Montag oder Die Reise nach innen. Peter Schmidt

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Montag oder Die Reise nach innen - Peter Schmidt


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nicht mal der Satz, Naturgesetze ließen sich niemals verifizieren, also auch nicht die Naturgesetze.

      Der Grund dafür liegt, wie ich heutzutage glaube, in der mangelnden Überprüfbarkeit unserer Gedanken. Man kann unmöglich wissen, ob sie ihre Welt nur mit Hilfe obskurer, vom Gehirn zusammengefügter Wahrnehmungen erschaffen oder auf irgendeine Weise bewusstseinsunabhängige Dinge erfassen.

      Der Irrtum unserer begabten Studentin war, dass sie auf zu naive Weise ihren »Wahrnehmungen« und Gedanken vertraute. Sie war ein durch und durch normaler Mensch, so stinknormal wie meine Familie.

      Sie passte vollendet zur Inneneinrichtung unseres Hauses: neureich und von der Stange, mit vergoldeten Armaturen, aber aus Kunststoff-beschichteten Spanplatten. Karola konnte mir theoretisch nicht das Wasser reichen. Sie war einfach nur bürgerlich, einschließlich aller Marotten, die sogenannte absolut gültige Verhaltensregeln mit sich bringen, wie ihre Binden vor mir im Kleiderschrank zu verstecken oder sich eine Badetuch umzubinden, wenn sie aus der Wanne kam.

      Da schien mir der fette, unser großes Irrenhaus und seine höllischen Folgen abbildende Hieronymus Bosch im Weltgerichts-Triptychon schon eher auf der Höhe der Zeit. Für ihn war das Erdachte und Vermutete genauso real wie die sogenannte ordinäre Realität. Wir sind fast immer Opfer oder Nutznießer unserer Gedanken.

      Besäßen wir nur genügend Innensicht, würden wir leicht erkennen, wie wenig von den Dingen übrigbleibt, die wir als »Realitätskrümmel« wahrnehmen – dem Zeug, das man sägen, zerbrechen oder verbrennen kann. Den Blick vor dieser anderen, inneren Realität zu versperren, ist die beste Voraussetzung dafür, zum psychischen Krüppel zu werden.

      An diesem Freitagnachmittag hatte ich meine kleine Kamera mitgenommen, obwohl es verboten war, in der Galerie zu fotografieren. Unter dem in heller Glorie thronenden Weltenrichter war eine Apokalypse alptraumhafter Grausamkeiten ausgebrochen, in der Teufel und andere Bestien ihr gnadenloses Geschäft erledigten, während im Hintergrund des mittleren Bildes die Welt in Flammen aufging.

      Eine kalte Wintersonne fiel durch die großen Fenster. Was ich brauchte, wenn ich auf den verräterischen Blitz verzichten wollte, war lediglich eine ruhige Hand und eine lange Belichtungszeit. Ein 1/15 Sekunde ohne Stativ. Als ich die Kamera ans Auge hob, sagte Montags Stimme hinter mir:

      »Es ist ein Gemälde von großer innerer Hellsichtigkeit …«

      5

      Er sagte nicht: Verschwinde mit deiner verdammten Kamera, sondern er sah mich zum erstenmal an wie jemanden, der nicht durchsichtig ist. Ich gewann augenblicklich meine Existenz zurück und fühlte mich nicht länger als Schatten.

      Sein gütiges altes Gesicht war es, das mir diesen Lebenshauch eingab. Es schien, als würde ich zugleich leicht und schwer. Als werde das Gewicht eines gewaltigen Steines von mir genommen, der mich in den Boden gedrückt hatte, und als gewönne ich dadurch auch mehr Standfestigkeit. Die Atmosphäre des Raumes schien mich zu halten und umfloss mich wie eine unsichtbare Hülle.

      »Ich weiß natürlich, dass es hier verboten ist, zu fotografieren, weil das Blitzlicht den Farben schadet«, sagte ich. »Aber mir ist plötzlich klar geworden, dass ich mich länger mit dem Bild beschäftigen muss. Die Zeit im Museum reicht dazu nicht aus.«

      »Weil es uns so viel zu sagen hat?«

      »Auch, um seine Maltechnik zu studieren.«

      »Die Technik ergibt sich immer von selbst, wenn man ernsthafte Absichten hat und genaue Beobachtungen anstellt. Ich glaube nicht, dass Bosch sehr systematisch über seinen Stil nachdachte. Natürlich wusste er, was er tat.

      Aber er arbeitete aus einer künstlerischen Intuition heraus, er war sich seiner Formen völlig sicher. Entscheidend ist, ein starkes Empfinden für das zu entwickeln, was um einen herum vorgeht, und es einfach in die Realität des Bildes umzusetzen.«

      »Sie haben hier im Museum genügend Zeit, darüber nachzudenken, nicht wahr?«

      »Wenn ich auf meinem Stuhl sitze und die Augen öffne, will es mir manchmal so scheinen, als seien Hieronymus Bosch und ich eins geworden. Als sähen wir beide dasselbe Bild.«

      »Aber es ist dasselbe Bild?«, wandte ich ein.

      »Ich meine die zugrundeliegende Realität.«

      »Glauben Sie wirklich an den ganzen Hokuspokus mit Engeln und Teufeln?«

      »Nein, es sind nur Bilder für unsere inneren Teufel.«

      »Was ist mit Gott und dem Satan?«

      »Nur Bilder. Projektionen unseres Inneren für verschiedene abstrakte Realitäten, um die unser Leben kreist. Es sind Lügen, mit denen wir uns selbst beschwichtigen und unsere Angst und unser Unbehagen besänftigen. Primitive Krücken für schlichte Seelen, die noch nicht ganz dem Kindesalter entwachsen sind, die einfache Beispiele benötigen.«

      Seine Worte machten einen starken Eindruck auf mich. Ich dachte den ganzen Abend über sie nach. Nicht, als erführe ich dadurch etwas völlig Neues, sondern, als werde einigen Gedanken, die schon lange vor der Tür meines Bewusstseins gestanden hatten, nun endlich der Zutritt erlaubt …

      Wo es keinen Gott mit weißem Bart und keinen leibhaftigen Teufel gibt, da hat auch die sexuelle Enthaltsamkeit keinen Sinn. Was hatte mich eigentlich dazu gebracht, Mönch zu werden? Dieser katholische Wahn, der immer noch in unseren Köpfen spukt, selbst wenn wir gar keine Christen sind?

      Oder jene ablehnende Haltung unseren Gefühlen gegenüber, die entsteht, wenn wir dazu erzogen werden, uns solange anzustrengen und etwas »Nützliches« zu tun, bis wir den Genuss als Schuld und die Anstrengung als Lohn empfinden?

      Eine vertrocknete Form der Realität, entstanden durch plumpe Bilder, durch die Sklavenmoral des schlechten Gewissens. Plötzlich hatte ich begriffen, dass die Wirklichkeit, die solche Projektionen erzeugen, verkürzt ist, ohne Farbe und vollen Klang, ohne jeden inneren Aufschwung, ohne den ernsthaften Versuch, die Freuden des Daseins auszuloten.

      Also rüstete ich mich mit drei schwarzen Präservativen der Marke Panther aus, machte auf dem Balkon ein paar Kniebeugen in der kalten Abendluft, um meinen Kreislauf auf Trab und meine Potenz in Wallung zu bringen und schlich mich zurück ins Treppenhaus, am offenen Wohnzimmer vorüber.

      Als ich mit hartem Knöchel an Karolas Zimmertür klopfte, lief im Fernsehen gerade eine Schnulze aus den fünfziger Jahren, die meine Mutter augenblicklich so in ihren Sessel bannen würde, dass sie unfähig war, auch nur einen Muskel zu rühren, geschweige denn ihren gewohnten Kontrollgang durchs Haus zu machen, und meinen Vater veranlasste, auf der Stelle einzunicken.

      Karolas verschlafene Stimme antwortete durch die Tür wie aus einem seit Generationen verschlossenen Grab. Ich wusste, dass sie sich gerade mehrere Nächte wegen einer schwierigen Klausur in »Diamagnetismus« um die Ohren geschlagen hatte, das ist ein in allen Stoffen durch ein äußeres Magnetfeld induzierbarer Magnetismus. Kein normaler Mensch interessierte sich noch dafür, außer ein paar verrückten Physikern, die hofften, immer weiter in die Geheimnisse der Materie eindringen zu können.

      »Ich bin’s, Marc.«

      »Um diese Zeit?«

      »Es ist sehr dringend …«

      Es war gerade mal acht Uhr. Viel zu früh für eine vitale junge Frau wie Karola, aber die richtige Zeit für alles, was der Seele auf die Sprünge half. Ich stand mit meinen Präservativen vor ihrer Tür, die Packung in der Hand wie einen verwelkter Blumenstrauß – den ich schnell hinter meinem Rücken verbarg, als ich mich selbst so sah –, da flog auch schon die Tür auf und Karola stand in irgendeinem geblümten Ding, das sie auf dem Flohmarkt am Tisch für vom Lieferwagen gefallene Textilien erstanden hatte, vor mir – die Arme in die Hüften gestützt.

      Diese himmlischen weißen Arme …

      »Was ist los, Herzbaum?«, erkundigte sie sich mit hochgezogenen Brauen. Karola nannte mich immer beim Nachnamen, wenn es ernst wurde. Ich versuchte irgend etwas zu


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