Kairos. Christian Friedrich Schultze

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Kairos - Christian Friedrich Schultze


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sie nicht näher kannten, als arrogant eingestuft wurde, hatte anderseits, wenn sie wollte, nur geringe Probleme, Menschen für sich zu gewinnen. Dabei halfen ihr sowohl ihr außerordentlich attraktives Aussehen, ganz besonders aber ihre Möglichkeiten, mit ihrem Instrument eine künstlerisch-beruhigende Atmosphäre um sich zu verbreiten, die auf die meisten ihrer Kommilitonen äußerst anziehend wirkte.

      Hin und wieder lud Li Hui ihre Freunde und Kommilitonen zu kleinen abendlichen Violin-konzerten in einen gut geschützten, schattigen Seitenhof der Universität ein. Sie hatte sich bald zum Mitmachen im internationalen Orchester der Uni entschlossen. Ihre teure Violine, die ihr ihre Familie zu ihrem 21. Geburtstag geschenkt hatte, war seit jenem Tag der Volljährigkeit ihre treue Begleiterin an alle Orte geblieben, in denen sie ihr unruhiges, aufregendes, aber überwiegend auch einsames Leben verschlagen hatte.

      Diese wertvolle Geige hatte sie wegen ihrer überstürzten Flucht nun zum dritten Mal zurücklassen müssen. Sie fragte sich, ob es noch einmal in ihrem Leben jemanden geben würde, der ihr dieses herrliche Instrument, das auf eine merkwürdig mystische Art stets wie eine treue Freundin gewesen war, erneut zurückbringen würde, so wie es Jeremias Redcliff im Oktober 2011 bei ihrer zweiten Begegnung in Kairo getan hatte.

      Li Hui´s Reise an die Ostküste zog sich nach dem erzwungenen Aufbruch aus der Chinatown von San Francisco nicht nur einige Tage, wie sie zu Beginn gedacht hatte, sondern mehrere Wochen hin. Sie glaubte, auf diese Weise ihre Spuren ausreichend verwischen zu können. Jeremias Redcliff hatte ihr einige Adressen von Exilkubanern in Miami genannt, die als Schmuggler tätig waren und die gegen gute Dollars illegale Transfers mit leistungsfähigen Schnellbooten von und nach der Zuckerinsel durchführten. Darum musste sie unbedingt zu den Keys, um dort drüben an der Ostküste jemanden für ihre geheime Überfahrt zu finden.

      Nachdem sie den Killerkommandos glücklich entkommen war, hatte Li Hui die Chinatown im morgendlichen Menschengewühl unentdeckt hinter sich lassen können und war bis hinunter zur Powell-Street-Station gelangt, ohne dass sie noch irgendwie behelligt worden war. Dann war sie in den dortigen Passagierströmen untergetaucht und mit der BART, der Friscoer U-Bahn, bis hinüber zum Oakland-City-Center gefahren. Vom großen Terminal aus hatte sie noch am gleichen Abend ein Ticket für den Nachtbus der US-Asia-Linie gelöst, mit welchem sie überraschend pünktlich am nächsten Morgen sieben Uhr an der Monterey Park Station, im noch dunstigen Los Angeles, angekommen war.

      Nachdem Li Hui ihr erstes Ziel, die Chinatown von L.A. erreicht hatte, atmete sie trotz des Smogs, der über der Stadt lag, erst einmal tief durch, um anschließend vorsichtig die Lage zu sondieren. Es dauerte nicht lange, die Straße zu finden, in der ihr Großcousin früher gewohnt hatte. Aufmerksam beobachtete sie alle Passanten und Autos in der Umgebung seines unscheinbaren Hauses, bevor sie es betrat.

      Xing-Hu Kuo, ein Vetter ihrer Mutter, lebte mit seiner großen Familie tatsächlich noch in seinem alten chinesischen Fachwerkhaus. Er besaß trotz seines fortgeschrittenen Alters und verschiedener Gebrechen immer noch gute Beziehungen zu einigen Bossen der Latino-, Afro- und Chinesencliquen aus den Ganglands der Riesenstadt. Nachdem sie ihm ihre nahezu aussichtslose Lage geschildert hatte, machte er sich in einer alten Fahrradrikscha, die ein halbwüchsiger Enkel bediente, auf , um einige Besuche zu absolvieren. Für derlei Operationen scheute der Chinese das Telefon, wie der Teufel das Weihwasser.

      Nach ein paar Tagen übergab er Li Hui ein so genanntes Darlehen von zwanzigtausend Dollar und einen neuen Pass der Volksrepublik China mit einem gültigen Einreisevisum. Eines Tages, da sei er sicher, werde Li Hui dieses Darlehen an ihn zurückzahlen. Und wenn sie es nicht könne, werde Gott es ihm vergüten, meinte der alte Mann. Bessere Papiere hätte ihr auch der "Admiral", wie Jeremias Alban Redcliff in seiner Behörde immer genannt worden war, nicht beschaffen können. Aber der war seit zwei Tagen tot, und diese unumstößliche Tatsache traf sie erst hier, nachdem sie die unmittelbarste Gefahr überstanden hatte, mit voller Wucht. Ihre Wut auf Pegasus war grenzenlos. Doch auf ihrer Irrfahrt durch die südlichen Staaten des Imperiums wurde diese irre Rage bald durch ein lang anhaltendes, tieftrauriges Gefühl verdrängt und ihre Vernunft gewann allmählich wieder die Oberhand.

      Natürlich war es höchst riskant gewesen, zu ihrem Großcousin nach L.A. zu fahren, denn es war gut möglich, dass sie von seiner Existenz wussten. Aber sie hatte keine Wahl gehabt. Und bis hierher war auch alles gut gegangen. Sie vertraute darauf, dass sie nichts aus ihm herausbekämen, wenn sie doch noch auf ihn stoßen sollten. Aus purer Vorsicht hatte sie ihm nur die nötigsten Informationen gegeben und er hatte das verstanden. Obwohl sie nun im Besitz neuer Papiere war, die sie als Du Chong, 32 Jahre alt, geboren in Hongkong, auswiesen, getraute sie sich immer noch nicht, einen Flug nach Miami zu buchen.

      Sie hatte beschlossen, sich stattdessen per Bus oder Zug nach Florida durchzuschlagen. Aber die Busgesellschaft, die sie für die erste Etappe nach Flagstaff benutzen wollte, war gerade Pleite gegangen. Und aus einem reinen Bauchgefühl erschien ihr plötzlich auch eine Zugfahrt zu gefährlich. Als sie es dann auf der Interstate 40 per Truckstopp in zwei Tagen, durch die halbe Mojavewüste hindurch, bis in das einsame Nest Kingman geschafft hatte, legte sie an diesem hoch in den San Francisco Peaks gelegenen Ort erst einmal einen Tag Pause ein. Sie nächtigte in einem heruntergekommenen Motel, das ihr der freundliche farbige Trucker empfohlen hatte, der sie die letzten zweihundert Meilen mitgenommen hatte, ohne ihr irgendwie zu nahe zu treten. Es erschien ihr wie ein Wunder, dass sie bis hierher von den Pegasusleuten völlig unbehelligt geblieben war.

      Sie waren nicht allmächtig, das hatte Redcliff immer wieder betont, wenn es darum ging, wie man sie bekämpfen könnte. "Immer gibt es Gegenkräfte und ´nobody is perfect´", hatte der Admiral stets gemeint, wenn sie gemeinsam die Macht der Finanztrusts, den Niedergang der amerikanischen Freiheitsrechte und die Verstrickung ihres Landes in den großen mittelasiatischen Krieg beklagten. Je umfassender eine Überwachung fast aller Bürger mit Hilfe der Elektronik möglich wurde, umso unfähiger waren sie zum Beispiel, die gewonnenen Datenmassen erkennungsdienstlich sinnvoll auszuwerten.

      Gerade in den Kleinstädten des Mittelwestens war die Polizei nur schlecht bezahlt, unzureichend ausgestattet, personell schwach besetzt und mangelhaft qualifiziert. Die amerikanischen Kommunen waren inzwischen zum großen Teil pleite und es gab auf dem Lande kaum noch gute Lehrer und Polizisten. Meist waren Letztere nicht einmal in der Lage, Japaner, Kambodschaner, Vietnamesen und Chinesen wirklich auseinander zu halten. Li Hui hoffte auf den Vorteil, der sich für sie daraus ergab.

      Wenn sie während ihrer Odyssee durch die Staaten hin und wieder mit Ordnungshütern in Kontakt geriet, erzählte sie ihnen die Geschichte von der arbeitslosen Chinesin Du Chong aus Wuhan, die ihre verheiratete Schwester in den USA besuchen wollte. Die Städte, in denen diese Schwester wohnen sollte, wechselten, je nachdem an welchem Stadtort sich Li Hui gerade befand. Die zumeist farbigen Polizistinnen und Polizisten waren überwiegend freundlich zu ihr. Unterbezahlt und ohne höhere Motivation gingen sie höchst selten an ihre veralteten Computer, um verdächtige Daten miteinander abzugleichen.

      Im Gegensatz dazu waren die zahlreichen Geheimdienste des Landes technisch und elektronisch hoch gerüstet, verlangten nach immer neuer und sündhaft teurer Elektronik, konkurrierten untereinander aber höchst kontraproduktiv. Die Möglichkeiten der Pegasus-Leute gingen jedoch über die des offiziellen Apparates weit hinaus. Das wusste Li Hui aus der Zeit ihres Aufenthaltes in der so genannten Ranch in Area 51.

      Sie überlegte, ob sie es wagen konnte, von Flagstaff aus einen Flug nach Miami zu buchen. Schließlich wollte sie so schnell wie möglich heraus aus den Staaten und hinüber auf die Zuckerinsel. Sie hatte den Kubanern Informationen anzubieten, die diese umwerfen würden. Und sie hoffte, dass ihr der legendäre Geheimdienst des schwerkranken früheren Führers Fidel Castro und seines Bruders Raúl im Gegenzug behilflich sein würde, zu ihrem Sohn zu gelangen. Das war das maßgebliche Ziel ihres Lebens und der zentrale Gedanke geworden, der sie nach all den Schicksalsschlägen und all dem Verrat, den sie erdulden musste, noch aufrecht hielt!

      Ihr geschulter Instinkt riet ihr zu größter Vorsicht und hinderte sie daran, zum Clark Memorial Flugfeld hinaus zu fahren und sich einen Flug nach Orlando zu nehmen. Es lag nicht nur an der nächtlichen Katastrophe mit Redcliff, dessen Maschine sie ohne jegliche Rücksicht auf die übrigen Passagiere,


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