Familien-Biografik. Rainer Adamaszek

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Familien-Biografik - Rainer Adamaszek


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die ihm insbesondere das Erwachsenwerden zum Risiko macht. Denn der Befreiung zur Selbständigkeit des Erwachsenseins fällt der Charakter des Ungehorsams gegenüber den Eltern, des Aufstands gegen sie zu. Dennoch ist das Erwachsenwerden ein Anspruch, der sich seinerseits aus der ebenfalls unabweisbar wirksamen - gleichsam geschwisterlichen - Bindung eines Menschen an die Bedürftigkeit seiner Mitmenschen ableitet. (Lévinas, 1992 a, 50 ff) In dem Widerspruch zwischen der tiefen Bindung durch die „Schuld“ der Vergangenen auf der einen Seite und durch die aktuelle Schuldigkeit in der Gegenwart auf der anderen Seite liegt das Problem der Entwicklung eines Menschen. (Boszormenyi-Nagy & Spark, 1983; U. Franke, 1997, 69) Wo dies Problem unlösbar erscheint, zeigt sich ein Symptom, das auf das Fehlen der Lösung ebenso hinweist, wie es die ungelöste Aufgabe selbst symbolisiert. Alle Symptomatik ist darum Erinnerung an die Verpflichtung zur Wahrnehmung des Unterschieds zwischen der illusionären vergangenen, fremden Verantwortlichkeit einerseits und der wahrhaften, aktuellen, eigenen Verantwortung andererseits.

      3. Das Leben der Nachfahren vollzieht sich also der Form und dem Inhalt nach als eine - zuweilen nur symptomatische - stellvertretende Ausgleichsbewegung in Bezug auf das ungelebte Leben der Vorfahren. Diese - nach dem Prinzip lebendiger Komplementarität - stattfindende Bewegung entspricht der einem jeden Kind angeborenen oder später übertragenen Aufgabe, seinen Eltern zu ersetzen, was diesen Eltern in ihren Leben fehlt. Es geht dabei in erster Linie um das verlorene oder gefährdete Leben anderer Familienmitglieder, in zweiter Linie um die vermisste oder erschöpfliche Verantwortlichkeit dieser Familienmitglieder. Darum sind die wesentlichen Ereignisse, an denen sich das Leben eines Kindes orientiert, zuerst die Zeugung, die Geburt und der Tod jener Personen, sodann aber auch die Zeitpunkte des Zustandekommens oder des Scheiterns der Liebesbindungen zwischen den betreffenden Männern und Frauen in der Familie.

      4. Der Leib eines Menschen fungiert wie ein Uhrwerk, das - innerhalb gewisser Grenzen - zeitgenau die unerlöste Thematik seiner Vorfahren anzeigt. Er tut dies in der Form einer Bezugnahme auf die vergangenen Relationen zwischen seinen Eltern und den Personen, in deren Stellvertretung dieser Mensch selbst den Eltern unmittelbar zu dienen hat. Die leibliche Befindlichkeit orientiert sich in genau bestimmbaren zeitlichen Rhythmen an der unerfüllten Liebe zwischen den Vorgängern des Kindes und seinen Eltern. Im Leben eines Menschen werden also die Themen der Beziehung zwischen den Eltern einerseits und den Vorfahren andererseits, deren unerfüllte Aufgaben dem Kind durch Zeugung und Geburt übertragen werden, nach dem Prinzip der Relationalität wirksam. Das heißt, sie treten - jeweils als lösbar oder unlösbar - in Erscheinung, sobald dieser Mensch so alt ist wie die Eltern waren, als die Erfüllung der Aufgaben versäumt wurde, und wenn er so alt ist wie jene Vorfahren, als sie die Erfüllung der ihnen zufallenden Aufgaben vermissen ließen. Es ist dann, als würde der betreffende Mensch zurückgetragen (lat. „relatus“) in jene Zeit, da sich die bis dato unerfüllte Aufgabe stellte.

      Die Frage nach dem Befinden erweist sich unter den genannten Gesichtspunkten biografischer Analyse als die Frage nach dem Eigentumsrecht am Leibe. Alle Symptomatik bringt zur Geltung, dass die Eigentümlichkeiten des Leibes aus der Kindschaft, also aus der Zugehörigkeit zu den ursprünglich Nächsten dieses Menschen erwachsen. Sie entstammen dem ebenso dunklen wie unauslöschlichen primären Zweck jeder Zeugung: als verlängertes Organ im Dienst der Zeugenden zu fungieren, woran schon der etymologische Bezug erinnern sollte: dass aus „Zeugung“ in erster Linie „Zeug“ entsteht. Und „Zeug“ heißt ursprünglich „Hilfsmittel“. Diese Tatsache wird zwar gewöhnlich weder unter „Kindheit“ noch unter Kindschaft verstanden, ist aber deren Wesen und Wirklichkeit.

      5. Die „Freiheit“ des Kindes ist das Spiel. Spielerisch kann das Kind alle Rollen annehmen, die ihm von den Eltern übertragen werden, ohne darunter ernstlich zu leiden. Der Ernst des Lebens erinnert dann aber daran, dass seine wahre Position nicht die Position derer ist, die es vertritt. Der Ernst des Lebens bestimmt sich sowohl zeitlich und örtlich als auch funktionell durch den Unterschied, der das Kind als Vertreter von den Vertretenen trennt. Dieser Unterschied entspricht zunächst nicht dem zwischen Original und Kopie, sondern er entspricht dem Unterschied zwischen dem ursprünglich Verantwortlichen und dem nachträglich Verurteilten. Die Frage nach dem Leibe bleibt also oberflächlich und unhistorisch, wenn sie nicht darauf gerichtet ist, den Ort und die Zeit der eigentümlichen Verrücktheit eines Kranken zu erkunden, die sich in der Art seiner Funktionsstörungen als Ausdruck einer Ungerechtigkeit des leiblichen Befindens darstellen und die nach der Gerechtigkeit geistiger Zuordnung verlangt.

      6. Kinder sind zwar der Trost ihrer Eltern, aber sie sind allzu oft nur ein kleiner Trost im Vergleich zu dem großen Unglück auf der anderen Seite der Waage. Kranke leiden an der Unerfüllbarkeit von Aufgaben, die ihnen als den Kindern ihrer Eltern unbewusst auferlegt werden. Das Wesen von Kindheit liegt überhaupt in der Kindschaft, d.h. in einer unentrinnbaren Dienstbarkeit gegenüber den trostbedürftigen Eltern, in dem Drang (oder „Trieb“), für die Eltern „gut“ zu sein, der Liebe zwischen den Eltern, der sie ihre Entstehung verdanken, gerecht werden, d.h. den Eltern ersetzen zu müssen, was diesen fehlt. Diese Grundregel aus der Beziehung des Kindes zu seinen Eltern lässt sich auch so formulieren: Ein jedes Kind muss, einer ursprünglichen Abhängigkeit folgend, den Eltern als Stellvertreter für diejenigen Personen dienen, die die Eltern verloren haben, und ausgleichen, was im Verhältnis zwischen den Eltern und diesen Vergangenen unausgeglichen geblieben ist. Dort, wo eine Ausgleichsbewegung symbolisch versucht oder real vollzogen wird, spreche ich vom leiblichen Prinzip der Komplementarität. Die schicksalhaften Ausgleichsbewegungen beschreiben indirekt, d.h. nach Art einer Negativkopie, die Vorgeschichte der Familie und umfassen vor allem den - immer unwillentlichen - Versuch eines Ausgleichs von Fehlendem über Generationen.

      7. Wenn man sich also die Familiengeschichte eines Patienten über Generationen in dieser Weise anschaut, dann sieht man, dass es in allen Familien so etwas gibt wie „unerledigte Geschäfte“ früherer Generationen und dass diese als fortgetragene Verantwortlichkeiten in den nachfolgenden Generationen unbewusst zur Geltung gebracht werden. Von den unerfüllten Aufgaben der Vergangenheit geht gleichsam ein Sog aus, der die Nachfolgenden leibhaftig, gewissermaßen mit Haut und Haaren, in den Bann zieht und ihnen eine ihnen eingeborene Schuldigkeit auferlegt. Dies Schulderbe erweist sich als ganz unabhängig von Bewusstsein und Kenntnissen der betroffenen Nachfolger. In ihr ist mit wissenschaftlicher Präzision aufzufinden, was in der christlichen Dogmatik als „Erbsünde“ oder was im Hinduismus als „Karma“ bezeichnet wird.

      8. Im Leben von Kranken ebenso wie im Leben von Gesunden lässt sich eine Regelhaftigkeit von Stellvertretertum innerhalb von Familien beobachten: Zum Beispiel steht eine erste Tochter immer für ihre beiden Großmütter und setzt ihr Leben für das ein, was die Großmütter den Eltern dieser ersten Tochter nach deren Gefühl schuldig geblieben sind. Und eine zweite Tochter steht für die verlorenen Schwestern der Eltern und für die Partnerin(nen) des Vaters, vor allem für die eigene Mutter. Sie lebt also vor allem das „ungelebte Leben“ ihrer Mutter in Bezug auf den Vater. Für einen ersten Sohn gilt sinngemäß dasselbe wie für die erste Tochter. Und einem zweiten (bzw. dritten) Sohn werden ebenso vornehmlich jene Aufgaben übertragen, die auf der Ebene der Elterngeneration unerfüllt geblieben sind. Ohne hier schon auf die Einzelheiten der empirisch prüfbaren Stellvertretungsordnung eingehen zu können, stelle ich fest: Neben einer Grundordnung des Stellvertretertums gibt es zwar präzise begründbare Sonderfälle, diese ändern an dem allgemeinen Gesetz der Stellvertretung nichts, sondern spezifizieren es nur.

      9. Die Frage „Warum gerade jetzt?“ ist die wichtigste, um das Symptomatische von leidvollen Stellvertretungen zu verstehen. Gänzlich ohne die Frage „Worum gerade hier?“ bliebe der Versuch einer Orientierung an der Ordnung der Zeit aber noch vergeblich. Die Ergänzung durch die Frage nach dem Ort ist eine doppelte. Erstens: Warum tritt die Erkrankung gerade an diesem Kranken in Erscheinung? Und zweitens: Warum zeigt sie sich gerade an diesen Organen dieses Kranken? Damit wird sowohl auf die Position des Kranken unter den Geschwistern als auch auf sein spezifisches Verhältnis zu den Eltern verwiesen. Und damit wird die Frage „Warum gerade so?“ schließlich darauf ausgerichtet, im krankhaften Leibgeschehens die Symbolik eines spezifischen Scheiterns als Komplementarität zu erfassen.

      10. Die biografisch-phänomenologisch


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