Homer: Die Odyssee. Ulrich Karger
Читать онлайн книгу.Jammern und Schluchzen ein lautloses Weinen geworden war, raffte sich Menelaos auf und rief die Bediensteten herbei. Sie gossen ihnen Wasser über die Hände, damit sie sich die entzündeten Augenlider benetzen konnten. Das sollte zugleich das Zeichen sein, das Nachtmahl zu beenden und sich schlafen zu legen. Die Zeus-Tochter Helena jedoch wollte dieses Fest nicht so traurig beendet sehen.
Den Abschluss eines Festes bildeten üblicherweise Geschichten. Denn Geschichten, gesungen oder erzählt, bereiteten Helena wie allen anderen Achaiern das größte Vergnügen. Deshalb ließ sie noch einmal jedem Wein reichen, in den sie ein starkes Kraut gerührt hatte. Dieses Kraut hatte die Eigenschaft, einen jeden Schmerz vergessen zu lassen. Dann warf Helena die Angel aus, indem sie selber eine Geschichte zum Besten gab. Geschickt erinnerte sie dabei an eine Begebenheit mit Odysseus: Einst brachte er sich selbst eine Verwundung bei, legte einen alten Lumpen um und war so als Bettler verkleidet unter die feindlichen Trojaner gehumpelt. Zwischen den Schiffen der Achaier wäre er sofort aufgefallen, aber in Troja würdigte Odysseus keiner auch nur eines Blickes. Nur Helena hatte ihn sofort erkannt und wollte ihn nach Menelaos und den anderen befragen. Aber er gab erst Antwort, als sie ihn bei sich eingelassen, ihn gebadet und mit neuen Kleidern versehen hatte. Außerdem musste sie vorher geloben, ihn nicht eher zu verraten, als bis er wieder hinter seinen eigenen Reihen angelangt wäre. Dann erst erzählte er ihr von dem Plan, wie Troja zu zerstören und sie zu befreien sei. Im Gegenzug vermochte sie ihm wertvolle Hinweise zur Ausführung seines Planes zu geben. Auf dem Rückweg erstach Odysseus noch manchen der Trojaner mit seinem Schwert, so dass später großes Wehgeschrei unter den trojanischen Frauen war. Sie selbst hatte darüber nur gelacht, denn längst erschien Helena die Verblendung, mit der sie von der Liebesgöttin Aphrodite umgarnt worden war, als ein Fluch. Sie wollte nur noch nach Hause zu ihrer Tochter und zu dem Mann, der ja niemandem nachstand, weder im Aussehen noch in seinem Denken.
Menelaos knüpfte gutwillig bei ihrer Erzählung an und fuhr mit einem Beispiel für Odysseus' Klugheit fort. Als sich nämlich die auserwählten Krieger alle in einem hölzernen Pferd versteckt hatten, war Helena wohl doch noch einmal von einer Trojaner freundlichen Gottheit angestiftet worden, beinah den ganzen Plan aufzudecken. Dreimal hatte sie den gefüllten Bauch des Pferdes umschritten und dabei mit verstellter Stimme die tapfersten Krieger mit Namen gerufen. Einige, auch er selbst, wären beinahe darauf hereingefallen, hätte Odysseus sie nicht alle zur Ruhe ermahnt. Einem musste Odysseus sogar den Mund zuhalten, so sehr hatte es diesen gedrängt, endlich mit seiner vermeintlichen Gemahlin sprechen zu können. Die Helden konnten erst wieder aufatmen, als Helena zu guter Letzt von Athene entführt wurde.
Jetzt ergriff Telemach zum ersten Mal das Wort: „Wie stolz ich auf meinen Vater sein kann! Aber all sein Listenreichtum vermochte nicht, das Verhängnis von sich abzuwenden, und eure Erzählungen vergrößern nur meinen Schmerz. Deshalb bitte ich euch inständig: Lasst uns endlich schlafen gehen, damit wir für den morgigen Tag genügend Ruhe finden!“
Dem Wunsch Telemachs wurde nun bereitwillig entsprochen und den beiden Gästen in der Vorhalle ein bequemes Lager hergerichtet.
Am nächsten Morgen, noch bevor alle anderen wach waren, nahm Menelaos Telemach in ein freundliches Verhör. Beeindruckt von dem Achtung gebietenden Äußeren dieses Herrschers, der sich bereits fertig angekleidet zu ihm ans Bett gesetzt hatte, erzählte Telemach ihm von seinem Leid mit den Freiern und dass er sich gezwungen sah, möglichst bald eine Entscheidung herbeizuführen und dazu genaue Auskunft über das Schicksal seines Vaters haben musste. Wenn Menelaos also etwas Genaueres wisse, und sei es auch die Nachricht vom Tod seines Vaters, so solle er es ihm nicht vorenthalten.
Menelaos konnte die Dreistigkeit der Freier gar nicht fassen und nannte sie: „Kälber, die sich in die Höhle des Löwen wagen!“
Dann aber erzählte er, was er wusste und wie er zu diesem Wissen gelangt war:
„Nicht weit von Ägypten, auf einer Insel namens Pharos, hielten mich die Götter auf, weil meine Opfer zu gering ausgefallen waren.
Zwanzig Tage lang blies uns schon der Wind entgegen, und ich kam mit meinen Schiffen nicht aus dem Hafen. Wir wären allesamt jämmerlich verhungert, hätte sich nicht eine Göttin unseres Geschickes angenommen: Eidothea, die Tochter des starken Proteus. Sie kam mir eines Tages entgegen, als ich einsam den Strand entlangschritt. Wir versuchten schon mit kleinen Haken, Fische zu fangen, damit uns der Hunger nicht die Magenwände zerriebe. Eidothea sprach mich also an: Ob es mir eigentlich gefalle, Hunger zu haben, oder warum bliebe ich auf der Insel und sähe zu, wie es mit meinen Gefährten langsam, aber sicher dem Ende zuginge?
Du kannst dir vorstellen, wie überrascht ich von diesen Fragen war. Aber ich gab ihr ehrliche Antwort und erzählte von meiner Verfehlung. Ich fragte sie auch gleich, ob sie nicht wisse, welchem der Götter ich diese Strafe zu verdanken habe.
Das wusste sie nicht, aber sie gab mir einen vortrefflichen Rat: Nicht weit von hier verweile des Öfteren ihr Vater, ein mächtiger Untertan Poseidons. Ich solle ihm auflauern und ihn dann gut festhalten. Für die Freiheit werde er mir den rechten Weg zur Heimkehr weisen und mir sogar, wenn ich es wolle, berichten, was sich in meiner Abwesenheit zu Hause zugetragen habe.
Stets zur Mittagszeit steige der Meeresalte, in einen schwarzen Regenschauer gehüllt, aus dem Wasser und ruhe sich in einer der vielen Grotten aus. Mit dem aufkommenden Westwind versammelten sich um ihn die Robben, die Kinder des Meeres, und verströmten ihren bitteren Salzgeruch.
Wie von ihr geraten, hatte ich mir dann drei besonders vertrauenswürdige Gefährten ausgesucht. Eidothea versorgte uns mit vier frisch abgezogenen Robbenfellen und legte sie über uns, nachdem wir uns in den Sand gegraben hatten. Damit wir nicht an dem fürchterlichen Gestank der Felle erstickten, rieb sie unsere Nasen mit himmlischer Ambrosia ein, das den Geruch augenblicklich überdeckte.
Nun mussten wir warten. Nach und nach kamen die Robben aus dem Meer und legten sich neben uns in einer Reihe auf den Strand. Endlich wurde es Mittag und Proteus selbst entstieg dem Wasser. Bevor er sich hinlegte, hatte er uns und die Tiere wie ein Hirte gezählt und begutachtet. Ihm war nichts aufgefallen. Als er sich dann ausstreckte, fielen wir über ihn her.
Erst verwandelte er sich in einen brüllenden Löwen, dann in eine Schlange, in einen Panther und in ein riesiges Wildschwein. Er wurde zu Wasser und zu einem dicht belaubten Baum. Aber wir haben nicht lockergelassen, bis er mich schließlich beim Namen nannte und fragte, was ich eigentlich von ihm wolle.
Da sagte ich es ihm, obwohl er es als Unsterblicher ja längst wusste. Er gab mir den Bescheid, dass ich über die See nach Ägypten fahren müsse, um Zeus und den anderen Göttern wohlgefällige Opfer darzubieten.
Dass ich wieder nach Ägypten sollte, schmeckte mir gar nicht, trotzdem wollte ich jetzt auch wissen, wie es meinen anderen Kampfgefährten ergangen sei. Erst rückte er nicht recht mit der Sprache heraus, aber dann gestand er mir, dass zwei der Führer umgekommen seien und einer noch irgendwo festgehalten werde.
Der kühne Aias hatte sich gegenüber Poseidon im Ton vergriffen und mein Bruder Agamemnon wurde, wie du ja schon weißt, nach glücklicher Heimkehr von seiner eigenen Frau und ihrem Nebenbuhler ermordet. Als ich das von meinem Bruder hörte, brach es mir schier das Herz, aber zuletzt fragte ich den Gott auch nach dem dritten, der irgendwo festgehalten wurde.
Ja, das sei Odysseus, den die Göttin Kalypso nicht losließe, obwohl er sich so sehr nach seiner Heimat sehne. Er habe weder Schiff noch Leute und könne deshalb auch keinen Ausfall wagen. Mir als Gemahl der Zeustochter Helena aber sei es bestimmt, in Argos zu sterben, um dann zu den Elysischen Gefilden zu gelangen. Sorgenfrei und ohne jemals Not erleiden zu müssen, sei es dort für die Menschen noch am schönsten.“
Nach diesem Bericht lud Menelaos Telemach noch auf elf, zwölf Tage ein, sein Gast zu sein, um sich dann von ihm fürstlich beschenken zu lassen. Aber Telemach wollte so schnell wie möglich nach Ithaka zurück. Allein die Achtung vor dem König hielt ihn ab, sofort alles stehen und liegen zu lassen und sich einfach davonzumachen.
***
Wie eh und je amüsierten sich die Freier vor der Halle des Odysseus. Gerade erprobten sich einige an Wurfscheiben und Speeren. Nur die beiden Angesehensten unter ihnen, Antinoos und Eurymachos, saßen