Montag oder Die Reise nach innen. Peter Schmidt

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Montag oder Die Reise nach innen - Peter Schmidt


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Bewusstseins. Was siehst du noch?«

      »Was ich sonst noch sehe?« Ich betrachtete unschlüssig das Bild. »Sie meinen so etwas wie ein abschließende Deutung, das Thema des Ganzen über die Einzelinterpretationen hinaus?«

      »Nein, keine Interpretation. Wir sind nicht in der Schule. Im Kunstunterricht mag das eine interessante Frage sein. An dieser Stelle ist dein Scharfblick gefragt.«

      »Sonst sehe ich nichts.«

      Alexander Montag nickte. »Das ist der springende Punkt. Du hast das Wichtigste übersehen. Wir übersehen es ständig, wenn wir nicht darauf eingestellt sind. In der natürlichen Einstellung erleben wir das, worum es geht zwar, blicken aber auf eigentümliche Weise daran vorbei. Die Natur verfolgt mit dieser kleinen Täuschung einen ganz bestimmen Zweck.«

      Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete.

      »Soll das heißen, ich habe den Test nicht bestanden?«

      »Es bedeutet, dass du noch nicht sehr weit bist in der Entwicklung deines Bewusstseins, Marc. Dass dir eine wichtige Einsicht fehlt. Viele Menschen gelangen bis an ihr Lebensende nie darüber hinaus.«

      »Und Sie wollen mir nicht verraten, was es ist?«

      »Doch, natürlich, es ist keine Geheimwissenschaft. Wenn du dich bei der Betrachtung des Bildes beobachtest, wenn du auf deine innersten Regungen achtest, wirst du bald entdecken, dass jede Wahrnehmung von einem manchmal sehr feinen Gefühl begleitet ist.

      Die Gegenstände erscheinen im Licht solcher Gefühle – als würdest du die Welt durch eine subtile Gefühlsbrille betrachten! Um dich dieser für dein Leben äußerst wichtigen Tatsache zu vergewissern, musst du vielleicht eine Reihe von Beobachtungen anstellen. Setz dich dort auf den Stuhl und vergleiche deine feinsten Gefühlseindrücke mit den inhaltlichen Wahrnehmungen des Bildes. Sieh dabei vom Bild zur leeren Wand und wieder zum Bild – so oft, bis du den Unterschied entdeckst.«

      Er zog zwei Stühle heran.

      »Verwechsle diesen feinen Gefühlsfilm nicht mit den starken Emotionen, die jedem bekannt sind«, fuhr er fort. »Ich rede nicht von Langeweile, nicht von Zorn, Angst oder Lust. Auch nicht von deinen Stimmungen.

      Manchen Menschen fällt es schwer, diese feinere Dimension ihrer Gefühlswahrnehmungen von den gegenständlichen Wahrnehmungen wie Farben, Formen und Bedeutungen zu unterscheiden.

      Andere sind damit völlig überfordert. Um herauszufinden, ob du zu ihnen gehörst, habe ich dich ins Museum gebeten.

      Man wird auf der Reise nach innen nicht weit gelangen, wenn einem diese Dimension verschlossen bleibt …

      Vielleicht musst du erst ein paar Hundert vergleichende Betrachtungen anstellen, um den Inhalt der Wahrnehmung von der Form des Gefühls zu trennen …?«

      »Ich glaube, ich verstehe jetzt, was Sie meinen. Wenn ich vom Garten der Lüste auf die leere Wand blicke, verändert sich irgend etwas in mir.«

      »Ausgezeichnet.«

      »Ich kann noch nicht genau erklären, was es ist …«

      »Ich will dir verraten, in welcher Weise ein entwickeltes Bewusstsein solche Phänomene wahrnimmt. Damit meine ich nicht die Gefühle selbst, sondern das Wissen um sie. Es ist ständig im Sehen gegenwärtig, gleichzeitig mit den Dingen – oder könnte doch jeden Moment gegenwärtig werden.«

      »Und wozu das alles?«, erkundigte ich mich.

      »Das ist die entscheidende Frage, zugegeben. Warum den Blick auf Gefühle ausweiten, die wir ohnehin erleben, wenn auch weniger bewusst, nicht wahr? Und manche sind sogar sehr unangenehm. Ist das Leben nicht schon kompliziert genug? Frage dich, welche Funktion solche Gefühle haben! Was bedeuten sie? Was sind ihre beiden Hauptkategorien und welche Rolle spielen sie in unserem Leben? Sobald du dir darüber klar geworden bist, kann die Reise beginnen. Dann werde ich dir ein Fahrzeug geben, mit dem du dich in jene unermesslichen Gefilde des Innern begeben kannst, die deine Welt verändern.«

      »Ein Fahrzeug?«, fragte ich.

      »Im übertragenen Sinne ist es so etwas wie ein Fahrzeug, ja. Erinnerst du dich noch daran, was ich über den Glanz der Parkettfliesen gesagt habe? Jedes Objekt kann zu einem Katalysator werden. Und dieser Katalysator ist wie ein Fahrzeug. Ich werde dir ein besonders mächtiges Fahrzeug geben, sobald du dafür bereit bist.«

      9

      Offenbar hatte Alexander Montag mich für würdig befunden, sein Schüler zu werden. Ich begriff damals noch nicht, welche Art von Lehrer er war, denn diese Rolle ist ein wenig zu ungewohnt und überraschend in einer Welt, in der die meisten Menschen, wie er richtig bemerkte, mit vierzehn Jahren das Denken eingestellt haben.

      Sein Ratschlag, mich selbst dabei zu beobachten, wie ich die Dinge wahrnahm, führte dazu, dass ich in den nächsten vierundzwanzig Stunden etwa fünfhundert bis tausend Gegenstände auf ihre »Gefühlsaura« untersuchte. Die Fassade des Nationalmuseums, unseren verwilderten Garten mit den pausbäckige Engeln und Teufeln, die Zimmerdecke über meinem Bett. Ich ging im Haus umher und betrachtete Vasen und Teppiche.

      Montags Beobachtung schien auch für Gedanken und Absichten zu gelten. Aber noch überraschender war die Entdeckung, die ich mit Gesichtern machte. Rolos für einen Elfjährigen viel zu große scharfe Nase kündigte plötzlich verräterisch die spätere Physiognomie eines Perversen an, obwohl das wohl kaum die Dimension des Gefühls war, die Montag im Auge hatte, sondern meine Interpretation. Und um den Kopf meines Oberhirten waberte nicht nur der Widerschein der Obstipation, sondern auch sein künftiger Bankrott.

      Ich erprobte fasziniert, was Alexander Montag mir geraten hatte, und starrte auf dem Schulhof an Anne-Marie vorbei auf die Aura der Schönheit, die sie umgab.

      Das schwarze Lederstirnband über ihrem feuerroten Haar begann vor meinen Augen zu flimmern.

      »Was ist los mit dir, Herzbaum?«, erkundigte sie sich sie. »Hast du plötzlich einen Silberblick? Warum starrst du mich so merkwürdig an?«

      »Oh, ich glaube, ich bin einfach nur verliebt in dich.«

      »Mit der Liebe soll man keine Scherze treiben.«

      »Das würde mir nicht im Traum einfallen.«

      »Mein Bruder behauptet, ich müsse mich vor dir in acht nehmen?«

      »Dein Bruder ist ein Scheusal. Warum bildest du dir nicht dein eigenes Urteil über mich?«

      »Weshalb sollte ich?«

      »Weil wir zusammengehören. Was hältst du davon, nach der Schule mit mir Eis zu essen?«

      »Jetzt, im Winter?«

      »Dann trinken wir eben einen Cappuccino.«

      »Einen gemeinsam oder zwei?«, fragte sie und blickte mich auf diese freche oder spitzbübische Weise an, die ich damals noch nicht recht zu deuten verstand.

      In diesem Moment vergaß ich völlig Montags Ratschlag. Die silberne Spange, die ihr Stirnband hielt, öffnete sich durch die vereinnahmende Kraft meines Blicks und fiel zu Boden. Ich hob das Band auf und berührte mit der Schulter wie unabsichtlich ihren Arm, als ich mich aufrichtete.

      »Soviel du willst …«

      »Einverstanden«, sagte sie zu meiner Überraschung und band sich mit beiden Händen – himmlischen schlanken Händen voller winziger blasser Sommersprossen – ihr rotes Haar zusammen, während sie die Spange zwischen ihren makellosen weißen Zähnen hielt. »Wo?«

      »Hinter dem Block ist ein italienische Café.«

      »Gut, sagen wir um zwei?«

      Ich sah ihr ungläubig nach, wie sie ihren schönen jungen Körper einer schwebenden Göttin gleich über den Schulhof bewegte. Unter den sehnsüchtigen Blicken einiger pubertierender Knilche, die es nicht mal im Traum gewagt hätten, sie das Gleiche zu fragen wie ich!

      Was


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