Zimmer wurde freigemacht für Menachems Familie. Als einige Zeit später eine Familie im dritten Stock am Fleckfieber starb, zogen sie in deren Wohnung, die aus einem Zimmer und einer kleinen Nische bestand, die sie als Vorratskammer benutzten. Neben ihren Schlafstellen, der kleinen Wiege für den Bruder und der Feuerstelle gab es noch eine Truhe im Zimmer, in der die Habseligkeiten der Familie aufbewahrt wurden: ein paar Ziegenfelle, der Gebetsschal des Vaters, Silberschmuck der Mutter, Essgeschirr und die Sabbatleuchter mit ihren Kerzen. Wenn man aus dem Fenster schaute, konnte man in die Zimmer des gegenüberliegenden Hauses hineinblicken. Die Straße war so schmal, dass man die Gespräche der Bewohner von gegenüber gut mithören konnte. Diesmal wurde er geweckt, als man seinen schwer verletzten Vater hereintrug, der eine große Kopfwunde erlitten hatte und vor Schmerzen stöhnte. Man legte ihn neben Menachem auf eine Decke. „Abba“, flüsterte er, „kannst Du mich hören?“ Der Vater drehte ihm den Kopf zu und seufzte vor Glück: „Dem Himmel sei Dank. Du lebst! Ist die Mutter auch hier? Und deine Geschwister?“ „Die Mutter ist hier, mit Dror. Von Lea und Zippora weiß ich nichts. Sind sie mit dir zusammen im Haus gewesen, als das Unglück passierte?“ „Nein, sie waren unten mit den Kindern deines Onkels. Ich konnte ihre Schreie hören. Sie haben nach mir gerufen, aber ich konnte ihnen nicht helfen.“ Der Vater war zu schwach, um weiter zu reden. Der fremde Judäer gab ihm zu trinken und schaute besorgt auf seine Verletzungen. Als der Vater eingeschlafen war, wandte er sich an Menachem und sagte: „Es sieht aus, als wenn dein Vater auch innere Verletzungen hat. Er hat mehrmals Blut gespuckt, als wir ihn hierher getragen haben.“ Dann beugte er sich über den Vater und wusch die Wunde an dessen Kopf behutsam aus. Jetzt konnte der Junge entsetzt feststellen, dass der Vater über und über mit Blut bedeckt war, das seine Kleider mit dem Staub zusammen gelb-rötlich gefärbt hatte. Seine anfängliche Freude über die Wiedervereinigung mit seinen Eltern wich immer mehr der Angst vor dem, was vor ihnen lag. Was sollte aus ihnen werden? Menachem dachte voller Verzweiflung daran, dass sie nun auch ihre kümmerliche Wohnung mit ihren wenigen Besitztümern verloren hatten, ihnen war nichts von dem geblieben, was sie gerade erst aufgebaut hatten. Der Vater hatte im griechischen Stadtbezirk, der direkt am Orontes lag, bei einem Färber Arbeit gefunden. Er selbst lernte schnell, seine Tage auf der Straße zu verbringen und etwas zu verdienen. Das war schwer und gefährlich. Manchmal half er einem Gemüsebauern, dessen Vorfahren makedonische Soldaten waren, seinen Stand aufzubauen und die Auslagen zu bewachen. Da gab es dann hin und wieder ein paar Oliven, einen Kohlkopf oder auch ein paar Bohnen für die Familie. Ab und zu schleppte er Wasserkrüge für Nachbarn ihrer Insula. Auch half er bei Bauarbeiten an und in Wohnhäusern des jüdischen Wohnbezirks, wo viel gebaut wurde. Er flickte dort Dächer und half den Bewohnern dabei, Wände einzuziehen, um den vorhandenen Wohnraum zu unterteilen. Das alles verschaffte ihm einige Kupferasse, deren eine Hälfte er seiner Mutter gab, während er die andere Hälfte in einen Lederbeutel legte, den er Tag und Nacht nicht ablegte. Jetzt musste er an den Onkel und seine Familie denken. Ruth, die Frau des Onkels, war schwanger. Sie warteten auf ihr drittes Kind. Joel, der Sohn, war sieben, die Tochter Rahel fünf Jahre alt. Der Onkel hatte damit angefangen, seinen Kindern Lesen und Schreiben zu lehren. Menachem durfte dabei sein und lernte schnell. Das spornte die beiden Kinder an, die es ihrem älteren Cousin gleichtun wollten. Er wollte schnell lernen und sich immer mehr Wissen aneignen, denn er hatte ein großes Ziel vor Augen. Baumeister wollte er werden. Das war sein Geheimnis. Noch niemandem hatte er davon erzählt. Er hatte heimlich die Bibliothek der Stadt aufgesucht, wo man die Baupläne der Tempel und des kaiserlichen Palastes bewundern konnte. Gerade als er sich vorstellte, wie er bald wieder seine hebräischen, griechischen und lateinischen Buchstaben auf den Papyrus malen würde, vernahm er, dass die Tür ein weiteres Mal geöffnet wurde. An der Hand einer phönizischen Sklavin betraten seine beiden Schwestern den Raum. Zippora, die Ältere, war kreidebleich und Lea, die Jüngere, weinte und versuchte so schnell wie möglich zur Mutter zu kommen, die beide Kinder sofort gesehen hatte. Menachem konnte nicht glauben, was er mit eigenen Augen sah: Beide Mädchen waren unverletzt! Auch die Mutter war überwältigt und fing vor Schmerz und Freude laut zu weinen an. Die Phönizierin begrüßte die anwesenden Helfer mit einem Kuss und dem Gruß „Kyrios Jesous“, den diese erwiderten. Dann kümmerte sie sich weiter um die beiden Kinder. Seltsame Menschen, dachte Menachem. Sie schienen sich alle zu kennen, obwohl sie doch Griechen, Syrer, Judäer oder Phönizier waren. Wie konnte es sein, dass Handwerker, Sklaven und Freigelassene sich küssten? Und was bedeutete dieser merkwürdige Gruß? Wer war dieser Jesus? Traf sich die Gruppe vielleicht sogar im Geheimen? Das wäre durchaus möglich, denn die Polizeibehörden der Stadt duldeten solche Zusammenschlüsse nicht. Wer nicht angemeldet und registriert war, musste mit hohen Strafen rechnen. Meistens wurden die Anhänger lebenslang in die Steinbrüche geschickt. Menachem erinnerte sich an einen Vorfall in der Nachbarschaft des makedonischen Gemüsehändlers. Dort trafen sich Anhänger des Isiskultes, meistens Handwerker aus dem syrischen Bezirk. Einmal hatten sie gerade ihr monatliches Festmahl beendet, den Göttern geopfert und sangen ihren Paian, als plötzlich Wachsoldaten in ihr Lokal eindrangen. Sie wurden festgenommen und in Ketten abgeführt. Man machte ihnen den Vorwurf, Aberglauben zu verbreiten. Letztendlich stellte sich heraus, dass die Zusammenkünfte der Gruppe nicht genehmigt waren. Alle Anwesenden wurden daraufhin in Ketten gelegt und zur Arbeit in den Steinbrüchen verurteilt. Ob seine Retter wohl auch einem Aberglauben anhingen? Der nächste Tag brachte ihm ein wenig Aufklärung. Es war der Abend vor Jom Rishon, dem ersten Tag der Woche. Unmittelbar nach Sonnenuntergang wurde er durch Singen und Beten geweckt. Mit zum Himmel erhobenen Händen standen sie da und riefen ihren Gott an: Der junge Grieche, die Syrerin, der Judäer, die Sklavin und noch ein paar andere, darunter einige Judäer, aber auch andere Syrer und Griechen, Männer und Frauen. Dann setzten sie sich an einen Tisch, sprachen den Segen und brachen das Brot, wobei sie in Jubel ausbrachen. Menachem verstand einige Worte: „Verkündigt den Tod des Herrn, bis dass er kommt.“ Sie aßen und tranken aus einem Kelch, der herumgereicht wurde. Nach ihrem Mahl holten sie eine Schriftrolle aus der Nische, aus der der Judäer den Wochenabschnitt aus dem Propheten Jesaja vorlas, ehe die Syrerin das Wort ergriff und den Text auslegte. Zum Abschluss küssten sich alle und verabschiedeten sich mit dem Gruß „Kyrios Jesous“. Einige verließen dann den Raum, andere wandten sich wieder den Verletzten zu und pflegten ihre Wunden. Für den Jungen bestand nach dieser Beobachtung kein Zweifel daran, dass er mit seinen Eltern und Geschwistern in einer Synagoge war. Diese Menschen lebten offensichtlich nach jüdischer Sitte. Sie sprachen den Segen über dem Brot, legten die Tora aus und lobten Gott. Aber weshalb taten sie das am ersten Tag der Woche und nicht am Sabbat? Und weshalb aßen und tranken die Judäer zusammen mit Ungläubigen? Und wieso durfte eine Frau die Tora auslegen? Er würde den Grund für diese Merkwürdigkeiten herausbekommen und nahm sich vor, einen seiner Retter zu fragen, am besten den jungen Griechen. Am Abend dieses Tages erlag sein Vater seinen schweren inneren Verletzungen. Menachem hatte gewusst, wie es um seinen Vater stand, dennoch war es ein Schock für ihn. Sie begruben den Vater am nächsten Tag auf einem Platz, der sich im Eigentum ihrer Helfer befand. Der jüdische Friedhof ihres Wohnbezirks war total verwüstet und deshalb eine Bestattung dort unmöglich. Menachem fühlte sich nun immer mehr