Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo Tolstoi

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Anna Karenina | Krieg und Frieden - Leo Tolstoi


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Canut und seiner Schwester. Hauptsächlich aber verkehrten Schtscherbazkis (das hatte sich ganz von selbst so gemacht) mit einer Moskauer Dame, Marja Jewgenjewna Rtischtschewa, und ihrer Tochter, die Kitty unsympathisch war, weil sie, ebenso wie sie selbst, an Liebeskummer krankte, und mit einem Moskauer Obersten, den Kitty von ihrer Kindheit an nur in Uniform und mit Achselstücken gesehen und gekannt hatte und der hier mit seinen kleinen Augen und dem offenen Hals und der bunten Krawatte recht komisch aussah und außerdem seinen Bekannten dadurch langweilig wurde, daß man sich gar nicht wieder von ihm losmachen konnte, wenn man sich einmal in ein Gespräch mit ihm eingelassen hatte. Als alles dies eine so feste Form angenommen hatte, begann Kitty sich sehr zu langweilen, um so mehr, da ihr Vater, der Fürst, nach Karlsbad gereist und sie mit der Mutter allein zurückgeblieben war. Sie hatte kein Interesse an den Leuten, die sie schon kannte, da sie wußte, daß sie an ihnen nichts Neues mehr entdecken werde. Ihre hauptsächlichste und liebste Beschäftigung in diesem Badeorte bestand darin, die, die sie noch nicht kannte, zu beobachten und zu erraten, was das wohl für Leute sein möchten. Es lag in Kittys Charakter, von allen Menschen das Beste zu denken, und ganz besonders von denen, die sie nicht kannte. Auch während sie jetzt zu erraten suchte, wer und was diese Leute wohl seien und was für Beziehungen zwischen ihnen beständen, malte sie sich die schönsten, edelsten Charaktere aus und glaubte in dem, was sie beobachtete, eine Bestätigung ihrer Mutmaßungen zu finden.

      Ihre besondere Teilnahme erregte unter diesen Persönlichkeiten ein russisches Fräulein, das zusammen mit einer älteren, kranken russischen Dame nach dem Badeorte gekommen war, mit einer Madame Stahl, wie sie von allen genannt wurde. Madame Stahl gehörte zur obersten Schicht der Gesellschaft, war aber so krank, daß sie nicht gehen konnte und nur ganz selten an besonders schönen Tagen in einem Rollstuhl am Brunnen erschien. Indessen sprach die Fürstin Schtscherbazkaja ihre Ansicht dahin aus, daß Madame Stahl nicht sowohl infolge ihrer Krankheit wie aus Stolz den Verkehr mit den anwesenden Russen meide. Das russische Fräulein versah bei dieser Madame Stahl die Stelle einer Pflegerin und war auch mit allen andern Schwerkranken, deren es in dem Badeorte eine ganze Menge gab, bekannt und nahm sich ihrer in der unbefangensten, natürlichsten Weise an. Dieses russische Fräulein war nach Kittys Beobachtungen keine Verwandte der Madame Stahl, dabei aber auch keine für Lohn angenommene Pflegerin. Sie wurde von Madame Stahl Warjenka genannt, von anderen Mademoiselle Warjenka. Mit lebhaftem Interesse stellte Kitty ihre Beobachtungen an über die Beziehungen dieses Fräuleins zu Frau Stahl und zu andern ihr unbekannten Personen; ja noch mehr: Kitty empfand, wie das nicht selten vorkommt, eine unerklärliche Neigung zu dieser Mademoiselle Warjenka und fühlte, wenn ihre Blicke sich trafen, daß auch jene an ihr Gefallen fand.

      Mademoiselle Warjenka sah nicht so aus, als habe sie die erste Jugend bereits hinter sich, sondern eher wie ein Wesen, dem die Jugend überhaupt versagt ist; man konnte sie auf neunzehn Jahre schätzen, aber auch auf dreißig Jahre. Betrachtete man ihre Gesichtszüge, so konnte man sie trotz ihrer kränklichen Hautfarbe eher hübsch als häßlich nennen. Auch eine schöne Gestalt hätte man ihr zusprechen können, wäre nicht ihr Körper allzu mager und ihr Kopf für ihre mittlere Größe unverhältnismäßig groß gewesen; aber auf Männer konnte sie keine Anziehungskraft ausüben. Sie glich einer schönen, zwar noch vollblättrigen, aber doch schon verblühten, duftlosen Blume. Außerdem konnte sie auch noch deswegen auf die Männer nicht anziehend wirken, weil ihr das mangelte, was Kitty im Übermaße besaß: das tiefinnerliche Lebensfeuer und das Bewußtsein der eigenen Anziehungskraft.

      Sie schien stets mit Dingen von entschieden ernstem Charakter beschäftigt zu sein, und es machte daher den Eindruck, als könne sie für nichts Andersartiges Sinn haben. Auf Kitty übte sie gerade durch diesen starken Gegensatz zu ihrer eigenen Person eine besondere Anziehungskraft aus. Kitty fühlte, daß sie bei diesem Mädchen und dessen ganzer Lebensgestaltung ein vorbildliches Beispiel für das finden werde, wonach sie jetzt so schmerzlich suchte: ernste Lebensinteressen und Lebenswerte, außerhalb der ihr jetzt so zuwider gewordenen gesellschaftlichen Beziehungen eines jungen Mädchens zum männlichen Geschlechte, die ihr jetzt als eine schmähliche Ausstellung einer auf einen Käufer wartenden Ware erschienen. Je länger Kitty ihre unbekannte Freundin beobachtete, um so mehr kam sie zu der Überzeugung, daß dieses Mädchen wirklich das ideale Wesen sei, als das es ihr erschien, und um so sehnlicher wünschte sie mit ihr bekannt zu werden.

      Die beiden Mädchen begegneten einander mehrmals täglich, und bei jeder Begegnung fragten Kittys Augen: ›Wer sind Sie? Was sind Sie? Nicht wahr, Sie sind wirklich das prächtige Wesen, für das ich Sie halte? Aber glauben Sie ja nicht‹, fügte ihr Blick hinzu, ›daß ich so dreist bin, Ihnen meine Bekanntschaft aufdrängen zu wollen. Ich freue mich einfach Ihres Anblicks und habe Sie sehr gern.‹ – ›Ich habe Sie auch sehr gern‹, erwiderte der Blick des unbekannten Mädchens, ›und Sie sind sehr, sehr lieb und nett. Und ich würde Sie noch lieber haben, wenn ich nur mehr Zeit hätte.‹ Und in der Tat, Kitty sah, daß sie stets beschäftigt war: entweder führte sie die Kinder einer russischen Familie vom Brunnen nach Hause, oder sie brachte einer Kranken ein Umschlagtuch und wickelte sie darin ein, oder sie war bemüht, einen nervösen Kranken zu unterhalten und zu zerstreuen, oder sie kaufte für jemand Backwerk zum Kaffee.

      Bald nach der Ankunft der Familie Schtscherbazki begannen beim morgendlichen Brunnentrinken noch zwei Personen regelmäßig zu erscheinen, die die allgemeine Aufmerksamkeit, jedoch nicht in freundlichem Sinne, auf sich zogen. Es waren dies: ein Mann von hohem Wuchse, aber gebückter Haltung, mit gewaltig großen Händen, in einem kurzen, für seine Gestalt nicht passenden alten Überzieher, mit schwarzen, naiv blickenden und dabei doch furchterregenden Augen, und eine sehr schlecht und geschmacklos gekleidete Frau mit pockennarbigem, aber sehr gutem, freundlichem Gesichte. Als Kitty diese beiden Personen als Russen erkannt hatte, begann sie sofort, sich über sie in ihrer Phantasie einen schönen, rührenden Roman zurechtzumachen. Aber die Fürstin, die aus der Kurliste ersehen hatte, daß dies Nikolai Ljewin und Marja Nikolajewna waren, klärte Kitty darüber auf, was für ein schlechter Mensch dieser Ljewin sei, und so lösten sich denn alle ihre phantastischen Träumereien über dieses Paar in nichts auf. Nicht nur, weil die Mutter ihr mancherlei über diesen Menschen erzählt hatte, sondern auch, weil dieser Mensch Konstantins Bruder war, erschienen ihr diese beiden Personen auf einmal im höchsten Grade abstoßend. Dieser Ljewin erregte ihr jetzt durch seine Gewohnheit, mit dem Kopfe zu zucken, ein unüberwindliches Gefühl des Widerwillens.

      Es schien ihr, als ob in seinen großen, schrecklichen Augen, die ihr hartnäckig folgten, ein Ausdruck von Haß und Spott liege, und sie bemühte sich, Begegnungen mit ihm zu vermeiden.

      31

      Eines Tages war ein recht garstiges Wetter; den ganzen Vormittag regnete es, und die Kranken drängten sich mit Schirmen im Wandelgang.

      Kitty wandelte dort mit ihrer Mutter und dem Moskauer Obersten hin und her, der vergnügt in seinem europäischen Oberrock einherstolzierte, den er sich in Frankfurt fertig gekauft hatte. Sie gingen auf der einen Seite des Wandelganges und bemühten sich, einem Zusammentreffen mit Ljewin auszuweichen, der auf der andern Seite ging. Warjenka, die wie gewöhnlich ein dunkles Kleid und einen schwarzen Hut mit hinuntergebogenen Krempen trug, wanderte mit einer blinden Französin den Wandelgang in seiner ganzen Länge auf und ab, und jedesmal, wenn sie und Kitty einander begegneten, warfen sie sich wechselseitig einen freundlichen Blick zu.

      »Mama, darf ich sie anreden?« sagte Kitty. Sie war ihrer unbekannten Freundin mit den Blicken gefolgt und hatte bemerkt, daß diese zum Brunnen ging, wo sich ein Zusammentreffen leicht ermöglichen ließ.

      »Nun, wenn das so sehr dein Wunsch ist, so will ich mich zunächst nach ihr erkundigen und dann selbst mit ihr anknüpfen«, erwiderte die Mutter. »Was hast du denn Besonderes an ihr gefunden? Wahrscheinlich ist sie eine Gesellschafterin. Wenn du es gern möchtest, will ich mich mit Madame Stahl bekannt machen. Ich habe ihre belle-sœur gekannt«, fügte die Fürstin, stolz den Kopf erhebend, hinzu.

      Kitty wußte, daß ihre Mutter sich dadurch verletzt fühlte, daß Frau Stahl es anscheinend vermied, ihre Bekanntschaft zu machen. So drang Kitty nicht weiter in sie.

      »Nein, wie lieb und gut sie ist!« sagte sie, als sie nach Warjenka gerade in dem Augenblicke hinschaute, da diese der Französin


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