Der asiatische Archipel. Ludwig Witzani
Читать онлайн книгу.der kulturellen Verbindung von Indien und Java, dass dieser gerade erst im indischen Orissa vollendete Tempeltyp schon im zehnten Jahrhundert auch in Java Platz griff – und zwar in einer geradezu monumentalen Form, die die meisten zeitgenössischen Tempelbauten im Mutterland in den Schatten stellte. Die Rede ist vom Prambanan, einem der größten Tempel der hinduistischen Welt knapp zwanzig Kilometer östlich von Yogjakarta.
Unwillkürlich blieben wir stehen, als wir den Prambanan zum ersten Mal erblickten. Vor uns erstreckte sich eine riesenhafte Tempelanlage von einhundertfünfzig Metern Seitenläge, auf deren Basis sich drei Sikharas, drei gewaltige Tempeltürme, erhoben. Die Natur, die alles um uns herum zum Blühen brachte, schien ihre Vollendung in den drei steinernen Riesengewächsen zu finden, die vor uns in den Himmel ragten. Über vier Eingänge, die entsprechend der Himmelsrichtungen angeordnet waren, passierten wir die Ringmauern und stießen auf die Überreste von weit über hundert kleinen Tempelbauten, von denen man annahm, dass es sich um Mönchsgräber gehandelt hatte. Über Ihnen, auf einer erhöhten Terrasse, erhoben sich die drei Haupttempel von Brahma, Shiva und Vishnu, von denen der mittlere, der Shivatempel, der Größte war. Folgte man der Schulbuchweisheit der Religionsbücher, dann repräsentierten diese drei Göttergestalten die oberste hinduistischen Dreieinigkeit, die Prinzipien der Schöpfung (Brahma), der Erhaltung (Vishnu) und der Zerstörung (Shiva). Schaute man etwas genauer hin, erkannte man im Hinduismus eine bipolare Hochreligion mit Vishnu und Shiva als herausragenden Götterfiguren, während Brahma eigentlich nur ein abstraktes und selbst in Indien kaum verehrtes Prinzip darstellte. In dieser Doppelreligion repräsentierte Vishnu die etwas vornehmere Göttergestalt, die in ihren unterschiedlichen Inkarnationen die Welt bereits neunmal gerettet hatte, ehe sie in der noch bevorstehenden zehnten Inkarnation die Welt für alle Zeiten erlösen würde. Shiva, der in Indien als Tänzer, Ganj-Raucher, Zerschmetterter und Schöpfer verehrt wird, ist demgegenüber die wildere, menschennähere Figur, die vielleicht gerade deswegen eine noch höhere Verehrung als Vishnu genießt. Dementsprechend war auch in der Tempelanlage vom Prambanan Shiva der mit 46 Metern Höhe größte und herausragendste Tempel gewidmet.
Ebenso wie der Borobodur waren die Ringmauern und Außenwände der Bauwerke mit zahllosen Skulpturen geschmückt – man erkannte Szenen aus dem Ramayana, thronende Götter, Tänzerinnen, Blumenmotive und immer wieder Löwenköpfe, die den Betrachtern aus winzigen Nischen anzublicken schienen. Den drei großen Tempeln des Shiva, Brahma und Vishnu standen drei kleinere gegenüber, die ihren Reittieren gewidmet waren, doch nur der Tempel des Nandis, Shivas Stier, war erhalten geblieben. Rechts und links der Treppe, die zum Eingang des Shivatempels emporführte, befanden sich glockenförmige Gebilde, die buddhistischen Stupen ähnelten, ohne dass man genau wusste, ob sich hier eine Vermischung von Hinduismus und Buddhismus andeutete.
Der Prambanan, benannt nach einem benachbarten Dorf, war nur wenige Jahre nach der Vollendung des Borobodur am Anfang des 10. Jahrhunderts von der hinduistischen Mataram Dynastie errichtet worden. Shivas Schatten lag damals über Java, und er sollte sich als so umfassend erweisen, dass er selbst den Mahayana Buddhismus in sich aufnehmen konnte. Die hinduistische Gegenreformation, der es im 8. und 9. Jahrhundert im indischen Mutterland gelungen war, den Mahayana-Buddhismus fast vollständig in sich aufzusaugen, hatte auch in Java über den Buddhismus obsiegt.
Mit der Vermischung der Religionen ist es ein merkwürdiges Ding. Meist vollzieht sich die Verdrängung der einen durch die andere als ein brachialer, gewalttätiger Prozess. So haben die Christen, als sie das muslimische Cordoba eroberten, ihre Kathedrale mitten in die Mesquita hineingebaut. Die Moslems ihrerseits haben die Kathedrale von Nikosia mit Minaretten für alle sichtbar in eine Moschee verwandelt. In Java war der Übergang gleitend gewesen. Die unzähligen Buddhas und Bodhisattwas des Mahayana Buddhismus und die farbenfrohe Vielfalt des hinduistischen Pantheons waren an den Wänden von Borobodur und Prambanan kaum unterscheidbar. Einen größeren Gegensatz zum Islam konnte man sich kaum vorstellen.
Am Ende blieb dem Prambanan das Schicksal aller javanischen Tempel nicht erspart. Im Laufe der Jahrhunderte wurde er überwuchert und durch Vulkanausbrüche beschädigt. Nach dem Sieg des Islams in Java diente die verfallene Anlage zeitweise als Steinbruch. Erst im 19. Jahrhundert, als überall in der Welt die vormodernen Tempel dem Vergessen entrissen wurden, hatte man damit begonnen, den Prambanan ebenso wie den Borobodur mit enormem Arbeitsaufwand wiederzustellen. Seit 1953, dem Abschluss der Renovierungsarbeiten, erhob sich die prachtvolle Anlage wieder im alten Glanz – in ihrer Harmonie von Natur und Kunst auch in dieser Hinsicht dem Borobodur vergleichbar.
Tod auf Java
Kleiner Versuch über das Heimweh
Am Nachmittag kam Rike ins Guesthouse zurück und heulte. Der Flug nach Jakarta war gecancelt worden, was bedeutete, dass sie auch ihren Langflug von Jakarta nach Frankfurt verpassen würde. Die mit Freude im Herzen erwartete Heimkehr nach Europa würde sich auf unbestimmte Zeit verschieben. Dabei hatte sie sich doch so gefreut, ihren kleinen Bruder wiederzusehen. Den ganzen Nachmittag weinte sie in ihrem Zimmer, dann rief sie über ihr Handy zuhause an und jammerte weiter, bis ihr Guthaben aufgebraucht war. Sie hatte einen regelrechten Heimwehkoller und beruhigte sich erst wieder, als ihr Sam aus seinen Whiskeyvorräten einen kräftigen Schluck einschenkte.
Heimweh unter Travellern ist nichts, worüber man spricht, auch wenn es jeder kennt. Während man mit seinem Fernweh hausieren geht, kehrt man seine Heimwehanfälle gerne unter den Teppich. Heimweh ist etwas für Looser, Luschen, Weicheier, jedenfalls nichts, mit dem man durch Asien reisen sollte. Und wenn es einen denn erwischt, dann soll man die Klappe halten und weiterreisen. Ortsveränderung ist gut gegen Heimweh, wer wüsste das nicht.
Heimwehkranke habe ich auf Reisen schon oft getroffen, auch wenn die Äußerungsformen unterschiedlich waren. Bei einem jungen Inder, den ich an den Quellen des Ganges kennenlernte, zeigte sich das Heimweh in extremen Einsamkeitsgefühlen. Er lief mir den ganzen Tag hinterher, weil er es nicht ertragen konnte, alleine zu sein. Auf den Reisfeldern in Nordluzzon war mir ein Schwede begegnet, der mir stundenlang von seiner Freundin erzählte. Sein Heimweh besaß die Gestalt des Liebeskummers und äußerte sich in aufdringlichem Mitteilungsdrang.
Allen Erscheinungsformen des Heimwehs gemeinsam ist die Sehnsucht nach Rückkehr in die vertraute Umgebung, nach den Menschen, Orten, Speisen und den Gewohnheiten, mit denen man aufgewachsen ist – kurz: nach der „Heimat“ Diese Befindlichkeit macht sich ähnlich wie Angst bemerkbar: sie ist beklemmend und quälend und hat wie jeder Schmerz die Eigenschaft, die Zeit ins Unendliche zu dehnen.
Heimweh als Begriff ist übrigens gar nicht so alt, wie man meinen könnte. Im 17. Jahrhundert wurde der Sachverhalt zum ersten Mal erwähnt und als „Schweizer Krankheit“ beschrieben“, weil man an den schweizer Landsknechten, die über Jahre hinweg im Dienst des Papstes in Rom standen, ein Übermaß an Melancholie und Traurigkeit festgestellt hatte. Diese Beschwerden verschwanden, sobald die Landsknechte in ihre Heimat zurückkehrten. Der Schweizer Arzt Johannes Hofer prägte für diese Sehnsucht nach Heimat im Jahre 1688 den Begriff „Nostalgie“ („Rückkehrschmerz“). Später wurde der Begriff wortgleich ins Italienische und Spanische übernommen beziehungsweise übersetzt: als „Heimweh“ im Deutschen, „homesickness“ im Englischen oder „mal du pays“ im Französischen“.
Nach meiner Erfahrung ist das Heimweh jedoch auch eine hochgradig variable Empfindung, das heißt, Menschen unterscheiden sich ganz erheblich darin, wie anfällig sie für Heimweh sind. Ob die Heimwehanfälligkeit als Persönlichkeitsvariable die Form einer Gaus´schen Normalverteilung hat, weiß ich nicht, mir erscheint es eher so, als gäbe es im Hinblick auf das Heimweh drei deutlich unterscheidbare Gruppen: die Heimweh-Resistenten, die Heimweh-Normalos und die Heimweh-Anfälligen. Ein typischer Heimweh-Resistenter, jedenfalls soweit man das erkennen konnte, war Sam. Er war schon seit Jahren in Asien auf Achse, und nichts deutete darauf hin, dass ihm irgendetwas fehlen würde. Von seiner Sorte hatte ich Dutzende in Indien getroffen, selbstgenügsame menschliche Monaden, die wie Fettaugen auf der Suppe des Lebens schwammen und meist zufrieden damit waren, wohin sie der Zufall trieb. Ehrlich gesagt, waren mir diese Gestalten immer ein Rätsel geblieben. Vielleicht fehlte ihnen ein Gen, vergleichbar einem Farbenblinden, der auch bestimmte Farbnuancen nicht erkennen kann.
Ich