Familien-Biografik. Rainer Adamaszek

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Familien-Biografik - Rainer Adamaszek


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richtende „Kraft“, deren Wirkung so sehr derjenigen der Gravitation gleicht, auch der Name „semantisches Feld“ an. Was unter diesem Namen zusammengefasst werden könnte, zeigt sich also anhand der Vielfalt und der Wandlungsfähigkeit aller Krankheiten, Syndrome und Symptomatiken. Der Zusammenhang alles Krankhaften mit allem Gesunden wiederum findet sich im Bild des Lebensstroms. Das Symbol des Stroms aber bietet sowohl Analogien zur Physiologie des Oxidationsprozesses, der die Lebensvorgänge aufrecht erhält, als auch zur Physik der Energieumwandlungen, die auf Entropiezunahme und Wärmetod des Universums hinauslaufen.

      Der Name „Feld“ scheint zwar eine in der modernen Physik geläufige Terminologie aufzugreifen, wie sie etwa der „Eichfeldtheorie“ oder der „Super-String-Theorie“ zugrunde liegt. Aber es bleibt sehr fraglich, ob eine solche Analogie für die zu gewinnende neue Begrifflichkeit überhaupt angebracht sein kann. Denn eines scheint von vornherein klar: Die Physik hat zwar infolge der Quantenmechanik auf die Newtonsche Eindeutigkeit und Vorhersagbarkeit mechanischer Kausalverknüpfungen verzichten müssen, darum aber noch nicht überhaupt die Vorstellung unmittelbarer Verknüpfungen zwischen physischen Ereignissen aufgegeben. Den Charakter physikalisch definierter Kausalität im der modernen Physik weiterhin geläufigen Sinne kann einem „semantischen Feld“ schon darum nicht zuerkannt werden, weil die zeitlichen und räumlichen Bedingungen für die Wirkungen hier gänzlich andere sind: Weder gilt für jenes „semantische Feld“ des menschlichen Umgangs, das ich meine, das Prinzip der unmittelbaren zeitlichen Folge erkennbarer Wirkungen, noch gilt das Prinzip der unmittelbaren örtlichen Nähe dieser Wirkungen. Und schließlich gilt für das „semantische Feld“ im Gegensatz zur physikalischen Energie das Prinzip, dass das Fehlende, nicht aber das Vorhandene wirkt. Falls es hierzu in der modernen Physik eine Analogie geben sollte, dann wäre diese sicher nicht im geläufigen Begriff des Vakuums - entsprechend dem „horror vacui“ der Alchemisten -, allenfalls im hypothetischen Higgs-Feld zu suchen. (Genz 1999, 29)

      Wenn man einmal von den neuesten und komplizierteren Entwicklungen innerhalb von Physiologie und Physik absieht und sich erlaubt, einfach die drei unterschiedlichen Wirkungen zu betrachten, die von der Art der Bedürftigkeit der Eltern auf die Art und Weise ausgeht, in der ein Kind seine Eltern zu lieben vermag, dann wird der unermeßliche Unterschied zwischen dem ernsthaft-physikalischen Feldbegriff und dem spielerisch-biografischen Namen „semantischen Feld“ deutlich: Plötzlich eröffnet sich der Blick auf den Zauber der Liebe, die sich über die Beschränkungen der Physik hinwegsetzt, ohne indessen völlig gesetzlos zu wirken:

      1. Nur das „semantische Feld“ erster Ordnung, in dem zum Beispiel das Kind dem Blick seiner Mutter ausgesetzt ist, wirkt zwischen Eltern und Kind synchron in der Nähe , also zeitgleich an demselben Ort. Seine Wirkung ist die direkte, quasi kausale Gestaltung einer gegebenen Hierarchie der Bedürftigkeiten.

      2. Das „semantische Feld“ zweiter Ordnung aber, von dem soeben im Zusammenhang mit den Sheldrakeschen Experimenten die Rede gewesen ist, wirkt bereits ganz anders, nämlich synchron in der Ferne (zeitgleich am anderen Ort) und ist mit kausalen Erklärungen nicht vereinbar.

      3. Das „semantische Feld“ dritter Ordnung aber, um das es nach den in meinem Text beschriebenen Erfahrungen bei symptomatischen Ereignissen eigentlich immer zu gehen scheint, wirkt rhythmisch diachron in der Ferne. Das heißt: Es wirkt sowohl später als auch anderswo, sowohl zeitlich versetzt als auch örtlich entrückt.

      In der distanzierten und distanzierenden Terminologie des „semantischen Feldes“ wäre jetzt festzustellen: Ich habe anhand der beiden obigen kurzen Fallstudien zu zeigen begonnen, dass für die diachrone (zeitlich aufgeschobene) Wirkung des „semantischen Feldes“ dritter Ordnung tatsächlich überprüfbare Gesetzmäßigkeiten gelten. Im folgenden aber werde ich darüber hinaus zeigen, dass diese Gesetzmäßigkeiten nicht nur zeitlich bestimmbare sondern noch weitere Besonderheiten aufweisen, wie sie insbesondere auch von jenen Psychoanalytikern beschrieben werden, die sich mit den mehrgenerationalen Aspekten der Traumaforschung, insbesondere mit den Folgen der Shoa befassen (Wardi, 1995; Kogan, 2000). Meine eigenen Beobachtungen dazu werden im weiteren Text nachzuliefern sein. Darin wird sich dann folgendes zeigen:

      a) Die diachrone Wirkung des „semantischen Feldes“ vollzieht sich im unmittelbaren Umgang zwischen Menschen als synchronisierte und symbolhafte Inszenierung.

      b) Sie vollzieht sich nicht nur in der Nähe eines Anderen, sondern dieser Andere ist ein Anderer, ein anderer als die Eltern nämlich; seine Nähe ist die Nähe eines - im Vergleich zu den Eltern - nächsten Anderen, eines anderen Nächsten : die Nähe eines Dritten. Das heißt: Die Wirkung des „semantischen Feldes“ dritter Ordnung findet statt als unbewusst vereinbarte wechselseitige Bedeutungszuweisung an einem gemeinsamen Ort und in einer gemeinsamen Zeitspanne.

      c) Aber diese zeitliche und räumliche Verbundenheit der an dem unbewussten, wechselseitigen Arrangement Beteiligten darf nicht darüber hinweg täuschen, dass sich die Bedeutung dieses Umgangs von anderswoher speist: Das Arrangement zielt auf szenische Darstellung eines vergangenen Mangels ab und wird verständlich als eine verspätete in Symbolik überführte Erfüllung des (im Vergangenen bzw. von Vergangenen) Unerfüllten.

      d) Das Gesetzmäßige des „semantischen Feldes“ dritter Ordnung, dem symptomatische szenische Darstellungen ihren Verlauf verdanken, besteht also wesentlich darin, dass sich zu berechenbaren Zeiten Dritte, nächste Andere bzw. sekundär Nächste finden, die einander als Stellvertreter von vermissten primär Nächsten auf der Bühne des Lebens dienen, um unbewusst eine vergangene mangelnde Wirkung in Gestalt eines wirksamen Mangels zur Geltung zu bringen.

      Ich widerstehe dem Bedürfnis, hier bereits eine ausführlichere Erläuterung meiner Sätze zu geben und verweise an dieser Stelle nur darauf, dass ich mich in diesem Zusammenhang nicht nur mit den Erfahrungen vieler Therapeuten, nicht zuletzt auch psychoanalytischer Therapeuten, im Einklang sehe, sondern insbesondere mit zwei philosophischen Autoren phänomenologischer Provenienz: mit Emmanuel Lévinas und Bernhard Waldenfels.

      Für Emmanuel Lévinas steht die Thematik jenes „Dritten“ oder „anderen Nächsten“ unter dem Namen „der Andere“ im Zentrum seines gesamten Werkes. (1992 a, 1992 b; 1987) Lévinas untersucht auf begrifflicher Ebene die Unentrinnbarkeit der existenziellen Situation, in der ein jeder Mensch unmittelbar durch die Bedürftigkeit des „Anderen“ angeklagt ist und in der jedes Ich ebendarum prinzipiell im Akkusativ steht und nur als „Sich“ erkennbar wird.

      Bernhard Waldenfels untersucht das Spektrum der für die „Lebenswelt“ charakteristischen Phänomene unter dem Aspekt des Wirkens dramatischer Kraftfelder zwischen den Menschen. Dabei versteht er den Begriff „Feld“ in gestalttheoretischer Tradition folgendermaßen: Es sei „ein innerlich gegliederter, flexibel nach außen abgegrenzter Erfahrungsbereich, dessen Grenz- und Kraftlinien auf wechselnde Standorte innerhalb des Bereichs zulaufen“. Verwandt damit seien „Konzepte wie Szene, Bühne oder Schauplatz (Pollitzer in Anlehnung an Freud), Rahmen (Gofman) oder sozialer Raum (Bourdieu)“. Die Rede von Szenen oder Szenerien, so Waldenfels weiter, habe „den glücklichen Effekt, dass hier das gesamte Umfeld des Geschehens, die Plätze von Spielern..., das Zubehör, die Kulisse und auch die Begrenzung des Schauplatzes mitbezeichnet werden“. Das Entscheidende einer dramaturgischen Handlung, die sich an solchen Plätzen abspielt sei „nicht die Darstellung, in der man sich selber in Szene setzt, sondern die Aufführung des Dramas selber, das nicht geradewegs auf Zuschauer angewiesen ist (Pollitzer).“ (Waldenfels, 1987, 54 ff)

      Was ich versuchsweise als „semantisches Feld“ erster Ordnung bezeichnet habe, ist nichts anderes als eine auf die Beziehung zwischen Eltern und Kind verschobene Chance zur realitätsgerechten Wahrnehmung jener Verantwortlichkeit, die in der Beziehung zwischen den Eltern und den Großeltern nicht wahrgenommen worden ist, das heißt die im Leben von Nachfahren gewahrte Chance auf Wiedereröffnung eines Weges zum freien Strömen der Liebe. Und das „semantische Feld“ zweiter Ordnung, das sich aus dem „semantischen Feld“ erster Ordnung abzuleiten scheint, ist ebenfalls als bloße Verschiebung von bereits Aufgeschobenem zu verstehen. Letztlich muss demnach das „semantische Feld“ dritter Ordnung, das bereits dem synchronen Wirken der Nähe zwischen Eltern und Kind zugrunde liegt, als weitere Bestätigung des im Grunde wirksamen


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