Vom höchsten Gut und vom größten Übel. Cicero

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Vom höchsten Gut und vom größten Übel - Cicero


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nach der Lust hin darzulegen. Jetzt will ich erklären, was und welcher Art die Lust selbst ist, um die irrigen Meinungen Unerfahrener zu beseitigen und zu zeigen, wie ernst, entschlossen und streng jene Lehre ist, die man für wollüstig, verzärtelt und verweichlicht zu halten pflegt. Denn wir suchen nicht blos jene Lust, die durch ihre Süssigkeit die Natur von selbst erregt und von den Sinnen angenehm empfunden wird, sondern vor Allem die Lust, welche man durch die Entfernung allen Schmerzes empfindet. Denn wenn man vom Schmerz erlöst wird, so erfreut man sich gerade an dieser Befreiung und Leere von aller Unannehmlichkeit; Alles aber, dessen man sich erfreut, ist eine Lust, so wie Alles, was uns verletzt, ein Schmerz ist. Deshalb kann die Befreiung von allem Schmerz mit Recht eine Lust genannt werden. So wie der durch Speise und Trank gestillte Hunger und Durst lediglich mittelst der Beseitigung des Unangenehmen die Lust zur Folge hat, so bewirkt überall die Beseitigung des Schmerzes als Folge die Lust.

      § 38. Deshalb nahm Epikur kein Mittleres zwischen Schmerz und Lust an, weil gerade jener Zustand, wo man von allen Schmerzen frei ist und welcher Manchem als das Mittlere erscheint, nicht blos eine Lust, sondern sogar die höchste Lust ist. Jedweder, der sich erregt fühlt, muss entweder in Lust oder in Schmerz sich befinden. Mit der Beseitigung aller Schmerzen ist aber nach Epikur die höchste Lust erreicht; man kann dann wohl die Art der Lust noch wechseln und unterscheiden, aber sie nicht mehr vergrössern und erweitern.

      § 39. In Athen befindet sich, wie ich von meinem Vater gehört habe, der damit die Stoiker witzig und fein verspottete, auf dem Topfmarkte eine Bildsäule des Chrysipp mit vorgestreckter Hand, welche zeigen soll, wie er sich an folgendem kurzen Schluss ergötzt habe: »Begehret Deine so ausgestreckte Hand, wie sie es jetzt ist, etwas? – Durchaus nichts. – Aber wenn die Lust ein Gut ist, so würde sie es begehren? – Ich glaube ja. – Also ist die Lust kein Gut.« Nicht einmal die Bildsäule, meinte mein Vater, würde, wenn sie reden könnte, so sprechen; denn dieser Schluss treffe wohl die Cyrenaiker richtig, aber nicht den Epikur. Wenn nur dasjenige Lust wäre, was die Sinne so zu sagen kitzelt und mit Süssigkeit ihnen zufliesst und in sie eindringt, so könnte weder die Hand, noch irgend ein anderer Theil mit der blossen Schmerzlosigkeit ohne ein angenehmes Gefühl der Lust zufrieden sein; wenn aber die höchste Lust nach Epikur in der Schmerzlosigkeit bestehe, so sei dem Chrysipp das Erste wohl richtig eingeräumt worden, dass die Hand in solcher Haltung nichts begehre; aber man könne ihm nicht auch das Zweite zugestehen, dass sie die Lustbegehren würde, wenn sie ein Gut sei; vielmehr geschehe dies von ihr nicht, weil Alles, was von Schmerzen frei sei, sich schon in der Lust befinde.

      Kapitel XII.

      § 40. Dass nun die Lust das höchste Gut ist, lässt sich leicht daraus abnehmen, dass, wenn man sich einen Menschen vorstellt, der alle Lust der Seele und des Körpers in hohem Maasse, in grosser Menge und ohne Unterlass geniesst, dabei weder durch Schmerzen gedrückt, noch davon bedroht wird, man sich keinen bessern und wünschenswerthern Zustand wie diesen denken kann. Ein Mensch in diesem Zustande muss eine Festigkeit der Seele besitzen, die weder den Tod noch die Schmerzen fürchtet; denn im Tode hat man keine Empfindung mehr, und der Schmerz wird durch seine Länge leichter, und ist er schwer, so pflegt er nur kurze Zeit zu währen, so dass über dessen Schwere sein rasches Vorübergehen und über seine Dauer seine Leichtigkeit tröstet.

      § 41. Dazu kommt, dass in solchem Zustande den Menschen kein göttliches Wesen ängstigt und die vergangene Lust ihm nicht entschwindet; vielmehr freut er sich ihrer in steter Erinnerung. Wie könnte da noch irgend etwas Besseres zu solchem Zustande hinzutreten? Nimm dagegen Jemand, der von so grossen körperlichen und geistigen Schmerzen gebeugt wird, wie sie einen Menschen nur treffen können, der dabei keine Aussicht hat, dass sie sich lindern werden, und der weder jetzt eine Lust fühlt noch eine solche erwartet, kann man da einen noch elendern Zustand nennen oder sich vorstellen? Wenn ein von Schmerzen erfülltes Leben am meisten zu fürchten ist, so ist offenbar ein Leben in Schmerzen das höchste Uebel, und dem entspricht, dass ein Leben in Lust das höchste ist. Denn unsre Seele hat sonst Nichts, was ihr als Endziel gelten könnte; alle Furcht und alle Krankheit wird auf den Schmerz zurückgeführt, und es giebt ausserdem Nichts, was seiner Natur nach Sorge oder Angst erwecken könnte.

      § 42. Ueberdem nimmt alles Begehren, alles Verabscheuen und alle Thätigkeit ihren Anfang von der Lust oder dem Schmerz, und wenn dies richtig ist, so erhellt, dass alles Rechte und Löbliche auf ein von Lust erfülltes Leben abzielt. Wenn nun Das als das höchste, oder letzte, oder äusserste Gut gelten muss (die Griechen nennen es telos), Was an sich selbst auf nichts Anderes bezogen wird, aber auf welches alles Andere bezogen wird, so muss man anerkennen, dass ein angenehmes Leben das höchste Gut ist.

      Kapitel XIII.

      Jene, welche dies höchste Gut nur allein in die Tugend setzen und, durch den Glanz des Wortes geblendet, nicht erkennen, was die Natur verlangt, würden von diesem grossen Irrthume befreit werden, wenn sie den Epikur hören wollten. Denn wenn diese Eure vortrefflichen und schönen Tugenden zu keiner Lust führten, so würde sie Niemand für etwas Löbliches oder Begehrenswerthes halten. So schätzt man die Kunst der Aerzte nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie die Gesundheit bewirkt, und die Kunst des Steuermannes wird nicht als solche, sondern wegen ihres Nutzens für die gute Schifffahrt gelobt, und so würde auch die Weisheit, die nur als die Lebenskunst anzusehen ist nicht begehrt werden, wenn sie nichts bewirkte; man verlangt nach ihr nur, weil sie gleichsam der Werkmeister ist, der die Lust beschafft und bereitet.

      § 43. Ihr seht also, was ich unter der Lust verstehe; deshalb lasst Euch durch ihren verhassten Namen meine Rede nicht abschwächen. Nur weil man die Güter und Uebel nicht kennt, wird das Leben hauptsächlich beschwerlich; wegen dieses Irrthums büsst man oft die grössten Freuden ein und wird von den härtesten Seelenschmerzen gepeinigt. Deshalb bedarf man der Weisheit, welche alle Strecken und Begierden beseitigt, alle dreisten, falschen Meinungen zerstört und sich damit als den sichersten Führer zur Lust bewährt. Denn nur die Weisheit allein vermag die Seele von der Traurigkeit zu befreien; nur sie lässt uns durch die Furcht nicht in Schrecken gerathen; unter ihrer Führung kann man die Hitze aller Begierden kühlen und ein ruhiges Leben führen. Denn die Begierden sind unersättlich; nicht blos Einzelne, sondern ganze Familien bringen sie in das Verderben, ja oft erschüttern sie selbst den Staat.

      § 44. Von den Begierden kommt der Hass, die Uneinigkeit, der Streit, der Aufruhr, der Krieg. Auch werfen sie sich nicht blos nach Aussen und stürzen in blindem Ungestüm nicht blos auf Andere, sondern auch innerlich, in der Seele eingeschlossen, streiten und bekämpfen sie sich selbst und verbittern damit das Leben. Deshalb kann nur der Weise, der alle Eitelkeit und allen Irrthum von sich abgethan und beseitigt hat, zufrieden in den von der Natur gesetzten Schranken ohne Aerger und Furcht sein Leben verbringen.

      § 45. Denn welche Unterscheidung ist wohl nützlicher und für ein gutes Leben geeigneter, als die, welche Epikur gezogen hat? In die eine Klasse der Begierden stellte er die natürlichen und zugleich nothwendigen, in die zweite die natürlichen, aber nicht nothwendigen, und in die dritte die, welche weder natürlich noch nothwendig sind. Ihr Verhältniss ist der Art, dass die notwendigen ohne viele Mühe und Kosten sich befriedigen lassen.

      § 46. Ebenso verlangen auch die natürlichen nicht viel, weil die Natur selbst die Güter, mit denen sie zufrieden ist, bereitet und abgrenzt; nur von den eitlen Begierden kann weder ein Maass noch ein Ende gefunden werden.

      Kapitel XIV.

      Wenn man sieht, wie der Irrthum und die Unwissenheit das ganze Leben in Verwirrung bringt, und wie nur die Weisheit uns vor dem Ungestüm der Lüste und den Schrecknissen der Furcht schützt; wie sie selbst das Unrecht des Schicksals uns mit Geduld ertragen lehrt und die Wege weist, welche zur Ruhe und zur Freiheit von Gemüthsbewegungen führen, wie konnte man da zweifeln und nicht offen anerkennen, dass die Weisheit wegen Gewinnung der Lust zu erstreben und die Unwissenheit wegen des Ungemachs zu fliehen sei!

      § 47. Aus demselben Grunde wird, nach unsrer Lehre, auch die Mässigkeit nicht um ihrer selbst willen gesucht, sondern weil sie der Seele den Frieden bringt und die Gemüther gleichsam durch eine gewisse Eintracht beruhigt und besänftigt.


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