Kairos. Christian Friedrich Schultze

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Kairos - Christian Friedrich Schultze


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der Strom, die Inseln und dieses merkwürdige Bauwerk machten sie neugierig und sie beschloss, sich gleich am andern Tag einen Stadtführer zu besorgen, aus dem sie etwas über Vergangenheit und Gegenwart dieser Metropole erfahren konnte. Es würde wohl kein Fehler sein, einige Tage hier abzuwarten und zur prüfen, ob sie ihr nicht doch auf die Spur gekommen waren.

      Die Stadt strebte zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts nach langer Agonie wieder nach oben. FedEx war derzeit der ökonomische Dominator, von dem die meisten Arbeitnehmer der Region abhingen. Amerikas Frachtdienstleister Nummer eins, direkt am "Hub“ Memphis International Airport gelegen, hatte in der wirtschaftlichen Bedeutung die einstigen Baumwoll-, Soja- und Hartholzhändler auf die Plätze verwiesen. Aufmerksam studierte Li Hui ihren Geoguide. So erfuhr sie schließlich auch, dass in dieser Stadt einige ihrer Lieblingsmusiker, wie Elvis, Jerry Lee Lewis, Jonny Cash und B.B. King groß geworden waren.

      Diese Stadt, in der man Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts während der Bürgerrechtskämpfe zwischen Schwarzen und Weißen den Baptistenprediger Martin Luther King erschossen hatten, wurde inzwischen vollkommen von Afroamerikanern und südamerikanischen Einwanderern beherrscht. Asiaten spielten hier kaum eine Rolle. Li Hui fand in dieser Halbmillionenstadt jedoch keine Chinatown, so wie sie es von Frisco und L.A. her kannte.

      Sie war in einem bescheidenen, aber sauberen Motel in der Nähe des Rivermontparkes, knapp oberhalb der südlichen Mississippibrücke, untergekommen. Warum sie dann über eine Woche hier geblieben war, konnte sie sich selbst nicht schlüssig beantworten. Wahrscheinlich war es der Strom gewesen, der sie, wie alle hier, unausweichlich in seinen Bann zog. Diese zentrale Wasserstraße des Imperiums, den die indianischen Ureinwohner "Vater der Gewässer" genannt hatten und der durch zehn Bundesstaaten der Vereinigten Staaten floss, hatte sie von dem Moment an, als sie die Hernando-de-Soto-Brücke überquert hatte, auf beinahe mystische Weise beeindruckt.

      Natürlich hatte sie während dieser nicht geplanten Reisepause Graceland, das Memorial des Rockkönigs Elvis Presley, und das Mississippi-Museum auf Mud Island besucht. Die Delta Queen, ein Schaufelraddampfer aus der Mark-Twain-Zeit, der hier verankert war, hatte sie dann auf die Idee gebracht, für ihre Weiterreise ein solches Riverboat zu benutzen. Sie hoffte, mit dieser gemächlichen Art zu reisen, ihre Spuren weiter verwischen zu können.

      Der Herbst hatte jetzt ernsthaft begonnen, den Sommer zu verdrängen. Die Wälder auf der westlichen, der Arkansasseite, ebenso wie auf den Inseln Mud Island und Hopefield Chute, begannen bereits, ihre bunte herbstliche Färbung anzunehmen. Schon fegte mit dem einsetzenden Nordwestwind erstes schmutziges Laub durch die Straßen. Während Li Hui diese amerikanische Südstaatenmetropole für sich eroberte, nahm ihre Furcht vor Pegasus wieder zu. Besonders in ihren einsamen Nächten in dieser zweitklassigen Pension, erfasste sie tiefer Schmerz und das Gefühl grenzenloser Einsamkeit. Immer deutlicher trat ihr ins Bewusstsein, wie allein sie nun auf dieser Welt war und wie sehr ihr Jeremias Redcliff und Ning Sebastian fehlten. Nur die Hoffnung, den Sohn eines nicht allzu fernen Tages wiederzufinden, der ihr von ihren Pekinger „Freunden“ vor nunmehr fast acht Jahren genommen worden war, nährte noch ihren Überlebenswillen.

      Am dritten Tag ihres Aufenthaltes in Memphis erfuhr Li Hui beim Frühstück in einem schlichten Café am Fluss von der dunkelhäutigen Bedienung, dass der Sunset Limited, eine Sonderzug auf der Eisenbahnstrecke von Los Angeles über New Orleans nach Florida, seit einem halben Jahr wieder in Betrieb war. Durch die Hurrikankatastrophe Katrina im Jahre 2005 waren große Teile der Strecke und auch einige wichtige Eisenbahnbrücken zerstört worden. Der Zug verkehrte nun wie vordem alle drei Tage auf der über viereinhalbtausend Kilometer langen Bahnstrecke von West nach Ost.

      Spontan hatte sie also beschlossen, mit einem der historischen Raddampfer abwärts des Mississippi bis nach New Orleans zu schippern, um von dort ihre Reise per Eisenbahn in Richtung Orlando fortzusetzen. Sie verkaufte ihren Ford und enterte am dritten Tag eines der regelmäßig zwischen den beiden Städten verkehrenden Flussschiffe. Von Memphis bis in die südliche Hafenstadt waren es noch gut fünfhundert Kilometer Wasserweg und Li Hui war überrascht, in welch gewaltigen Bögen der große Strom durch das Land führte.

      Die Pioniere der Mississippiflussschifffahrt hatten zwar bereits im frühen neunzehnten Jahrhundert versucht, den „Vater der Gewässer“ etwas zu bändigen und abschnittsweise zu begradigen. Doch trotz zahlreicher Stauwehre, Buhnen und Nebenkanäle, die von den Generationen inzwischen errichtet worden waren, änderte der Fluss in vielen seiner Teilstücke weiterhin Jahr für Jahr seinen Lauf und plagte die Anrainer zudem mit seinen unregelmäßigen Hochwassern.

      Ihre Vorstellung vom Strom war in Memphis eine ganz andere gewesen, als dieser sich ihr vom Schiff aus darbot. Erst jetzt bekam sie eine Ahnung davon, wie lebendig, gefährlich und eigenständig der Mississippi in Wirklichkeit war. In der Stadt hatte sie einige Male an den Ufern und Kais gesessen, ihn scheinbar träge, breit und gleichmäßig an sich vorbeifließen sehen und dabei den vielfältigen Schiffs- und Bootsverkehr beobachtet. Von seiner Gewalttätigkeit hatte das breite Wasser ihr dabei nichts offenbart. Während der drei Tage, die diese Reise flussabwärts führte, blieb sie abends, nach der stets schnell einsetzenden Dunkelheit, auf einem der Liegestühle in eine Decke gehüllt auf dem Oberdeck liegen und beobachtete das an ihr vorüberziehende Amerika. Es waren auch Stunden intensiver Trauerarbeit, die ihr allmählich ein wenig innere Beruhigung und neuen Lebenswillen gaben.

      Während der Fahrt erzählte der Kapitän der „Piasa“ den Passagieren die unsterblichen Legenden von den frühen Pionieren der Mississippischifffahrt, von den Sezessionskriegen und natürlich von Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Regelmäßig entstand dann auf dem Schaufelraddampfer eine romantische Stimmung, als wäre es der einstige Flusslotse, Journalist und Schriftsteller Mark Twain selber, der ihnen diese Geschichten erzählte. Und in solchen Stunden fragte sich Li Hui, ob es Pegasus und die Reduktionspläne des New Yorker Trusts tatsächlich gab, so entrückt von der übrigen Welt fühlte sie sich auf dem Strom und auf diesem behaglichen Schiff.

      Der komfortable, alten Vorlagen nachgebaute, Dampfer glitt ruhig und gleichmäßig auf dem langen Flussabschnitt zwischen den Bundesstaaten Mississippi und Louisiana dahin. Bei Nacht und Nebel passierten sie die auf dem linken Steilufer liegende geschichtsträchtige Stadt Vicksburg und mit dem Morgengrauen Natchez. Der Kapitän, ein patriotischer Südstaatler, erzählte zum Frühstück die Geschichte von der schrecklichen Belagerung Vicksburgs durch die Unionisten im Bürgerkrieg und die fürchterlichen Qualen, die die eingeschlossen Konföderierten erduldeten, ehe sie sich nach siebenundvierzig Tagen Kampf am 4. Juli 1863 ergaben. Ströme von Blut waren in diesem Bruderkrieg geflossen, ehe der Vater der Gewässer von seiner Mündung bis zu seinen Quellen im Itascasee in Minnesota völlig uneingeschränkt passierbar geworden war und der Aufstieg der nunmehr vereinigten Staaten von Nordamerika beginnen konnte.

      Der Misse sepe, wie ihn die Natives des nördlichen Teils Amerikas immer noch nannten, änderte auch in diesem letzten Viertel seines Daseins kontinuierlich Gestalt, Aussehen, Breite und Fließgeschwindigkeit. Zahllose Passagierdampfer und riesige Verbände von Schubschiffen kreuzten immerwährend ihre Fahrt. All dies und das wechselnde, teils trübe und neblige herbstliche Wetter bescherten der Crew reichlich Arbeit. Doch dann klarte der Himmel plötzlich auf und sie legten am frühen Nachmittag des 28. September 2013 bei warmem Sonnenschein an den Passagierkais von New Orleans an. Bis hierher unbehelligt geblieben und von der Dampferbesatzung freundlich verabschiedet, schulterte Li Hui ihre kleine Reisetasche, verließ den Steamer und wanderte gemächlich in die ihr unbekannte große und berühmte Stadt.

      Am Bahnhof löste sie ohne Verzögerung eine Fahrkarte für den Sunset Limited nach Orlando, Florida. Dort endete der Trail dieser Eisenbahnstrecke. Wie sie von da weiter zu den Keys gelangte, würde sie in der bunten, quirligen Vergnügungsstadt der grünen Halbinsel noch rechtzeitig in Erfahrung bringen. Es herrschte ein dichtes Gedränge auf der New Orleans Amtrak Station, als der Zug in den Bahnhof einfuhr und Li Hui alias Du Chong endlich einsteigen konnte. Pünktlich sechs Uhr am Abend setzte sich der Sunset in Richtung Florida in Bewegung.

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