Nostromo. Joseph Conrad

Читать онлайн книгу.

Nostromo - Joseph Conrad


Скачать книгу
hatte mich zehn Jahre lang nicht mehr gesehen. Er kannte mich nicht. Er hat sich zu meinem Besten von mir getrennt und wollte mich durchaus nicht zurückkommen lassen. In seinen Briefen sprach er immer davon, von Costaguana wegzugehen, alles im Stich zu lassen und zu entfliehen. Aber er war eine zu kostbare Beute. Sie hätten ihn beim ersten Verdacht in eines ihrer Gefängnisse geworfen.«

      Wieder klirrten die Sporen. Er beugte sich im Gehen über seine Frau. Der große Papagei sah ihnen aus schräggehaltenem Kopf mit großen, starren Augen nach.

      »Er war ein einsamer Mann. Schon als ich zehn Jahre alt war, pflegte er mit mir wie mit einem Erwachsenen zu reden. Während ich in Europa war, schrieb er mir jeden Monat. Zehn, zwölf Seiten jeden Monat meines Lebens, durch zehn Jahre, und schließlich kannte er mich doch nicht! Denk' doch nur – zehn volle Jahre fort; die Jahre, in denen ich zum Mann wurde. Er konnte mich nicht kennen. Oder glaubst du, daß es möglich war?«

      Frau Gould schüttelte verneinend den Kopf – wie es ihr Mann, angesichts der Kraft seiner Beweisgründe, nicht anders erwartet hatte. Sie aber schüttelte verneinend den Kopf einfach deshalb, weil ihrer Ansicht nach niemand ihren Charley – als das, was er wirklich war – kennen konnte, außer ihr selbst. Das war unverkennbar, man konnte es mit Händen greifen. Es brauchte keinen Beweis, und der arme Herr Gould, der Vater, der zu früh gestorben war, als daß er noch von ihrer Verlobung hätte erfahren können, blieb für sie eine zu schattenhafte Gestalt, als daß sie ihm besonderes Wissen irgendwelcher Art hätte zutrauen mögen.

      »Nein, er hat es nicht verstanden. Nach meiner Meinung hätte diese Mine nie einfach nur eine verkäufliche Sache sein können. Niemals! Nach all dem Jammer, den der alte Herr durchzumachen hatte, hätte ich die Sache niemals nur für Geld allein angehen mögen«, fuhr Charles Gould fort, und sie lehnte zustimmend ihren Kopf an seine Schulter.

      Diese beiden jungen Leute gedachten des Lebens, das so jammervoll geendet, als gerade sie beide einander in all dem Glanz hoffnungsfroher Liebe gefunden hatten, die selbst den besonnensten Gemütern als ein Triumph des Guten über alle Übel der Erde erscheint. Der unbestimmte Gedanke einer Rechtfertigung hatte sich in ihren Lebensplan gedrängt. Daß er so unbestimmt war, um selbst der Stütze eines Beweisgrundes entraten zu können, machte ihn um so stärker. Er war in dem Augenblick vor ihnen aufgetaucht, in dem das Hingabebedürfnis der Frau und der Tatendrang des Mannes aus dem schönsten aller Träume ihren stärksten Antrieb empfingen. Eben das Verbot machte den Erfolg zur Pflicht. Es war, als hätten sie sich sittlich verpflichtet gefühlt, ihre eigene kraftvolle Lebensanschauung gegenüber dem aus müder Verzweiflung entstandenen Irrtum zu behaupten, und wenn ihnen der Gedanke des Reichtums vorschwebte, so doch nur deshalb, weil er mit dem an jenen andern Erfolg verknüpft war. Frau Gould war von frühester Kindheit an Waise und ohne Vermögen; in geistiger Atmosphäre aufgezogen, hatte sie über die Möglichkeiten großen Reichtums niemals nachgedacht. Sie lagen in so weiter Ferne, und sie hatte nicht gelernt, sie erstrebenswert zu finden. Allerdings war ihr auch tatsächlicher Mangel fremd geblieben. Sogar noch die wirkliche Armut ihrer Tante, der Marchesa, hatte für einen vornehmen Sinn nichts Unerträgliches: sie paßte augenscheinlich zu einem großen Kummer; sie hatte die Erhabenheit eines Opfers, das einem hohen Ideal dargebracht wird. So fehlte also in Frau Goulds Charakter selbst der entschuldbarste Anflug von Nützlichkeitssinn. Der tote Mann, dessen sie mit Zärtlichkeit gedachte (weil er Charleys Vater) und mit einiger Ungeduld (weil er schwach gewesen war) – er mußte völlig ins Unrecht gesetzt werden. Auf keine Weise sonst war es denkbar, ihr eigenes Wohlergehen ohne einen Makel auf seiner einzig wesentlichen, der unwirklichen Seite zu erhalten.

      Charles Gould allerdings war gezwungen worden, den Gedanken an den Reichtum ziemlich in den Vordergrund zu stellen; doch betrachtete er ihn als ein Mittel, nicht als Ziel. Wenn die Mine kein gutes Geschäft war, dann konnte er sie nicht anrühren. Auf diese Seite des Unternehmens mußte er das Hauptgewicht legen. Hier bot sich ihm der Hebel, um Leute mit Kapital in Bewegung zu setzen, und Charles Gould glaubte an die Mine. Er wußte alles, was darüber zu wissen war. Sein Glaube an die Mine war ansteckend, wenn er auch nicht durch große Beredsamkeit gestützt wurde; aber die Geschäftsleute sind häufig sehr heißblütig und phantasievoll, wie Liebhaber. Sie lassen sich weit häufiger, als man annehmen sollte, von einer Persönlichkeit gefangennehmen; und Charles Gould, in seiner unerschütterlichen Zuversicht, wirkte durchaus überzeugend. Überdies war auch den Männern, mit denen er etwas zu tun hatte, die Tatsache völlig vertraut, daß aus einem Bergwerk in Costaguana ein schönes Stück Geld herauszuholen war. Die großen Geschäftsleute wußten das recht gut. Die wahre Schwierigkeit, es dahin zu bringen, lag anderswo. Und gegen diese Schwierigkeit hatte sich Charles Gould mit einer Ruhe und einer unerschütterlichen Entschlußkraft gewappnet, die sogar noch in seiner Stimme mitklangen. Die Geschäftsleute wagen manchmal Handlungen, die dem gemeinen Menschenverstand töricht erscheinen mögen: sie fassen ihre Entschlüsse auf Grund sehr menschlicher Augenblickseingebungen. »Ganz recht«, hatte der bedeutende Mann gesagt, dem Charles Gould in San Franzisko, während seiner Heimreise, seine Gesichtspunkte dargelegt hatte. »Nehmen wir an, der Minenbetrieb in Sulaco würde in die Hände genommen, dann wären daran beteiligt: erstens einmal das Haus Holroyd, gegen das nichts einzuwenden ist; zweitens Herr Gould, Bürger von Costaguana, gegen den desgleichen nichts einzuwenden ist; und endlich die Regierung der Republik. Insoweit hat die Sache Ähnlichkeit mit der Erschließung der Salpetergebiete von Atacama, an der gleichfalls ein Finanzunternehmen, ein Herr namens Edward und – eine Regierung beteiligt waren; oder vielmehr zwei Regierungen – zwei südamerikanische Regierungen. Und Sie wissen, was daraus wurde. Krieg wurde daraus; ein verheerender, langwieriger Krieg wurde daraus, Herr Gould. In unserem Falle haben wir immerhin den Vorteil, daß wir es nur mit einer südamerikanischen Regierung zu tun haben, die auf ihre Beute aus der Sache lauert. Das ist ein Vorteil; aber es gibt ja auch Abstufungen in der Niedertracht, und diese Regierung ist die Costaguana-Regierung.«

      So sprach der bedeutende Mann, der Millionär, der Mann, der Kirchen in einem Ausmaß zu stiften liebte, das der Größe seines Geburtslandes entsprach – der gleiche, dem gegenüber sich die Ärzte in bösen und versteckten Drohungen ergingen. Er war ein schwergliedriger, gesetzter Mann, dessen Anlage zur Beleibtheit die Weiten eines schwarzen Gehrocks mit Seidenaufschlägen mit übermenschlicher Würde erfüllte; sein Haar war eisengrau, seine Augenbrauen noch schwarz, und sein massiges Profil glich dem eines Cäsarenkopfes auf einer altrömischen Münze. Doch seine Abstammung wies nach Deutschland, Schottland und England, mit weit zurückliegenden Einschlägen von dänischem und französischem Blut, und hatte ihm zugleich mit dem Temperament eines Puritaners zu unersättlicher Eroberungslust verholfen. Er gab sich seinem Besucher gegenüber durchaus offen, mit Rücksicht auf die warme Empfehlung, die dieser aus Europa gebracht hatte, und auch wegen einer unvernünftigen Vorliebe für Lebensernst und Entschlossenheit, wo immer er sie traf und auf welches Ziel sie auch gerichtet sein mochten.

      »Die Regierung von Costaguana wird ihre Trümpfe nicht leichtfertig aus der Hand geben – vergessen Sie das nicht, Herr Gould. Was ist nun dieses Costaguana? Es ist ein Faß ohne Boden für zehnprozentige Anleihen und andere Narrenstücklein. Durch lange Jahre ist europäisches Kapital mit beiden Händen hineingeworfen worden. Unsres nicht, allerdings. Wir hierzulande sind gerade noch schlau genug, um nicht aus dem Hause zu gehen, wenn es regnet. Wir können stillsitzen und warten. Natürlich werden wir eines Tages einschreiten. Wir können nicht drum herum. Aber das hat keine Eile. Sogar die Zeit selbst muß auf das größte Land in Gottes weiter Welt warten. Wir werden für alles und jedes das Zeichen geben; für Industrie, Handel, Gesetzgebung, Journalismus, Kunst, Politik und Religion, von Kap Horn bis hinauf nach Smith' Bay und noch weiter, wenn sich auf dem Nordpol irgend etwas zeigt, was die Beschlagnahme lohnt; und dann werden wir alle Muße haben, die entlegenen Inseln und Erdteile in die Hand zu nehmen. Wir werden die Angelegenheiten der Welt lenken, ob es die Welt will oder nicht. Die Welt kann nichts dagegen tun – und wir selbst ebensowenig, nehme ich an.«

      Damit meinte er seinen Glauben an das Schicksal in Worte zu kleiden, wie sie seiner geistigen Fassungsgabe entsprachen, die in der Darstellung allgemeiner Gedankengänge wenig geschult war. Seine Fassungsgabe beschränkte sich auf Tatsachen, und Charles Gould, dessen Einbildungskraft dauernd von der einen großen Tatsache einer Silbermine erfüllt war, hatte gegen diese Auffassung über die Zukunft der Welt keine Einwendungen zu machen. Wenn


Скачать книгу