Intertextualität und Parodie in Ovids Remedia amoris. Maria Anna Oberlinner
Читать онлайн книгу.welche die Remedia mit anderen Texten eingehen, d. h. den intertextuellen Verweis; Pfeile sollen dabei die Richtung der Bezugnahme kennzeichnen.7 Diese gehen grundsätzlich von der Spitze aus und ‚treffen auf‘ die Eckpunkte, da eine solche Beziehung aktiv und bewusst hergestellt ist. Doch auch auf der Grundebene können sich diese Pfeile finden, wenn etwa ein Intertext der Remedia amoris wiederum selbst in einer intertextuellen Beziehung zu einem anderen Text steht. Die bereits erwähnten, ja durchaus möglichen, Dreiecksbeziehungen lassen sich weiterhin darstellen, allerdings durch die Höhenstruktur hierarchisch geformt. Anschaulich gesprochen konstituieren sie eine der Seiten- und Schnittflächen8 der Pyramide (siehe das allgemeine Strukturmodell in Abbildung 1). Die Entstehung dieser Flächen führt mich zur zweiten Form der Intertextualität: Ging es bisher um die Visualisierung von Einzeltextreferenzen, lassen sich durch diese Flächen Systemreferenzen darstellen, nämlich dann, wenn alle an der Flächenkonstituierung beteiligten ‚Punkte‘/Texte dieselbe literarische Gattung vertreten. Es öffnet sich dadurch sozusagen das Gattungsfeld bzw. eine Gattungsebene, die zwischen diesen Punkten aufgespannt ist.9 Eine solche Vorstellung entspricht der Sicht auf literarische Gattungen vor allem dann, wenn man davon ausgeht, dass die Entstehung von Genres nicht, oder auch nicht nur, aus der präskriptiven Festsetzung eines Regelsets an Gattungselementen besteht, sondern dass sich Gattungen durch Fortentwicklungen bestehender Motive und intertextuelle Bezugnahmen im Lauf der Zeit konstituieren.10 Aussagen zu Gattungen möchte ich aber nicht auf diese Flächen beschränken, da es möglich ist, dass etwa in einzelnen satirischen Texten didaktische Gattungselemente integriert sind und auf produktive Weise verhandelt werden (z. B. in Hor. sat. 1, 2) oder ein Text allein schon Vertreter einer Gattung sein kann. Als Beispiel sei kurz Ovids Bezug auf jambische Traditionen genannt. In den Remedia amoris finden sich etwa unterschiedliche, teils gleichzeitige, Bezüge auf sowohl Catull als auch Horaz, also auf zentrale Repräsentanten dieser Gattung – wobei Horaz wiederum selbst auf den Jambiker Catull rekurriert (siehe das markierte Dreieck zur Beziehung zwischen Catull, den Epoden und den Remedia in Abbildung 2).11 Hier lässt sich sowohl die Beziehung zu den Einzeltexten untersuchen als auch der Frage nachgehen, welchen Anteil die Remedia an der jambischen Gattung, die durch diese lateinischen Dichter vermittelt wird und dabei weiterhin auf griechischen Traditionen fußt, haben.
Die Eckzahl der Grundfläche ist grundsätzlich variabel und je nach Zahl der Intertexte bzw. Autoren beliebig erweiterbar. Bei der Betrachtung eines so anspielungsreichen Textes wie der Remedia hat diese Flexibilität der dreidimensionalen Figur den Vorteil, dass sich alle Bezüge gleichzeitig abbilden lassen und das Modell nicht darauf beschränkt ist, nur die Referenzen auf einen oder zwei weitere Texte und Gattungen zu visualisieren. Gibt es etwa eine Beziehung zwischen vier Texten, beispielsweise zwischen Vergils Georgica, Lukrez’ De rerum natura, Ovids Ars amatoria und den Remedia amoris im Fall der ‚Sex-praecepta‘ (vgl. rem. 357–360 und 397–418),12 lassen sich die drei entstehenden Dreiecksflächen zu einem Vieleck verbinden, wobei jede der Kanten eine intertextuelle Beziehung, auch zwischen den einzelnen ovidischen Prätexten, bezeichnen kann, aber nicht muss (siehe die markierten Flächen in Abbildung 3). Geht man von einer Beziehung zwischen vier Texten aus, ergeben die aneinandergefügten Dreiecke ein Fünfeck, wenn man diese Figuren aus der dreidimensionalen Pyramide in die zweidimensionale Ebene überführt und alle Bezugskanten gleichzeitig darstellen möchte (siehe das Intertextualitätsvieleck in Abbildung 4). Um beim genannten Beispiel zu bleiben: Auch wenn ich die Remedia als wichtigsten Bezugspunkt im Hierarchiesystem betrachte, ist bei diesem Modell zu bedenken, dass die Ars ebenfalls auf die Georgica-Stelle und Lukrez anspielt. Das heißt, man muss den Lukrez-Punkt an einer imaginären vertikalen Symmetrieachse, auf der die Remedia liegen, spiegeln, damit man in demselben Vieleck auch das Dreieck Remedia amoris – Ars amatoria – De rerum natura visualisieren und die Ars sowohl mit dem vergilischen als auch dem lukrezischen Intertext verbinden kann.13
Hier zeigt sich ein kleiner Nachteil meines Modells. Die hierarchische Struktur mit einem Text als Spitze ist festgelegt, auch wenn, wie im letztgenannten Beispiel, andere hierarchische Beziehungen simultan verzeichnet werden. Wenn Horaz’ Satiren etwa ebenfalls auf Lukrez rekurrieren, müssten sie eigentlich selbst an der Spitze einer Intertextualitätspyramide stehen, von der aus ein Pfeil ‚hinab‘ zu Lukrez’ De rerum natura sowie weiteren relevanten Intertexten zeigt. Dieser Nachteil, dass jeweils nur eine ‚Hierarchieperspektive‘ dargestellt werden kann, lässt sich aber dadurch kompensieren, dass das Modell auf andere Verhältnisse übertragbar ist. Die Texte an den Punkten der Pyramide sind austauschbar, man kann sich dieses Visualisierungsversuches also bei jedem Gespräch über Intertextualität bedienen und nach Wunsch mehrere Intertextualitätspyramiden nebeneinanderstellen.
Ich betrachte also in den folgenden Kapiteln, die sich an den Texten und Gattungen orientieren, sowohl Referenzen auf einzelne Prätexte als auch auf Gattungssysteme und untersuche bei einer nützlichen Zusammenführung dieser beiden Perspektiven beides gleichzeitig – etwa auch, wenn mehr als nur ein Prätext für eine Remedia-Passage relevant ist und so ein mehrsträngiges Intertextualitätsgeflecht entsteht oder sich eben Aussagen zu Gattungstraditionen, die durch diese Texte vermittelt sind, treffen lassen. Das heißt, dass ich einerseits je eine Verbindung zwischen den Remedia und einem Intertext-Eckpunkt, also den ‚Pfeil‘ an jeweils einer Kante entlang, fokussiere und andererseits auch ‚Intertextualitätsvielecke‘ mit berücksichtige, die zusätzlich Gattungsebenen aufspannen können. Damit möchte ich dem Vorgehen Ovids, zugleich auf etwa Horaz, Lukrez, Catull und seine eigene Ars und damit auch auf die Gattungen Satire, Jambus und erotisches Lehrgedicht anzuspielen, analytisch gerecht werden.14 Ich versuche dabei, deutlich zu benennen, welche Erkenntnisse sich auf einzelne Prätexte beziehen und wann Aussagen zu Gattungssystemen möglich sind, bei Überschneidungen also dadurch größtmögliche Klarheit schaffen – was insofern nicht immer leicht ist, als man die bei Ovid gleichzeitig stattfindenden Intertextualitätsprozesse in einzelnen, voneinander getrennten Schritten untersuchen und evaluieren muss. Alle diese Aufgliederungs- und Interpretationsversuche dienen jedoch letztlich dem Ziel, das Verständnis einzelner Textpassagen sowie des Gesamtkontextes und der strukturellen Komposition der Remedia zu fördern und dem (kallimacheischen) Kunstwerk eines fein gesponnenes Netzes an Bezügen gerecht zu werden.
Allgemeines Strukturmodell der Intertextualitätspyramide
Jambische Traditionen im Pyramidenmodell zu den Remedia amoris
Didaktische Traditionen im Pyramidenmodell zu den Remedia amoris
Intertextualitätsvieleck zu den ‚Sex-praecepta‘
4 (Gattungs-)Rezeption, Innovation und Intertextualität in den Remedia amoris
Auf der Grundlage der Ausführungen zum literaturtheoretischen Rahmen und der Struktur der Remedia wird im Folgenden untersucht, wie Ovid paradigmatische Texte seiner Zeit, v. a. das Lehrgedicht des Lukrez, Horaz’ Epoden und Satiren und Catulls Carmina, strukturell und motivisch in seine Remedia integriert und durch Transgression von Gattungsgrenzen bzw. produktiv-reorganisierende Rezeption und Integration von insbesondere jambisch-satirischen Gattungsmerkmalen dem erotodidaktischen Lehrgedicht seine spezifische Form gibt.
4.1 Ovids parodistische Inversion von Lukrez’ philosophischem Lehrgedicht
Zum ersten Mal greifbar wird die intertextuelle Bezugnahme auf Lukrez’ Diatribe gegen die Liebesleidenschaft im Finale von De rerum natura liber 4 (Lucr. 4, 1058–1191) bei der Frage danach, wann der Heilungsprozess am besten einzuleiten sei (vgl. V. 79–134), also noch in der Einleitung zu Ovids tractatio.1