Edgar Wallace - Gesammelte Werke. Edgar Wallace
Читать онлайн книгу.»Ich will nur sagen –«, begann er.
Sie ging zum Kamin, legte einen Finger auf die elektrische Klingel und sah ihn düster und doch zugleich neugierig an, denn sie war gespannt, was er jetzt tun würde.
Mr. Ferdinand Stevington trat auf die Straße hinaus und schlug den Kragen seines Mantels hoch. Es regnete ein wenig, und es wehte ein warmer Westwind.
Und nun stand Ferdie an dem schönen, schmiedeeisernen Zaun, der das Trottoir von dem Vorgarten trennte, und sah mit trüben Augen nach dem hellerleuchteten Fenster, hinter dem sie weilte. Er fühlte sich so unendlich einsam und verlassen, und er war wütend und aufgebracht über all die Leute, die es besser hatten als er, die nicht bei Wind und Wetter von Haus und Hof vertrieben wurden und ihm nicht einmal die Brotkrumen gönnten, die von ihren reichbesetzten Tafeln fielen.
Sein Chauffeur Nobbins brachte den eleganten Rolls-Royce geräuschlos und geschickt an die Bordschwelle des Gehsteigs.
»Nein, ich danke Ihnen, Nobbins; ich werde zu Fuß gehen«, sagte Ferdie mit zitternder Stimme.
»Es regnet aber.«
»Das habe ich noch gar nicht gemerkt«, erwiderte Ferdie und fluchte, als ihm im selben Augenblick ein Regentropfen ins Auge fiel. »Ich werde trotzdem gehen«, beharrte er.
Er trug elegante, schwarze Lackschuhe, und auf der Straße war es naß und schmutzig. Schon oft hatten sich selbst gesunde Leute eine tödliche Krankheit durch nasse Füße zugezogen; der Tod hatte sie hinweggerafft, und an ihrer Bahre knieten dann Frauen mit rotgeweinten Augen. Aber auch die bitterste Klage konnte Tote nicht auferwecken. Ferdie biß die Zähne zusammen und ging am Rinnstein entlang.
Die Kapelle der Heilsarmee an der Ecke der Duke Street spielte den schönen Choral: »Christen, erwacht!« Das war allerdings etwas überflüssig, denn die meisten Christen in der Duke Street waren schon seit Stunden wach. Viele von ihnen tanzten nach den Klängen des Radios, und die Christen, die nach einem guten Abendessen und nach einem oder mehreren Likören in den Klubsesseln eingeschlafen waren, durften eigentlich nur vom Oberkellner oder vom Klubdiener aufgeweckt werden.
Aber in dieser feierlichen Stimmung zögerten selbst die Oberkellner, dieser Aufforderung der Heilsarmee nachzukommen.
Mit düsterem Ausdruck ging Ferdie weiter, und als die schöne Adjutantin der Heilsarmee ihm zaghaft die Sammelbüchse hinhielt, zuckte er nur wild die Schultern. Aber nach ein paar Schritten bereute er sein Verhalten, drehte sich um und gab reichlich. Dann kam ihm plötzlich ein Gedanke.
»Ach, würden Sie die Liebenswürdigkeit haben, mit Ihrer Kapelle nach dem Haus Nr. 74 zu gehen? Spielen Sie: ›Wo wandert mein Herzliebster heut nacht.‹ Ist das möglich?«
Sie sprach mit dem Trompeter, und die Sache wurde sofort arrangiert.
Mit leichterem Herzen setzte Ferdie seinen Weg fort. Seine Wohnung in der Devonshire Street kam ihm einsam und verlassen vor. Auf dem Tisch lag ein kleines Päckchen, das in Silberpapier eingepackt und mit einem blauen Seidenband zugebunden war. Als er es sah, sank seine Stimmung sofort wieder unter Null. Auf dem Kamin stand die Fotografie eines schönen Mädchens, aber er drehte ihr ostentativ den Rücken zu.
»Nobbins ist hier.«
Der Diener wagte bescheiden, diese Äußerung zu tun.
»So, er ist hier? Dann lassen sie ihn nach Hause gehen und in den Schoß seiner Familie zurückkehren. Es ist heute Weihnachten – gehen Sie auch zu Ihrer Frau und zu Ihren Kindern!«
»Ich bin nicht verheiratet.«
Ferdie wandte sich müde nach ihm um.
»Haben Sie keine Familie?«
Stephen war ein sehr ordentlicher, frommer Mann, und sein höchster Ehrgeiz bestand darin, eines guten Tages einen Posten bei der Inneren Mission zu erhalten. Er hatte doch seinem Herrn gesagt, daß er nicht verheiratet war. Wie konnte er da Kinder haben! Er sah ihn vorwurfsvoll an. »Wie könnte ich denn eine Familie haben?« sagte er sanft, aber doch entrüstet.
Ferdie setzte sich tief in einen Sessel.
»Stephen, was haben Sie morgen vor?«
Der Diener räusperte sich.
»Wenn Sie es gestatten, wollte ich gern den Morgengottesdienst im Heim für Findelkinder mitmachen. Am Nachmittag gehe ich mit verschiedenen Freunden zum Marylebone-Arbeitshaus und spiele dort den armen Leuten ein wenig vor. Ich bin nämlich sehr musikalisch.«
»Ach, spielen Sie Harfe?«
»Nein, Saxophon. Das ist recht schwierig.«
»Dann gehen Sie hin und spielen Sie. Tragen Sie etwas von der Festfreude auch zu diesen armen, vereinsamten Menschen.«
Plötzlich richtete sich Ferdie auf.
»Sagen Sie, können Sie auch das Lied spielen: ›Wo wandert mein Herzallerliebster heut nacht‹?«
»Nein.«
Ferdie zeigte nach der Tür.
Stephen verneigte sich und ging hinaus.
Morgen war Weihnachtsfeiertag. Alle Einladungen bis auf eine hatte er abgelehnt. Und diese eine ... Er lachte wild auf, so laut, daß man es draußen in der Dienstbotenstube hören konnte, wo Stephen und Nobbins Zigarettenbilder austauschten.
»Man muß an einem Weihnachtsabend vieles entschuldigen, Nobbins«, sagte Stephen, während christliche Nächstenliebe aus seinen Augen leuchtete. Sie waren beide Mitglieder einer frommen Gemeinschaft, aber Stephen war der frömmere von beiden. »Sagen Sie, kommen Sie morgen in das Arbeitshaus von St. Marylebone?«
»Bin ich etwa auch besoffen?« fragte der Chauffeur vorwurfsvoll.
Aber Ferdie war durchaus nicht besoffen, er war nicht einmal angeheitert. Er litt nur an gebrochenem Herzen. Es war vollständig zu Ende mit ihm. Sein Leben war zerstört, was sollte er noch damit anfangen? Ein Kind aus dem Feuer retten, wobei er sein Leben aufs Spiel setzte? Das Feuer mußte aber gerade in dem Haus ausbrechen, das Nr. 74 gegenüberlag. Rasieren brauchte er sich heute auch nicht mehr. Dann würde er einen Vollbart bekommen, zur See gehen, in weite Ferne, und später zurückkehren, schwarzbraun gebrannt von der Tropensonne. Ungewohnt des Verkehrs in der Großstadt würde er von einem Auto überfahren werden, nämlich von Lettys Zweisitzer. Und dann würden sie ihn aufheben und sterbend in das Haus Nr. 74 tragen. Wie würde Letty dann weinen! Er hörte schon ihren schrillen Aufschrei: »Ach, das ist ja Ferdie – was habe ich getan!«
Und wenn er dann als Seemann zurückkam, würde er immer tiefer und tiefer sinken, das heißt, sein in guten Aktien angelegtes Vermögen würde immer noch zehn bis zwölf Prozent bringen, das wurde nicht weiter davon betroffen. Davon konnte er ja im Augenblick absehen. Also, er würde immer tiefer und tiefer sinken, bis er schließlich im Armenhaus landete. Aber Stephen sank dann auch immer tiefer, bis er schließlich im Armenhaus im Zimmer nebenan wohnte! Dann konnte er ihm wenigstens morgens den Tee bringen und das Rasierwasser – nein, rasieren brauchte er sich ja nicht mehr, und dann würde er tagsüber auf den Straßen umherschleichen und Schnürsenkel und Streichhölzer verkaufen. Und eines Tages würde Letty des Weges kommen, auch etwas von ihm kaufen und ihn bestürzt ansehen. Bleich würde sie werden und mit ersterbender Stimme ausrufen: »Ach, Ferdie, habe ich das getan? Oh, welches Unrecht von mir!«
Ferdie klingelte.
»Bringen Sie mir ein Glas Milch«, sagte er, als Stephen kam.
»Warm oder kalt?«
Ferdie zuckte die Schultern.
»Das ist mir ganz gleich«, sagte er und stöhnte. Er war in einer gefährlichen Stimmung.
Und heute war Heiliger Abend! Er erinnerte sich an eine Weihnachtsgeschichte, die er einmal gelesen hatte. Irgend jemand hatte sie geschrieben – ach, Dickens hieß er. Ferdie nickte. Er erinnerte sich genau, daß es Dickens war. Welch ein fabelhaftes Gedächtnis für Namen hatte er doch! Die Geschichte handelte von einem alten Filz, einem Menschenfeind,