Homer: Die Odyssee. Ulrich Karger
Читать онлайн книгу.aber dann doch, wie die Olympier selbst, von den Göttinnen des Schicksals bestimmt zu sein. Eine Sage wie die Odyssee ist nicht nur von daher um einiges vielschichtiger bzw. doppelbödiger als ein Grimm’sches Märchen.
Odysseus ist zudem weder ein rein „guter“ noch ein rein „böser“ König. Sein Eigensinn bringt Freunde und Schutzbefohlene in höchste Nöte. Andererseits setzt er auch alles daran, ihnen zu helfen, wenn sie sich selbst in Gefahr gebracht haben. Am Ende aber kann er nur sich selber retten – und dies weniger infolge seiner kriegerischen Fertigkeiten, als dank seiner ausdauernden Zuversicht und seiner Gewitztheit. Er symbolisiert somit den Übergang vom lediglich auf die Körperkraft vertrauenden, zumeist kurzsichtigen Helden zu einem Mann, der auch sein Denken und seine Phantasie einzusetzen weiß. Seine Schutzgottheit wird nicht von ungefähr als Kopfgeburt eines männlichen Gottes mit weiblichen Geschlecht charakterisiert: Pallas Athene, die Göttin der Weisheit.
Zu Original und „klassischen“ Übersetzungen der Odyssee: Der Originaltext ist die Niederschrift von 24 Gesängen, die wahrscheinlich vor rund 2800 Jahren erstmals zur Harfe bzw. zur Kithara vorgetragen worden sind. Das Versmaß des Hexameters lag den Menschen damals „im Blut“. Sein Rhythmus musste nicht erklärt werden, genauso wenig wie man heutzutage einem Jugendlichen den Rap erklären muss. Im Gegensatz zu heute konnten allerdings nur sehr wenige der einstigen Zuhörer und Zuhörerinnen lesen. Damit sie nicht den Erzählfaden verloren, bauten die Sänger in ihren Vortrag eine Vielzahl von Wiederholungen ein. Wer den eigentümlichen Rhythmus der Hexameter schätzt und auch gegen Wiederholungen nichts einzuwenden hat, kennt und liebt sicher auch die originalgetreue, vorzügliche Übersetzung von Voß, wenn er oder sie sich nicht sogar aufs Altgriechische versteht und die Odyssee gleich in der Sprache Homers zu lesen vermag.
Oder man liest die Odyssee in der 1838 bis 1840 geschaffenen und seither sprachlich immer wieder angepassten Sammlung „Klassische Sagen des Altertums“ von Gustav Schwab (1792-1850) nach: Keine inhaltlichen Wiederholungen und keine Hexameter, nur ... Gustav Schwab gibt nicht allein Homers Odyssee wieder, sondern baute auch noch die Erzählstränge anderer Autoren ein. Und er verfasste seine Nacherzählungen „für die Jugend“ zu Zeiten des Biedermeier. So geschmeidig die Ergänzungen auch eingefügt sind, so schwer fällt dagegen ins Gewicht, dass Schwab „seine“ Odyssee inhaltlich „geglättet“ hat. Vor allem die etwas delikateren Stellen wie den Dialog zwischen Hermes und Kalypso „entschärfte“ er ebenso wie die durchaus sinnliche Beziehung zwischen Odysseus und Kalypso. Solche gut gemeinten Verfälschungen sind heute, gerade auch angesichts eines jugendlichen Leserkreises, nicht mehr zu begründen. Und der aus heutiger Sicht leicht schwülstig wirkende Sprachstil hebt auf einen Pathos ab, der nach meinem Dafürhalten auch der Lakonie Homers nicht wirklich gerecht wird.
Eigene Vorgaben für diese Nacherzählung: Mein Ziel war es nun, die Odyssee vollständig und in „schlanker“ Prosa nachzuerzählen – immer mit der Vorgabe, die Auffassung und den Aufbau Homers nicht allzu sehr anzutasten. Das enthebt mich auch einer Konkurrenz mit Wolfgang Schadewaldt, der seine herausragende Übersetzung von 1958 bzw. 1965 zwar „von dem regulären Hexameter befreite“, aber mit seiner „gedankenrhythmischen Prosaform“ nicht auf den „poetischen Grundgehalt Homers“ verzichten wollte.
Aus den 24 lyrischen Gesängen habe ich also 24 Prosakapitel samt jeweils ihnen vorangestellten Überschriften entwickelt. Das Original hat keine. Voß und auch Schadewaldt leiteten die Gesänge aber immerhin mit kurzen Zusammenfassungen ein, so dass meine als Orientierungshilfen gedachten Überschriften eine gar nicht so große Eigenmächtigkeit darstellen.
Die Namen sind in der Regel der originalen Lautierung entlehnt, allerdings mit einigen Ausnahmen: So heißt es z.B. bei mir, wie auch schon bei Schwab, anstelle von Telemachos „Telemach“. Telemach ist in der Odyssee im Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen, und die Endung ‘os’ gibt m.E. seinem Namen im Deutschen zuviel Gewicht. (Außerdem ließ mich die Bildung des Genitivs bei den vielen ‘s’-Endungen der griechischen Namen ohnehin oft genug in Verzweiflung geraten.). Den griechischen Laut „Ai“ ersetzte ich nur bei traditionell eingedeutschten Orts- bzw. Landesbezeichnungen wie Ägypten durch ein „Ä“.
Das gemeinsame Essen, das Opfern für die Götter und ähnliches habe ich schon allein wegen des sonst fehlenden Lokalkolorits nicht weggekürzt, aber im Gegensatz zum Original eben nur einmal ausführlich im Text beschrieben belassen. Ähnliches gilt für die Anspielungen auf andere Sagenkreise, nicht zuletzt für die Vorgeschichte der Odyssee: Die Ilias.
Editorische Hinweise:
Neben den bekannten Vorteilen von E-Books gibt es leider auch einige Einschränkungen:
• In den Printausgaben meiner Nacherzählung sind auch drei Fußnoten, die in dieser E-Book-Ausgabe nur bedingt nachvollzogen werden können. Sie sind im Vorwort s.o. gleich unter das Zitat und im 1. Kapitel ans Kapitelende gesetzt worden.
• In den Printausgaben sind zudem die Absätze durchgehend im Blocksatz, d.h. zugleich links- wie rechtsbündig, und Überschriften mittig bzw. zentriert gesetzt. Dieser Vorgabe unterliegt auch mein Manuskript für dieses E-Book. Doch der Ersteller neobooks wandelt mein komplettes Manuskript - Absätze wie Überschriften - automatisch in einen linksbündigen Satz um, mit dem Argument, dass die Leser auf ihren Readern unterschiedliche Schriftgrößen vorgeben und so unschöne Lücken entstehen könnten. Neuere Reader sollen zudem über entsprechende Einstellmöglichkeiten verfügen, ggf. auch den Blocksatz für einen Text nachträglich vorzugeben.
• Das Stichwortregister im Anhang musste in ein Stichwortverzeichnis für handelnde Personen, Orte und andere Begriffe umgewandelt werden, das zu den Stichworten zwar noch die gleichen zusammenfassenden Erinnerungshilfen bietet, aber eben keine Angaben mehr zu Seitenzahlen machen kann, wo diese Begriffe im Buch auftauchen.
Seit das homerische Gelächter zum ersten Mal erschallte, sind viele hundert Jahre vergangen. Neues bedarf der Kenntnis des Alten – ich wünsche dazu viel Vergnügen!
Ulrich Karger, Berlin 2015
1 Ratschluss der Götter
Ob ein Menschenleben alterssatt oder durch einen Schwertstreich in der Blüte seiner Jugend beendet wurde, unterlag allein den Launen der drei Moiren[1]. Diese Göttinnen zogen Fäden und verwebten sie zu Mustern, die keinem Gesetz, schon gar nicht dem Gesetz der Schönheit unterworfen waren. Aber gemäß den Linien ihres Musters kreuzten sich die Lebenswege, verbanden und umschlangen sich oder strebten auseinander. Mal waren die Fäden lang, wurden zu ihrem Ende hin immer dünner, bis sie schließlich nur noch in einer Faser endeten, oder sie waren kurz, der Faden schien gerade an seiner kräftigen Mitte gerissen zu sein. Da half kein Fluchen und kein Bitten und Betteln, dem Willen der Moiren konnte sich niemand entziehen.
Fast zwanzig Jahre war es her, dass Odysseus in den Krieg gegen Troja gezogen war. Fast zehn Jahre war es her, dass Odysseus mit einer List diesen Krieg siegreich beendet hatte.
Alle Helden, die dem Schlachtfeld oder dem Sturm auf der Heimfahrt entkommen waren, lebten, glücklich oder unglücklich, bereits geraume Zeit wieder auf ihren eigenen Gütern.
Odysseus jedoch, der Sohn des Laërtes[2] war noch immer nicht in seinem Königreich Ithaka. Die göttliche Nymphe Kalypso hielt ihn seit Jahren auf ihrer Insel gefangen. Sie umschmeichelte Odysseus, versprach ihm sogar ewige Jugend und Unsterblichkeit, damit er Ithaka und seine geliebte Frau Penelope vergesse. Doch das alles lockte ihn nicht mehr. Odysseus wollte endlich in die heimatlichen Gefilde zurückkehren, auch wenn seine Frau und sein Kind ihn vielleicht längst tot glaubten.
Alle Götter und Göttinnen im himmlischen Olymp bedauerten Odysseus. Alle, bis auf Poseidon.
Denn es war der Meeresgott, der seiner Wut freien Lauf gelassen und Odysseus auf seinen Wassern hin und her geschleudert hatte. Dass Odysseus überhaupt noch lebte, war ganz gewiss nicht der Milde dieses Gottes zu verdanken. Doch die Moiren, die Göttinnen des Schicksals, hatten es anders bestimmt. Sie waren es auch, die Poseidons Augenmerk jetzt auf die Küste der sanften Aithiopen lenkten. Würde doch kein olympischer Gott ohne Not ein