Nostromo. Joseph Conrad
Читать онлайн книгу.von dem blauen Dunst der fernen Sierra bis zu der ungeheuren Weite des Horizontes aus Gras und Himmel, wo große weiße Wolken langsam in das Dunkel ihres eigenen Schattens zu fallen schienen.
Männer ackerten mit Ochsen, die im Joch vor hölzernen Pflügen gingen, klein in der grenzenlosen Ebene, als wollten sie die Unendlichkeit selbst angreifen. Weit weg sah man berittene Vaqueros dahingaloppieren und die großen Herden weiden, alle die gehörnten Köpfe in eine Richtung gekehrt, in einer einzigen webenden Linie, so weit das Auge über die weiten Potreros reichte. Ein weitästiger Wollbaum warf seinen Schatten über einen gedeckten Viehschuppen an der Straße; die in langen Reihen hintereinander trottenden, schwerbeladenen Indianer lüfteten ihre Hüte und hoben traurig-stumme Augen zu der Kavalkade auf, die den Staub auf dem holprigen Camino real aufwirbelte, der gleichen Straße, an der ihre versklavten Vorväter gearbeitet hatten. Und Frau Gould meinte mit jeder Tagesreise der Seele des Landes näherzukommen: sie erschloß sich ihr hier im Innern, das von der leichten europäischen Tünche der Küstenstädte frei war. Ein großes Land mit Ebenen und Bergen und einem Volk, das stumm litt und in ergreifender, geduldiger Unbewegtheit seine Zukunft erwartete.
Frau Gould sah das Gesicht des Landes und lernte die mit schläfriger Würde gebotene Gastfreundschaft in den weiten Gebäuden kennen, die den windgepeitschten Viehweiden lange, fensterlose Wände und schwere Tore zukehrten. Man wies ihr den Ehrenplatz am Kopfende der langen Tische, wo Herren und Diener in altväterlicher Schlichtheit zusammensaßen. Die Damen des Hauses führten im Mondlicht unter den Orangenbäumen des Innenhofes sanfte Gespräche und hinterließen in Frau Gould den Eindruck von der Süße ihrer Stimmen und dem etwas geheimnisvollen Gleichmaß ihres Lebens. Am Morgen gaben dann die Herren, gut beritten, in bortenbesetzten Sombreros und gestickten Reitanzügen, den scheidenden Gästen das Geleite und empfahlen sie an den Grenzpfählen ihrer Besitzungen mit ernstem Lebewohl der Obhut Gottes. In all diesen Häusern konnte Frau Gould Geschichten von politischer Unbill hören; Freunde, Verwandte zugrunde gerichtet, eingekerkert, in den Schlachten der sinnlosen Bürgerkriege gefallen, barbarisch hingerichtet während wütender Verfolgungen, als hätte die Regierung in einem willkürlichen Gegeneinander dummer Teufel bestanden, die mit Säbeln, Uniformen und geschwollenen Reden auf das Land losgelassen wären. Und von allen Lippen hörte Frau Gould ein müdes Sehnen nach Frieden und die Angst vor Behörden, mit ihrem gespenstischen Zerrbild von Verwaltung, ohne Gesetz, Sicherheit und Recht.
Sie ertrug die vollen zwei Monate der Reise sehr gut; sie hatte die Widerstandskraft gegen Müdigkeit, die man dann und wann überrascht an manchen sehr zart aussehenden Frauen entdeckt – als wären sie von besonders hartnäckigem Geiste besessen. Don Pépé, der alte Costaguana-Major, hatte sich erst in besorgten Aufmerksamkeiten für die zarte Dame erschöpft und ihr schließlich den Ehrennamen der »nimmermüden Señora« verliehen. Frau Gould wurde tatsächlich zur Costaguanera. Da sie in Südeuropa wahres Bauerntum kennengelernt hatte, war sie wohl imstande, die großen Vorzüge des Volkes zu würdigen. Sie sah den Mann unter dem schweigsamen, trübblickenden Lasttier. Sie sah die Lastträger auf den Straßen, einsame Gestalten auf der Ebene, unter großen Strohhüten hinkeuchen, in weißen Gewändern, die im Wind um ihre Glieder flatterten. Eine Gruppe von Indianern, die sich dem Gedächtnis eingeprägt hatte, das Gesicht eines jungen Indianermädchens mit wehmütigem, sinnlichem Ausdruck, das ein irdenes Wassergefäß an der Tür einer dunklen Hütte zwischen den rohen Pfosten des Vorbaus niedersetzte: dies alles rief ihr das Bild von Dörfern wach. Die hölzernen Scheibenräder eines Ochsenkarrens, der bis zur Achse im Straßenstaub steckte, wiesen noch die Spuren der Axthiebe auf; und eine Gruppe von Holzkohlenträgern schlief, in einer Reihe hingestreckt, in dem schmalen Schatten einer niedrigen Lehmmauer, auf der jedes Mannes Last über dem Kopf des Trägers abgesetzt stand.
Das wuchtige Quaderwerk von Brücken und Kirchen aus der Zeit der Eroberer erzählte von der Mißachtung menschlicher Arbeit, der Fron untergegangener Völker. Die Macht von Königtum und Kirche war dahin, doch beim Anblick eines wuchtigen, halbverfallenen Pfeilers, der von einer Hügelkante her die niedrige Lehmmauer eines Dorfes überragte, unterbrach sich Don Pepé wohl in der Schilderung seiner Feldzüge und rief aus:
»Armes Costaguana! Früher einmal war alles für die Priester, nichts für das Volk; und jetzt ist alles für die großen Politicos in Sta. Marta, für Negros und Diebe.«
Charles sprach mit den Alkalden, Fiskalen, mit den wichtigsten Leuten in den Städten und mit den Caballeros auf den Gütern. Die Kommandanten der Bezirke boten ihm Eskorten an, denn er konnte eine Beglaubigung von dem augenblicklichen politischen Oberbeamten in Sulaco vorweisen. Wieviel ihm das Schriftstück in goldenen Zwanzigdollarstücken gekostet hatte, war ein Geheimnis zwischen ihm selbst, dem Großen Mann in den Vereinigten Staaten (der sich herabließ, die Post aus Sulaco eigenhändig zu beantworten) und einem Großen Mann von andrem Schlag, mit dunkelolivfarbener Haut und unsteten Augen, der damals den Palast der Intendancia in Sulaco bewohnte und sich auf seine europäische Bildung und Kultur (ausgesprochen französischen Stils) viel zugute tat, weil er in Europa einige Jahre gelebt hatte – in der Verbannung, wie er sagte. Es war übrigens ziemlich allgemein bekannt, daß er unmittelbar vor dieser Verbannung etwas unvorsichtig den ganzen Kassenbestand des Zollamtes in einer kleinen Hafenstadt verspielt hatte, an dem er durch die Gunst eines Freundes als Untereinnehmer angestellt war. Diese jugendliche Verirrung hatte, neben anderen Unannehmlichkeiten, auch die Folge, daß er eine Zeitlang sein Leben als Cafékellner in Madrid fristen mußte; doch schien letzten Endes seine Begabung doch ungewöhnlich zu sein, da sie ihn befähigt hatte, sein politisches Mißgeschick so gründlich wieder auszugleichen. Charles Gould setzte ihm sein Anliegen mit unbeirrbarer Gemütsruhe auseinander und redete ihn dabei mit Exzellenz an.
Die Provinz-Exzellenz zeigte sofort einen Ausdruck müder Überlegenheit und kippte nach echter Costaguanamanier mit dem Stuhl neben dem offenen Fenster weit zurück. Zufällig versuchte sich gerade die Militärmusik auf der Plaza an einer Auswahl aus Opernmusik, und zweimal gebot der hohe Herr durch Heben der Hand Schweigen, um einer Lieblingsstelle lauschen zu können.
»Exquisit, köstlich!« murmelte er. Charles Gould stand dabei und wartete mit unerschütterlicher Geduld. »Lucia, Lucia di Lammermoor! Ich schwärme für Musik. Sie reißt mich fort. Ah! der Göttliche – ah! – Mozart. Si! Göttlich... Was sagten Sie doch?«
Natürlich hatten ihn schon Gerüchte über die Absichten des Neukömmlings erreicht. Überdies hatte er auch eine amtliche Warnung aus Sta. Marta erhalten. Sein Gehaben war einfach darauf berechnet, seine Neugierde zu verbergen und seinem Besucher Eindruck zu machen. Nachdem er aber etwas Kostbares in der Schublade eines großen Schreibtisches in einem entlegenen Teil des Raumes verschlossen hatte, wurde er sehr umgänglich und kam lebhaft zu seinem Stuhl zurück.
»Wenn Sie die Absicht haben, Dörfer zu bauen und nächst der Mine eine Bevölkerung anzusiedeln, so werden Sie dazu einen Erlaß des Innenministers nötig haben«, riet er in geschäftlichem Ton.
»Ich habe bereits eine Denkschrift eingesandt«, sagte Charles Gould ruhig, »und rechne nun vertrauensvoll auf Ew. Exzellenz gütige Befürwortung.«
Der Exzellenzherr war ein Mann von wechselnder Stimmung. Mit dem Empfang des Geldes hatte sich eine honigsüße Stimmung seiner einfachen Seele bemächtigt. Unerwartet seufzte er tief auf.
»Ah, Don Carlos! Was wir hier in der Provinz brauchen, das sind fortgeschrittene Männer wie Sie. Die stumpfe Gleichgültigkeit – die Gleichgültigkeit dieser Aristokraten! Der Mangel an Bürgergeist! Das Fehlen jeglicher Unternehmungslust! Ich, mit meinen eingehenden Studien in Europa, Sie verstehen...«
Eine Hand in die Tiefen des gehobenen Busens versenkt, wippte er auf den Zehenspitzen und rannte durch volle zehn Minuten, fast ohne Atem zu schöpfen, wie im geistigen Sturmlauf gegen Charles Goulds höfliches Schweigen an; und als er plötzlich abbrach und sich in seinen Stuhl zurückfallen ließ, da schien es, als wäre er von einer Festung abgeschlagen worden. Um seine Würde zu retten, beeilte er sich, den schweigsamen Mann mit einem feierlichen Kopfnicken und den Worten zu verabschieden, die er mit kühler, müder Herablassung sprach:
»Sie können mit meinem aufgeklärten Beistand rechnen, solange Ihre Haltung als guter Bürger es verdient.«
Er nahm einen Papierfächer auf und begann sich