Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo Tolstoi
Читать онлайн книгу.erfreulich, da im letzten Jahre infolge der häufigen Reisen die Ausgaben ungewöhnlich groß gewesen waren, so daß sich ein Fehlbetrag ergab. Dagegen nahm der Arzt, der einer der angesehensten in Petersburg und mit Alexei Alexandrowitsch persönlich befreundet war, recht viel Zeit in Anspruch. Alexei Alexandrowitsch hatte ihn an diesem Tage gar nicht erwartet und war über sein Erscheinen erstaunt und noch mehr darüber, daß der Arzt ihn sehr eingehend über seinen Gesundheitszustand ausfragte, seine Brust behorchte und seine Leber beklopfte und befühlte. Alexei Alexandrowitsch wußte nicht, daß seine Freundin Lydia Iwanowna auf Grund ihrer Wahrnehmung, daß Alexei Alexandrowitschs Gesundheit in diesem Jahre gar nicht gut sei, den Arzt gebeten hatte, doch einmal zu ihm zu fahren und den Kranken zu untersuchen. ›Tun Sie es um meinetwillen!‹ hatte die Gräfin Lydia Iwanowna gesagt.
›Ich werde es um Rußlands willen tun, Gräfin‹, hatte der Arzt erwidert.
›Ja, er ist ein unschätzbarer Mann!‹ hatte die Gräfin ausgerufen.
Der Arzt war mit Alexei Alexandrowitsch sehr unzufrieden. Er fand, daß die Leber bedeutend vergrößert, die Ernährung vermindert und der Erfolg der Badekur gleich Null sei. Er verordnete ihm möglichst viel körperliche Bewegung und möglichst wenig geistige Anstrengung und vor allen Dingen Vermeidung aller Aufregung, also gerade etwas, was für Alexei Alexandrowitsch ebenso unmöglich war wie die Unterlassung des Atemholens. Und als der Arzt sich entfernt hatte, blieb Alexei Alexandrowitsch mit dem unangenehmen Bewußtsein zurück, daß irgend etwas mit ihm nicht richtig sei und daß es dafür keine Heilung gebe.
Als der Arzt von Alexei Alexandrowitsch weggegangen war, stieß er auf den Stufen vor der Haustür mit dem ihm wohlbekannten Herrn Sljudin, dem Subdirektor Alexei Alexandrowitschs, zusammen. Sie kannten sich von der Universität her, und obgleich sie jetzt nur selten miteinander zusammenkamen, schätzten sie sich doch wechselseitig sehr und waren gute Freunde; und darum sprach der Arzt zu Sljudin seine Meinung über den Patienten offenherziger aus, als er es irgendeinem anderen gegenüber getan haben würde.
»Wie freue ich mich, daß Sie bei ihm gewesen sind«, sagte Sljudin. »Er ist nicht recht gesund, und mir scheint ... Nun, wie steht es?«
»Die Sache ist die«, antwortete der Arzt und winkte über Sljudins Kopf hinweg seinem Kutscher zu, er möchte vorfahren, »die Sache ist die«, sagte er noch einmal, indem er einen Finger eines seiner Glacéhandschuhe mit seinen beiden weißen Händen faßte und straff zog, »wenn Sie eine Saite nicht spannen und sie in diesem Zustand zu zerreißen versuchen, so ist das sehr schwer; aber spannen Sie sie bis zum äußersten Grade der Möglichkeit an und üben Sie dann nur einen mäßigen Druck mit dem Finger aus, so wird sie reißen. Und er bei seiner unausgesetzten Tätigkeit, bei seiner Gewissenhaftigkeit im Arbeiten, er ist bis zum äußersten Grade angespannt, und ein anderweitiger Druck ist vorhanden, und zwar ein recht schwerer Druck«, schloß der Arzt und zog dabei die Brauen bedeutsam in die Höhe. »Werden Sie bei dem Rennen sein?« fügte er hinzu, während er in den Wagen stieg, der inzwischen vorgefahren war. »Ja, ja, selbstverständlich, es raubt einem viel Zeit«, antwortete er noch auf etwas, was Sljudin gesagt, er selbst aber nicht mehr deutlich verstanden hatte.
Nach dem Arzte, dessen Besuch soviel Zeit gekostet hatte, erschien der berühmte Reisende, und Alexei Alexandrowitsch, der sowohl seine früheren Kenntnisse von diesem Gegenstande wie auch die soeben beim Lesen der Schrift neugewonnenen im Gespräche verwertete, überraschte den Reisenden durch sein tiefes Wissen auf diesem Gebiete und durch seinen weitreichenden, klaren Blick für diese Dinge.
Zugleich mit dem Reisenden wurde ihm auch der Besuch eines Gouvernements-Adelsmarschalls gemeldet, der nach Petersburg gekommen war und mit dem er verhandeln mußte. Nachdem dieser wieder gegangen war, mußte die ›Handwerksarbeit‹ mit dem Subdirektor zu Ende geführt werden, und dann mußte sich Alexei Alexandrowitsch noch wegen einer sehr ernsten, wichtigen Sache zu einer hochgestellten Persönlichkeit begeben. Er brachte es nur mit Mühe fertig, um fünf Uhr, der von ihm für das Mittagessen festgesetzten Zeit, zurück zu sein, und nachdem er mit seinem Subdirektor zusammen gespeist hatte, lud er diesen ein, mit ihm nach dem Landhause und zum Rennen zu fahren.
Ohne sich selbst über den Grund dieser Handlungsweise Rechenschaft abzulegen, suchte Alexei Alexandrowitsch es jetzt immer so einzurichten, daß er mit seiner Frau nur in Gegenwart eines Dritten zusammen war.
27
Anna stand im oberen Stockwerk vor dem Spiegel und steckte mit Annuschkas Hilfe die letzte Schleife an ihr Kleid, als sie vor der Haustür das knirschende Geräusch von Rädern auf dem Kies hörte.
›Für Betsy ist es noch zu früh‹, dachte sie, sah durch das Fenster und erblickte den Wagen, aus dem eben Alexei Alexandrowitsch seinen Kopf mit dem schwarzen Hute und den ihr so wohlbekannten Ohren heraussteckte. ›Das kommt mir unerwünscht; er wird doch nicht die Nacht über hierbleiben?‹ dachte sie, und alle die Folgen, die das haben konnte, erschienen ihr so entsetzlich und furchtbar, daß sie, ohne sich auch nur einen Augenblick zu besinnen, mit heiterem, strahlendem Gesichte aus dem Zimmer den beiden Herren entgegenging; sie fühlte, daß der ihr schon wohlbekannte Geist der Lüge und des Truges in ihr wieder lebendig wurde, überließ sich sofort seinen Eingebungen und begann zu reden, ohne selbst zu wissen, was sie sagen werde.
»Ah, das ist einmal nett!« sagte sie, reichte ihrem Manne die Hand und begrüßte Sljudin als einen Freund des Hauses mit einem freundlichen Lächeln. »Ich hoffe, du bleibst über Nacht hier?« das waren die ersten Worte, die ihr der Geist des Truges zuflüsterte, »und jetzt wollen wir zusammen zum Rennen fahren. Nur schade, daß ich mich mit Betsy verabredet habe. Sie will mich abholen.«
Alexei Alexandrowitsch runzelte bei dem Namen Betsy die Stirn.
»Oh, ich werde die Unzertrennlichen nicht trennen«, antwortete er in seinem gewöhnlichen scherzenden Tone. »Ich werde mit Michail Wasiljewitsch zusammen fahren. Auch ist mir ärztlicherseits empfohlen worden, recht viel zu gehen; ich werde also unterwegs aussteigen und eine Strecke zu Fuß gehen und mir dabei vorstellen, daß ich noch im Badeort sei.«
»Wir haben noch viel Zeit«, sagte Anna. »Wünschen die Herren nicht eine Tasse Tee?«
Sie klingelte.
»Bringen Sie Tee und sagen Sie zu Sergei, daß Alexei Alexandrowitsch gekommen ist. Nun, wie steht es denn mit deiner Gesundheit? Michail Wasiljewitsch, Sie sind in diesem Jahre noch nie bei mir hier draußen gewesen; sehen Sie nur, wie schön es auf meiner Terrasse ist«, sagte sie, sich bald an den einen, bald an den andern wendend.
Sie sprach ungezwungen und natürlich, aber zu viel und zu schnell. Sie fühlte das selbst und um so mehr, da sie an dem forschenden Blicke, mit dem Michail Wasiljewitsch sie ansah, merkte, daß er sie beobachtete.
Michail Wasiljewitsch trat sogleich auf die Terrasse hinaus.
Sie setzte sich neben ihren Mann.
»Du siehst nicht recht wohl aus«, sagte sie zu ihm.
»Ja«, antwortete er, »heute ist der Arzt bei mir gewesen und hat mir eine Stunde Zeit geraubt. Es kommt mir vor, als hätte ihn einer meiner Freunde zu mir geschickt; so kostbar ist ihnen meine Gesundheit.«
»Und was hat er gesagt?«
Sie fragte ihn allerlei über seine Gesundheit und über seine Tätigkeit und redete ihm zu, sich mehr Erholung zu gönnen und zu ihr in die Sommerfrische herauszuziehen.
Alles dies sagte sie schnell und in heiterem Tone und mit einem besonderen Glanze in den Augen; aber Alexei Alexandrowitsch maß diesem Tone jetzt keine Bedeutung bei. Er hörte nur ihre Worte und faßte sie nur in ihrem natürlichen Sinne auf. Er antwortete ihr ungezwungen, wenn auch in seiner scherzhaften Art. Dieses ganze Gespräch hatte keine besondere Eigentümlichkeit; aber in der Folgezeit konnte Anna an diese kurze Begebenheit nie ohne ein schmerzhaftes, peinliches Gefühl der Scham zurückdenken.
Der kleine Sergei kam, von seiner Gouvernante geführt, herein. Hätte Alexei Alexandrowitsch es sich nicht zum Grundsatz gemacht gehabt, keine Beobachtungen anzustellen, so würde