Kairos. Christian Friedrich Schultze

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Kairos - Christian Friedrich Schultze


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Spezialkräfte systematisch aufspüren zu können. Höchstwahrscheinlich hatten sie bereits damit begonnen.

      Im ersten geöffneten Eckladen an der Bush Street wechselte sie ihre Oberbekleidung und kaufte sich außerdem eine robuste Umhängetasche aus Leinen und eine Sportmütze, unter der sie ihre schweren, langen Haare verbergen konnte. Sie trug jetzt ein dunkelblaues T-Shirt und darüber eine grau und rot abgesetzte Outdoorjacke, die eine Anzahl Außen- und Innentaschen besaß. Ihre leichte Trainingshose und ihr verschwitztes graues T-Shirt, welches sie im Morgengrauen, als der Angstschrei ihres Herbergsvaters sie unsanft geweckt hatte, in Sekundenschnelle übergestreift hatte, bevor sie aus dem zweiten Stock des Hauses gesprungen und durch die Hintergärten geflüchtet war, warf sie in den nächstbesten Müllcontainer.

      Während sie überlegte, was sie weiter tun musste und im Laufen die Reisröllchen verzehrte, die sie zusammen mit einer Flasche Wasser an einem Kiosk gekauft hatte, stiegen in ihr die Erinnerungen an ihre Fluchttage in Kairo hoch. Das war in Frühjahr 2011 gewesen und das hier war ein fast perfektes Déjà-vu-Erlebnis.

      Nachdem sie damals in jenem koptischen Kloster in der westlichen Wüste, in welchem man sie nach ihrem Labyrinthabenteuer gefangen hielt, versehentlich drei Männer der CIA oder des Mossad getötet hatte, war sie unversehrt aus dem Wadi Abu Mingar bis in die Ägyptische Hauptstadt gelangt und hatte dort verzweifelt auf Redcliffs Hilfe gewartet. Nur, dass sie diesmal niemanden umgebracht hatte. Aber dafür hatte sie ihren Freund Jeremias Redcliff in der vergangenen Nacht für immer verloren. Und Pegasus hatte ihn auf dem Gewissen, da war sie sich sicher. Doch völlig unsicher war sie sich, was sie als Nächstes tun sollte.

      Wahrscheinlich war es das Beste, wenn sie versuchte, sich per Autobus oder Truckstop in Richtung Florida abzusetzen. Einen Flieger zu nehmen, war einfach zu riskant. Flugzeugterminals konnten zu problemlos überwacht werden. Drüben in Oakland, jenseits des Sunds, gab es einen großen Busbahnhof. Dort konnte sie erkunden, welche Busrouten von hier an die Ostküste nach Florida führten.

      Hier an der Bay, als sie noch für die NSA am Caltech und am MTI arbeitete, hatte sie einige Jahre mit diesem Deutschen zusammengelebt. Dennoch wusste sie von dem riesigen Land ihrer Träume und ihrer Liebe immer noch herzlich wenig. Deshalb hatte sie bis jetzt auch keinerlei Plan, wie sie den Häschern der Pegasus-Organisation endgültig entkommen und die Vereinigten Staaten unerkannt verlassen konnte. Ihre Identität als Jung Fu, die amerikanische Archäologin, die sie seit ihrer Zeit an den ägyptischen Königsgräbern auch hier benutzt hatte, war nun verbrannt. Und ihre Originalpapiere und ihre Versicherungskarte, die sie als Wissenschaftlerin und Angestellte der Stanford University namens Li Hui auswiesen, lagen in ihrer Wohnung an der Bay, oben in Palo Alto, versteckt. Doch auch die hätten ihr nichts mehr genutzt, denn sie kannten beide Identitäten. Sie brauchte völlig neue Papiere. Ihr blieb nur noch eine Chance und sie hoffte inständig, dass sie der einzigen Verbindung, die ihr noch verblieb, nicht bereits auf der Spur waren.

      Li Hui blickte mittlerweile auf ein neununddreißigjähriges, bewegtes Leben zurück. Ihre Schönheit, die sie von ihrer taiwanesischen Mutter geerbt hatte, war noch längst nicht verblichen. Für eine Chinesin war sie mit 1,68 Metern ziemlich groß. Noch immer war sie sportlich durchtrainiert und in einigen Kampfkünsten des Wushu gut bewandert. In der letzten Zeit war sie allerdings zu selten zum Trainieren gekommen. Durch die Qualen ihrer Gefangenschaft in Ägypten waren ihre körperlichen Konturen härter und, wenn es so etwas gab, strenger geworden. Man konnte sie jetzt beinahe als hager bezeichnen. Ihre Haare, welche man ihr gleich nach ihrer Festnahme in Kairo abgeschoren hatte, waren in den inzwischen vergangenen drei Jahren wieder bis über Schulterlänge nachgewachsen.

      Sie liebte ihren blauschwarzen, festen Kopfschmuck und war der Meinung, dass man auf diese Weise seine Frisuren und damit sein Aussehen viel variationsreicher verändern konnte. Dies war schon manchmal von Vorteil für sie gewesen. Li Huis Haut besaß auch immer noch diesen mattglänzenden, hellbronzenen Teint, der die Männer ihrer Umgebung stets so angezogen hatte. Doch ihre hellbraunen Augen blickten neuerdings oft traurig in die Welt und hatten ihren früheren, optimistischen Glanz beinahe verloren. Und das lag nicht nur daran, dass die Zeiten lange vorbei waren, als die taiwanesischen Jungens und Medien hinter ihr her waren, weil sie im Alter von fünfzehn Jahren, als sie noch aufs College ging, gleich im ersten Anlauf ihrer damaligen Bewerbung Miss Taipeh wurde.

      Schon früh in ihrer Schulzeit hatte sich herausgestellt, dass Li Hui eine außergewöhnliche Begabung für Kalligraphie und für Mathematik besaß. Aber auch in musischen Dingen hatte sie von ihren Vorfahren gute Anlagen mitbekommen. Anfangs meinte sie, dass es mehr die Musik, als die Naturwissenschaft war, die ihr wirklich zusagte. Ihre Eltern, die als wohlhabende Taiwanesen an Mitteln für ihre Ausbildung nicht sparen mussten, schickten sie deshalb zusätzlich zu einer privaten Violinausbildung. Klassische Europäische Musik war in den neunziger Jahren auf der Insel große Mode geworden. Li Hui spielte bald im Schulorchester mit und übernahm sogar manchen Geigen-Solopart, wenn dieses Orchester öffentlich auftrat.

      Als sie dann vor der Entscheidung stand, für ihr zukünftiges Leben zwischen Musik und Wissenschaft wählen zu müssen, hatte sie sich dann doch für die Mathematik entschieden. In ihrem Innersten war ihr klar geworden, dass sie diesen unbändigen Drang zur Selbstquälerei des unablässigen Übens an diesem besonderen Streichinstrument nicht besaß. Und den musste man unbedingt besitzen, wenn man es zu einem konkurrenzfähigen Solostar bringen wollte.

      Nach ihrem Collegeabschluss begann sie deshalb auf ihren Wunsch, und unterstützt von ihrem Vater, mit einem Studium der Mathematik an der National Taiwan University. Das war im Jahr 1994 gewesen. Es dauerte jedoch nicht lange, und in ihr entwickelte sich eine triebhafte Vorliebe für alte Schriften und Sprachen. Zunächst hing es hauptsächlich mit ihrem besonderen Faible zur chinesischen Kalligraphie zusammen.

      Sie fand diese uralte Schreibkunst des Reiches der Mitte formvollendet, schön und kunstreich wie keine andere und bemühte sich, darin eine besondere Meisterschaft zu erlangen. Alsbald fing sie an, sie mit anderen alten Kalligrafien Handschriften zu vergleichen. Mit dem Studium der wunderbaren arabischen und persischen Schriften gelangte sie natürlich alsbald zu den geheimnisvollen ägyptischen und altindianischen Hieroglyphen und schließlich zu den sumerischen Keil- und Bilderschriften. Damit war sie bei den ältesten bislang bekannten Schriftformen angekommen und Li Hui beschloss, ein Hauptgewicht ihrer Studien auf das Erlernen alter Sprachen und die Entzifferung ältester Schriften zu verlegen. Sie war im übrigen davon überzeugt, dass ihr mathematische Methoden und moderne Rechnerleistungen wertvolle Hilfe bei der Entschlüsselung der vielen ungelösten Rätsel der schriftlichen Überlieferungen des Altertums bieten konnten.

      Bald aber interessierte sie sich auch für die bemerkenswerten Botschaften, die solche Texte enthielten. Sie überlegte, ob sie neben diesen Schrift- und Sprachstudien auch noch ein Studium in alter Geschichte beginnen sollte, entschied nach langem inneren Kampf aber, dass dieses Interesse vorerst zurückstehen musste. Alles zugleich ging einfach nicht, obwohl sie doch so überaus neugierig und wissensdurstig war. Das Studium der Mathematik wollte sie aber trotz ihres Sprachenfables mit Schwerpunkt Kryptologie weiter beibehalten und möglichst kurzfristig abschließen, wenn sie es durchhielt. Um ihrem neu gewählten Forschungsgebiet und den prähistorischen Quellen näher sein zu können, überzeugte sie ihre Eltern, ihr weiteres Studium in Kairo durchführen zu dürfen.

      Im Herbst 1998, mittlerweile 24 Jahre alt, hatte sich Li Hui an der Amerikanischen Privatuniversität von Kairo eingeschrieben. Dass Taiwan-Chinesen an einer amerikanischen Privatuniversität alle möglichen Fächer studierten, war Ende des 20. Jahrhunderts nichts Ungewöhnliches. Dass eine Chinesin in Ägypten arabisch lernen sowie Hieroglyphen und sumerische Keilschriften entziffern wollte, schon.

      Es dauerte einige Zeit, bevor Li Hui die ersten Kontakte zu einigen der zahlreichen Studenten aus aller Herren Länder knüpfte. Sie beobachtete ihre Kommilitonen genau und war sehr vorsichtig in der Auswahl ihrer Bekanntschaften. Erst nach einem halben Jahr schloss sich Hui der dortigen chinesischen Kolonie an und begann nach einigen Monaten sogar, eine behutsame Freundschaft mit Jiang Ju, einer fast dreißigjährigen Studentin für Geschichte der Antike, aufzubauen. Dass Jiang Ju sich später als eine Spezialagentin der Rotchinesen entpuppte, hatte dann ihr Leben in eine vollkommen andere Richtung gesteuert.

      Li


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