Spiel des Zufalls. Joseph Conrad

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Spiel des Zufalls - Joseph Conrad


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er nicht größer als dreieinhalb zu vier Meter, und da ich irgendwie darauf gefaßt war, das Heuerkontor groß, düster, kellerartig zu finden, wie ich es von ein oder zwei früheren Besuchen in schattenhafter Erinnerung hatte, so war ich außerordentlich erstaunt. Ein Gasarm hing von der Mitte der Zimmerdecke über einen dunklen, schäbigen Schreibtisch, der mit einer Menge vergilbter, staubiger Akten bedeckt war. Unter der Flamme des einzigen Gasbrenners, der den Raum mit einer Lichtfülle überflutete, saß ein unscheinbarer, kleiner Mann, eifrig schreibend, die Nase fast auf dem Tisch. Sein Kopf war völlig kahl und von annähernd derselben Farbe wie die Papiere. Auch er machte einen ziemlich staubigen Eindruck.

      Ich habe nicht festgestellt, ob er Spinngewebe an sich hatte, aber es hätte mich nicht gewundert, wenn welche da gewesen wären, denn der ganze Mann machte den Eindruck, als sei er seit Jahren in diesem Loche eingekerkert gewesen. Die Art, in der er seine Feder sinken ließ und nach mir schielte, war mir sehr unangenehm. Sein Kerker war heiß und stickig, er roch nach Gas und Pilzen und schien mindestens vierzig Meter unter der Erde zu liegen. Massige Papierstöße füllten alle Ecken des Zimmers an, fast bis zur Decke hinauf. Und als mir plötzlich der Gedanke kam, daß dies die Geschäftsräume des Seeamts waren und daß dieser Mensch irgendwie mit Schiffen, Matrosen und mit der See zu tun hatte, da raubte mir das Erstaunen den Atem. Man konnte sich nicht vorstellen, warum das Seeamt wohl dieses kahlköpfige Geschöpf hier unten fronen ließ. Aus irgendwelchem Grunde empfand ich Bedauern und Beschämung darüber, daß ich ihn in seiner Gefangenschaft aufgespürt hatte. Ich erkundigte mich sanft und bekümmert: ›Das Heuerkontor, bitte!‹

      Er krächzte mich mit einer verächtlichen, piepsigen Stimme an, daß ich zusammenfuhr: ›Nicht hier. Versuchen Sie den Gang auf der anderen Seite. Straßenseite. Dies ist die Dockseite. Sie haben sich verirrt ...‹

      Er sprach in einem so wegwerfenden Ton, daß ich glaubte, er würde seinen Worten etwa ein ›Sie Idiot‹ folgen lassen, und vielleicht war das wirklich seine Absicht. Aber dann endigte er kurz mit: ›Schließen Sie die Tür ruhig hinter sich!‹

      Und Sie können mir glauben, ich habe sie ruhig hinter mir geschlossen. Ruhig und rasch. Der ungebrochene Geist des Burschen machte mir Eindruck. Ich denke manchmal, ob er es wohl fertiggebracht hat, sich Freiheit und eine Pension zu erschreiben, oder ob er aus seinem gaserleuchteten Grab geradeswegs in jenes andere, dunkle gehen mußte, wo niemand würde eindringen wollen. Es war mir eine Freude, zu sehen, daß er noch soviel Schneid hatte, aber ich selbst war nicht im geringsten getröstet. Ich bedachte, daß, wenn Herr Powell ein ähnliches Temperament an den Tag legte ... Doch nahm ich mir keine Zeit, diesen Gedanken weiter zu verfolgen, und eilte über den Platz am Fuße der Treppe in den Gang, in den man mich gewiesen hatte. Ich versuchte gleich die erste Türe, zu der ich kam, ohne jedes Zögern, denn vom oberen Gang drang laut eine erstaunte, fast empörte Stimme zu mir, die wissen wollte, was ich eigentlich da unten triebe: ›Wissen Sie denn nicht, daß dort der Zutritt verboten ist?‹ donnerte es. Dem Weiteren entzog ich mich hastig, indem ich durch eine Tür trat, die die Aufschrift ›Privat‹ trug. Ich befand mich in einem schmalen, etwa zwei Meter breiten Raum, den eine lange, niedrige Schalterwand von einem geräumigen Zimmer mit gewölbter Decke abtrennte. Das Tageslicht drang nur durch ein vergittertes Fenster ein und durch eine Glastür am anderen Ende des Raumes. Das erste, was ich unmittelbar vor mir sah, waren drei ältere Männer, die eine Art Spiel zu treiben schienen, rund um einen anderen Kerl herum, mit langem, dünnem Hals und hängenden Schultern; dieser stand an einem Pult und schrieb unaufhörlich auf einen großen Bogen, ohne den Dreien anders als durch ein Lächeln Beachtung zu schenken. Sobald ich eintrat, wurden sie alle sehr förmlich, und ich hörte, wie der eine murmelte: ›Nanu, was haben wir denn da?‹

      ›Ich möchte Herrn Powell sprechen, bitte‹, sagte ich höflich, aber bestimmt. Nichts sollte mich jetzt noch abschrecken können. Dies war ohne Zweifel das Heuerkontor. Es war nach drei Uhr nachmittags, und der Betrieb schien für den Tag beendigt zu sein. Der langhalsige Kerl fuhr unbeirrt in seiner Schreiberei fort. Ich bemerkte, daß er nun nicht mehr lächelte. Die drei anderen steckten am anderen Ende des Zimmers die Köpfe zusammen, wo ein fünfter Mann ihren Sprüngen von einem hohen Stuhle aus zugesehen hatte. Auf ihn ging ich zu, mutig, als sei er der Teufel selbst. Er hatte den einen Fuß auf dem Querholz seines Stuhles aufgestützt und schwang unaufhörlich den anderen, der ein gutes Stück von dem Steinboden entfernt war, hin und her. Er hatte seine Weste oben aufgeknöpft und seinen hohen Hut weit auf den Hinterkopf zurückgeschoben. Er hatte ein rundliches, runzelloses Gesicht und so lebhafte Augen, daß sein grauer Bart wie eine Verkleidung wirkte. Sie sagten eben, er sähe Sokrates ähnlich, nicht wahr? Ich weiß nicht recht. Dieser Sokrates war, glaube ich, ein weiser Mann?«

      »Das war er,« stimmte Marlow bei, »und ein wahrer Freund der Jugend. Er predigte ihr in einer besonders aufreizenden Weise. Das war so seine Art.«

      »Dann ziehe ich Powell unbedingt vor«, erklärte sofort unser neuer Bekannter. »Er hat mir in keiner Weise gepredigt, alles eher. Er sagte auf mein schüchternes Gemurmel hin ganz freundlich: ›Guten Tag‹. Und dann, mich musternd: ›Ich glaube nicht, daß ich Sie kenne, -- oder?‹

      ›Nein‹, sagte ich, und schon rutschte mir das Herz in die Stiefel hinunter, gerade in dem Augenblick, wo ich alle meine Kaltblütigkeit nötig gehabt hätte. Es gibt nichts Jämmerlicheres in der Welt als Unverschämtheit, die nicht vollendet durchgeführt wird. Aus Angst, schüchtern zu erscheinen, legte ich so selbstverständlich los, daß ich vor mir selbst förmlich erschrak. Er hörte eine Weile zu, sah mir erstaunt und neugierig ins Gesicht und hob dann die Hand. Ich sage Ihnen, ich war herzlich froh, abbrechen zu können.

      ›Na, Sie sind mir ja ein kalter Junge,‹ sagte er, ›Sie und Ihr Freund! Er saß mir im Genick und kam zwei Wochen lang täglich, bis ein mir befreundeter Kapitän so gut war, ihn anzunehmen. Und kaum ist er versorgt, da schickt er Sie her! Euch Anfängern scheint es egal zu sein, wem ihr die Suppe versalzt!‹

      Nun war es an mir, ihn voll Neugierde und Staunen anzusehen. Er hatte nicht sehr laut gesprochen, jetzt aber dämpfte er seine Stimme noch mehr. ›Wissen Sie nicht, daß es gegen das Gesetz ist?‹

      Ich fragte mich, wo er eigentlich hinaus wollte, als ich mich plötzlich erinnerte, daß es gesetzlich verboten war, einem Seemann eine Heuer zu verschaffen. Diese Klausel richtete sich natürlich gegen den Schwindel, den die Matrosenmakler betrieben. Es war mir nicht in den Sinn gekommen, daß diese Regel für alle galt, ohne Rücksicht auf die Gründe, denn ich nahm damals eben noch an, daß die Leute an Land ihre Arbeit mit Sorgfalt und Bedacht tun.

      Ich war förmlich zerschmettert bei dem Gedanken; aber Herr Powell machte mir sehr bald klar, daß eine Parlamentsakte an und für sich gar keinen Sinn hat. Sie hat nur den Sinn, den man hineinlegt, und der ist mitunter sehr gering. Er habe gar nichts dagegen, hie und da einem jungen Manne zu einem Schiff zu verhelfen, sagte er, aber wenn wir nun so täglich daherkämen, würde es sich bald herumsprechen, daß er es gegen Bezahlung täte.

      Das wäre dann recht nett! Der erste Heuerbas im Hafen von London polizeilich vorgeführt und zu fünfzig Pfund Strafe verurteilt ..! ›Ich muß noch vier Jahre dienen,‹ sagte er, ›bevor ich die volle Pension bekomme. Man könnte die Sache sehr zu meinen Ungunsten auslegen, darüber besteht gar kein Zweifel‹, sagte er. Und dabei hielt er fortwährend das eine Knie hochgezogen, schlenkerte mit dem anderen Bein, wie ein Junge auf dem Gartenzaun, und sah mir mit seinen glänzenden Augen scharf ins Gesicht. Ich war sehr bestürzt, sage ich Ihnen. Die bloße Andeutung, daß irgend jemand es wagen würde, ihn anzuzeigen, machte mich ganz krank.

      ›Aber nein, so gemein wird doch niemand sein‹, stammelte ich entsetzt. Ich nahm ihm die bloße Annahme einer solchen Möglichkeit fast übel. ›Niemand?‹ sagte er leise vor sich hin. ›Der erstbeste, vielleicht einer der Amtsdiener. Ich habe mich zum Senior dieser Kanzlei hochgearbeitet, und wir sind alle die besten Freunde. Aber glauben Sie nicht, daß mein Kollege dort am nächsten Pult es begrüßen würde, wenn er vier Jahre vor der bestimmten Zeit auf diesen Platz am Fenster vorrücken könnte? Oder auch nur ein Jahr früher, vielleicht? Es ist einfach menschlich!‹

      Ich konnte nicht umhin, mich nach den anderen umzusehen. Die drei alten Knaben, die bei meinem Eintritt gefaulenzt hatten, unterhielten sich


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