Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo Tolstoi
Читать онлайн книгу.kam es bei Wronski wie ein Gebrüll heraus, und er griff sich an den Kopf. »Aaah! Was habe ich getan!« schrie er. »Und das Rennen habe ich verloren! Und es ist meine Schuld, meine eigene, schmähliche, unverzeihliche Schuld! Und dieses unglückliche, liebe, zugrunde gerichtete Pferd! Aaah! Was habe ich getan!«
Eine Menge Zuschauer, auch ein Arzt und ein Heilgehilfe sowie viele Offiziere seines Regiments kamen herbeigelaufen. Zu seinem Unglück fühlte er, daß er heil und unverletzt war. Das Pferd hatte sich den Rücken gebrochen und mußte erschossen werden. Wronski war nicht imstande, auf Fragen zu antworten und konnte mit niemandem sprechen. Er wandte sich ab, und ohne seine Mütze aufzuheben, die ihm vom Kopfe gefallen war, ging er aus der Rennbahn weg, er wußte selbst nicht, wohin. Er fühlte sich grenzenlos unglücklich. Zum ersten Male in seinem Leben hatte er ein schweres, schweres Unglück durchzumachen, ein nicht wiedergutzumachendes Unglück und ein Unglück, an dem er selbst schuld war.
Jaschwin holte ihn mit der Mütze ein, begleitete ihn nach Hause, und nach einer halben Stunde erlangte Wronski seine Fassung wieder. Aber die Erinnerung an dieses Rennen blieb lange in seiner Seele die drückendste und quälendste seines Lebens.
26
Alexei Alexandrowitschs äußeres Verhältnis zu seiner Frau war dasselbe geblieben wie vorher. Der einzige Unterschied bestand darin, daß er durch seine amtliche Tätigkeit noch stärker in Anspruch genommen war als früher. Wie in den vorhergehenden Jahren war er auch diesmal beim Beginn des Frühjahrs in ein ausländisches Bad gereist, um seine Gesundheit wiederherzustellen, die durch die von Jahr zu Jahr schlimmer werdende winterliche Arbeit angegriffen war. Und wie gewöhnlich war er im Juli zurückgekehrt und hatte sich sofort mit doppelter Tatkraft wieder an seine gewohnte Arbeit gemacht. Und wie gewöhnlich war seine Frau in die Sommerfrische übergesiedelt, während er in Petersburg geblieben war.
Seit jenem Gespräch nach der Abendgesellschaft bei der Fürstin Twerskaja hatte er mit Anna nie wieder von seinem Verdachte und von seiner Eifersucht geredet, und sein gewöhnlicher Ton, durch den er andere Menschen nachahmte und verspottete, paßte in der denkbar besten Weise zu seinem jetzigen Verhältnis zu seiner Frau. Er benahm sich etwas kühler gegen sie. Es schien, als wäre er nur ein klein wenig unzufrieden mit ihr wegen jenes ersten nächtlichen Gespräches, das sie abgelehnt hatte. In der Art, wie er mit ihr verkehrte, lag eine leise Spur von Verdrossenheit, aber nicht mehr. ›Du hast dich mit mir nicht aussprechen wollen‹, sagte er gleichsam in Gedanken zu ihr, ›nun hast du davon den Schaden. Jetzt wirst du bald kommen und mich bitten; aber dann werde ich auf keine Aussprache mehr eingehen. Nun, wie du willst!‹ sagte er in Gedanken, wie wenn jemand nach vergeblichen Versuchen, einen Brand zu löschen, über die Nutzlosigkeit seiner Anstrengungen ärgerlich würde und zu dem brennenden Gegenstande sagte: ›Na, da hast du's; nun verbrennst du durch deine Schuld!‹
Er, dieser kluge und in dienstlichen Angelegenheiten so scharfsinnige Mann, begriff nicht, wie sinnlos ein solches Verhältnis zu seiner Frau war. Er begriff das nicht, weil er sich geradezu davor fürchtete, seine jetzige Lage zu verstehen, und in seiner Seele den Schubkasten, in dem sich sein Familiensinn befand, das heißt seine Gefühle für seine Frau und seinen Sohn, zugemacht, verschlossen und versiegelt hatte. Er, sonst ein so sorgsamer Vater, war seit dem Ende dieses Winters sehr kühl gegen seinen Sohn geworden und bediente sich ihm gegenüber desselben höhnischen Tones wie seiner Frau gegenüber. ›Nun, junger Mann?‹ pflegte er ihn anzureden.
Alexei Alexandrowitsch glaubte und sprach das auch aus, daß er noch in keinem Jahre amtlich so viel zu tun gehabt habe wie in diesem; aber er gestand sich nicht ein, daß er in diesem Jahre sich allerlei mühsame Geschäfte selbst erst aussann und daß dies eines der Mittel war, um jenes Fach nicht öffnen zu müssen, in dem seine Gefühle für seine Frau und seinen Sohn und seine Gedanken über diese beiden lagen und ihm, je länger sie dort lagen, um so furchtbarer wurden. Hätte jemand das Recht gehabt, Alexei Alexandrowitsch zu fragen, was er über das Betragen seiner Frau denke, so würde der sanfte, friedliche Alexei Alexandrowitsch nichts darauf geantwortet haben, wohl aber sehr zornig auf den Menschen geworden sein, der eine solche Frage an ihn gerichtet hätte. Aus ebendiesem Grunde nahm auch Alexei Alexandrowitschs Gesicht eine Miene stolzer, strenger Ablehnung an, wenn sich jemand bei ihm nach dem Befinden seiner Frau erkundigte. Er wollte an das Verhalten und an die Gefühle seiner Frau nicht denken und dachte auch wirklich nicht daran.
Das Landhaus, das Alexei Alexandrowitsch dauernd gemietet hatte, lag in Peterhof, und gewöhnlich verlebte auch die Gräfin Lydia Iwanowna den Sommer an demselben Orte, in Annas Nachbarschaft und in beständigem Verkehr mit ihr. Aber in diesem Jahre hatte die Gräfin Lydia Iwanowna darauf verzichtet, in Peterhof zu wohnen, war auch nicht ein einziges Mal bei Anna Arkadjewna zu Besuch gewesen und hatte Alexei Alexandrowitsch gegenüber auf die Unschicklichkeit von Annas engem Verkehr mit Betsy und Wronski andeutend hingewiesen. Alexei Alexandrowitsch hatte sie in scharfem Tone unterbrochen, seine Ansicht dahin ausgesprochen, seine Frau stehe über jedem Verdachte, und war seitdem einem Zusammentreffen mit der Gräfin Lydia Iwanowna aus dem Wege gegangen. Er wollte nicht sehen und sah wirklich nicht, daß in der Gesellschaft bereits viele Leute scheel auf seine Frau blickten; er wollte nicht begreifen und begriff wirklich nicht, warum seine Frau mit so besonderem Eifer gewünscht hatte, lieber nach Zarskoje Selo überzusiedeln, wo Betsy wohnte und von wo das Lager des Wronskischen Regiments nicht weit entfernt war. Er gestattete sich nicht, darüber nachzudenken, und dachte auch wirklich nicht darüber nach; aber obgleich er es in seinem tiefsten Innern niemals gegen sich selbst aussprach und keinerlei Beweise, ja nicht einmal Verdachtsgründe dafür hatte, war er doch mit zweifelloser Sicherheit davon überzeugt, daß er ein betrogener Ehemann war, und war darüber tief unglücklich.
Wie oft hatte Alexei Alexandrowitsch während seines achtjährigen glücklichen Zusammenlebens mit seiner Frau im Hinblick auf fremde treulose Ehefrauen und betrogene Ehemänner bei sich selbst gesagt: ›Wie kann man es nur so weit kommen lassen? Wie kann man nur eine so greuliche Lage fortdauern lassen, statt ihr mit starker Hand ein Ende zu machen?‹ Aber jetzt, wo dieses Unglück sein eigenes Haupt betroffen hatte, dachte er nicht daran, dieser Lage ein Ende zu machen, ja, er wollte sie überhaupt nicht kennen, wollte sie ebendeshalb nicht kennen, weil sie gar zu schrecklich, gar zu widernatürlich war.
Seit seiner Rückkehr aus dem Auslande war Alexei Alexandrowitsch zweimal im Landhause gewesen. Das eine Mal hatte er dort zu Mittag gegessen, das andere Mal einen Abend mit Gästen dort verlebt; aber übernachtet hatte er dort nie, was er doch in früheren Jahren zu tun gewohnt gewesen war.
Der Tag des Rennens war für Alexei Alexandrowitsch besonders stark besetzt; er hatte sich schon am Morgen einen genauen Tagesplan entworfen und beschlossen, gleich nach einem frühen Mittagessen zu seiner Frau nach dem Landhause zu fahren und von dort zum Rennen, für welches das Erscheinen des ganzen Hofes angesagt war und bei dem er daher auch anwesend sein mußte. Zu seiner Frau wollte er deswegen heranfahren, weil er sich vorgenommen hatte, sie des Anstandes wegen einmal in der Woche zu besuchen. Außerdem mußte er ihr an diesem Tage, als dem fünfzehnten des Monats, der eingeführten Ordnung gemäß das Wirtschaftsgeld einhändigen.
Wie gewöhnlich hielt er seine Gedanken in strenger Zucht und gestattete ihnen, während er das alles in bezug auf seine Frau überlegte, nicht, sich über diese Grenze hinaus mit Dingen, die seine Frau betrafen, zu beschäftigen.
Den Vormittag über hatte Alexei Alexandrowitsch außerordentlich viel zu tun. Tags zuvor hatte ihm die Gräfin Lydia Iwanowna eine Schrift eines berühmten, zur Zeit sich in Petersburg aufhaltenden Chinareisenden zugesandt, nebst einem Briefe, in dem sie ihn bat, den Reisenden, als einen in vieler Hinsicht interessanten und wertvollen Mann, persönlich zu empfangen. Alexei Alexandrowitsch hatte am Abend nicht mehr Zeit gehabt, die Schrift ganz durchzulesen, und las sie nun am Morgen zu Ende. Dann erschienen Bittsteller; es begannen die Vorträge, die Empfänge, die Beschlußfassung über Ernennung und Absetzung von Beamten, über zu erteilende Gratifikationen, Pensionen, Gehälter; dann mußte mancherlei Briefwechsel erledigt werden: lauter Handwerksarbeit, wie Alexei Alexandrowitsch sich ausdrückte, die sehr viel Zeit in Anspruch nahm. Darauf folgte eine persönliche Angelegenheit: der Besuch seines Arztes und der seines Geschäftsführers. Dieser nahm nicht viel Zeit in