Montag oder Die Reise nach innen. Peter Schmidt

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Montag oder Die Reise nach innen - Peter Schmidt


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die vorherrschende Bewusstseinsverfassung ist, scheint es dafür nur einen gangbaren Weg zu geben: das persönliche Vorbild. Donelli war das Vorbild par excellence.

      Der Papst hätte ihn auf der Stelle zu seinem Vertrauten erklärt und seine spätere Heiligsprechung erwogen, wäre er nur einziges Mal seiner aufrichtigen Seele gewahr geworden. Donelli lief mit einem seligen Lachen durch die Schule, das Gesicht leicht zu den Wolken angehoben, als empfange er bereits die höchsten Weihen des Himmels.

      Seine Tragödie war, dass ihm niemand auch nur ein einziges Wort abnahm. Seine Schüler glaubten eher an Satan und an böse Geister als an eine Weltseele, die trotz ihrer Allmacht so etwas Verrücktes wie blutrünstige Moskitos, Haie in der Tiefsee und Prostatakrebs geschaffen hatte. Was hätte ihren Verdacht widerlegen sollen, dass dieser Gott entweder gar nicht existierte oder übergeschnappt war?

      Aus demselben Grund sahen sie auch keinen Anlass, mit ihren Grausamkeiten und Sticheleien aufzuhören. Warum auf das Vergnügen verzichten, wenn es keinen Lohn für Wohlverhalten und keine Strafe für Gemeinheiten gab? Seine Schwester musste meine Notizen ebenfalls gelesen haben.

      Auf dem Schulhof galt ich nur noch als Der Impotente. Warum sollte Anne-Marie sich mit einem solchen Individuum kompromittieren? Welchen Sinn hatte es, sich mit einem Versager abzugeben?

      Mein Universum war so grau wie mein Gesicht; der schwarze Nachthimmel über mir ein getreuer Spiegel meiner Seele; die treibenden Wolken die Schwingen der Raubvögel; jedes Geräusch ein elektrischer Schlag in meine Eingeweide; das graue Regenwasser in den Straßenrinnen der Saft der Verwesung.

      Und meine Trauer wuchs mit jedem Zucken des Sekundenzeigers! Wie alles, an dem wir zu stark hängen, das wir mit zu großer Kraft begehren, verstärkte sich Anne-Maries Anziehungskraft nur noch weiter bis ins Unermessliche.

      Als wollten uns die Dinge und Menschen sagen: Bis hierher und nicht weiter! So geht es nicht! Als müssten wir nur lernen, die Sprache zu verstehen, in der sie schon immer zu uns gesprochen haben. Lass ab von deiner verdammten Gier, Marc Erasmus Herzbaum. Sie stürzt dich nur ins Unglück. Gier und Habsucht machen niemals glücklich. Alle, die den Weg des Besitzenwollens, des Reichtums, des Ruhmes und der Macht gegangen sind, haben auf schreckliche Weise dafür bezahlen müssen.

      Karolas wacher weiblicher Instinkt erfasste schon in der zweiten Nachhilfestunde, was mit mir los war. Ich ließ mich in den Sessel vor ihrem Schreibtisch sinken, die Beine von mir gestreckt wie in Leichenstarre, den Nacken mit vorgebeugtem Kopf angespannt, der Blick nur noch ein irres, verlorenes Flackern.

      »Fresnelsche Zonenkonstruktion«, sagte sie. »Erkläre mir bitte, inwiefern sie auf dem Huygensschen Prinzip beruht?«

      »Sie, äh … ist ein wertvolles Hilfsmittel zum Verständnis der Beugungserscheinungen …«

      »Danach habe ich nicht gefragt. 1818 wurde von dem Physiker Fresnel das Huygenssche Prinzip durch Anwendung des Interferenzprinzips erweitert.«

      Ich war nicht bei der Sache. Ich begann die Physik zu hassen. Ich weilte in jenen Gefilden, in denen die Eingeweide schmerzen, aber die Aufmerksamkeit alles daran setzt, dem Gefühl der Ausweglosigkeit und Rastlosigkeit zu entgehen.

      »Liebeskummer?«, erkundigte sie sich mit in die Hüften gestützten Armen. Sie trug einen schwarzen Kimono und roch nach indischem Moschus. Ihre kleine Gestalt sah in dem glänzenden Fummel noch biegsamer und beweglicher aus.

      Meine Meinung von ihr hatte sich seit unserem Stelldichein völlig verändert. Ich fand, Karola war überhaupt nicht spießig. Vielleicht wäre sie sogar die ideale Frau gewesen? Aber eine Angst, der ich mir wohl nur vage bewusst war, riet mir davon ab, es noch einmal bei ihr zu versuchen.

      »Ich glaube, ich habe nie etwas anderes gewollt, als Maler zu werden«, sagte ich mit zerstreutem Blick auf ihren aufgeklappten Kimono, der ihre schlanken weißen Beine sehen ließ.

      »Nach neueren psychologischen Theorien ist Kunst nur eine versteckte Art der Liebeswerbung.«

      »So? Dann wüsste ich wohl davon, oder?«

      »Vieles in uns geschieht unbewusst.«

      »Die anderen Menschen um mich herum – in der Schule, meine Familie –, stoßen mich durch ihre Oberflächlichkeit und Rohheit ab. Sie langweilen mich, weil sie so trivial sind. Weil sie immer den gröbsten Verhaltensmustern folgern. Ich verbringe meine Zeit lieber bei den alten Meistern im Museum.«

      »Im Ernst? Physik interessiert dich gar nicht?«

      »Sagen wir mal, sie interessiert mich erst an zweiter Stelle.«

      »Und an dritter? Was steht an dritter Stelle?«

      Ich starrte schweigend auf ihre weißen Beine.

      »Die Frauen, oder?«

      »Vielleicht muss ich erst herausfinden, was die Frauen für mich bedeuten«, sagte ich. »Ich bin einfach noch zu jung dafür.«

      Von diesem Tage an wurde Karola meine Komplizin. Wir reduzierten meine Nachhilfestunden auf eine kurze Durchsicht der Hausarbeiten. Karola war so rührend um mein Seelenheil besorgt, wie es sonst nur liebende Frauen sind. Ich hatte das Gefühl, das Leben habe mir unversehens, und völlig unverdient, eine zweite Mutter geschenkt.

      Aber diese hier besaß anders als meine leibliche Mutter alle natürlichen Instinkte weiblicher Wesen. Sie versorgte mich mit Literatur und schottete mich gegen meine Familie ab, die aus mir einen karrieregeilen Physiker machen wollte. Und sie schenkte mir jene selbstlose Zuneigung und Wärme, die erst ein förderliches Klima für weitere Entwicklungen schafft.

      Es war, als habe man einen großen Feldblumenstrauß auf meinen Schreibtisch gestellt. Ich gesundete zusehends, ich ging Anne-Marie auf dem Schulhof aus dem Wege und versuchte nicht an sie zu denken, obwohl Pipers Gemeinheiten mir immer noch zusetzen und er nicht bereit war, mein Notizbuch herauszurücken.

      Als ich während der Zeit meiner Genesung zum erstenmal wieder das Nationalmuseum betrat, war eine erstaunliche Verwandlung mit Alexander Montag vorgegangen. Er wirkte um einige Jahre jünger, obwohl er für sein Alter schon immer erstaunlich glatte Züge und einen beweglichen Körper besessen hatte. Das Gesicht eines Menschen, der niemals krank gewesen war, nahm ich an.

      Wieder saß er, wie so oft, mit geschlossenen Augen und leicht nach vorn geneigtem Kopf auf seinem Stuhl im Hauptsaal der Galerie, als schlafe er. Wieder war es so, als betrachte er die Innenseiten seiner Augenlider. Doch sein Gesicht schien auf eigentümliche Weise zu strahlen, als leuchte eine Kraftquelle ungeahnten Ausmaßes in seinem Innern.

      Ich räusperte mich, als ich in seine Nähe kam, und zu meiner Überraschung sagte er, ohne die Augen zu öffnen:

      »Nimm dir einen Stuhl von der Kordelabsperrung und setz dich zu mir, Herzbaum.«

      »Sie kennen meinen Namen?«

      »Er stand auf deiner Schultasche, als du mit deinem Fotoapparat bei uns warst. Meine Mutter hatte übrigens denselben Mädchennamen.«

      »Tatsache?«, erkundigte ich mich ich argwöhnisch. »Herzbaum ist schließlich kein Allerweltsname. In ganz Deutschland scheint es außer uns niemanden mehr mit diesem Namen zu geben, wie mein Vater herausgefunden hat. Und Sie – heißen Sie wirklich Montag

      »So steht es in meinem Ausweis.«

      Und auf seinem Messingschild am Revers, dachte ich – immer noch voller Unbehagen.

      Aber warum sollte mir dieser Zufall eigentlich suspekt sein? Was auch immer die Übereinstimmung mit dem Mädchennamen seiner Mutter bedeutete – vielleicht nur das »Überkreuzen zweier Kausalreihen«, wie es die Zufallsforscher genannt hätten –, ich beschloss meinen Argwohn einfach zu ignorieren.

      Doch wie so oft, wenn wir etwas nur zu verdrängen oder zu beschönigen trachten, nahm mein Unbehagen dabei eher noch zu. War Alexander Montag vielleicht ein entfernter Verwandter meiner Familie? Wir stammen von Siebenbürgener Sachsen ab, die irgendwann in den Wirren der letzten Indianerkriege nach Amerika ausgewandert waren, um in den fünfziger


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