Intertextualität und Parodie in Ovids Remedia amoris. Maria Anna Oberlinner

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Intertextualität und Parodie in Ovids Remedia amoris - Maria Anna Oberlinner


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lukrezischen Rationalismus aber diametral entgegensteht; das Mittel zum – beiden Werken gemeinsamen – Ziel der Befreiung von Liebe und Liebeswahn bildet also einen Kontrast zum philosophischen Lehrgedicht. Auch wenn die Brüche mit der Vorlage bereits innerhalb der lukrezischen ‚Heilmethoden-Klammer‘ spürbar sind, wird der Kontrast nie so klar ersichtlich wie in dem praeceptum in V. 489–522,21 in dem Ovid die Aufforderung zur Täuschung derart deutlich expliziert.

      Doch wie lässt sich dieser Befund interpretieren? Welches Verhältnis von Ovid zu Lukrez kann hieraus erschlossen werden? In den vergangenen Jahrzehnten wurde des Öfteren der Begriff des (literarischen) Spiels22 herangezogen. Joachim Latacz etwa interpretierte Ovids Umgang mit der epischen Tradition in den Metamorphosen auf diese Weise,23 und auch bei Niklas Holzberg24, Bernd Effe25 und Marion Steudel26 findet sich diese Ansicht im Hinblick auf die Lehrgedichtstradition. Diese Sicht ist für das Verständnis von Ovids Texten durchaus wichtig. Denn im Wesentlichen kann man dem tenerorum lusor amorum – so Ovids Selbstaussage in trist. 4, 10, 1 (vgl. auch die Grabinschrift trist. 3, 3, 73) – diese Haltung durchaus zusprechen: Ovid spielt mit literarischen Traditionen und verarbeitet sie u. a. zur besonderen Form der Remedia amoris. Doch ist das „literarische Spiel“ kein wissenschaftlich geeigneter Terminus, mit dem man die literarischen Besonderheiten von Ovids Texten präzise beschreiben könnte. Darüber hinaus kann man die zentralen Effekte, die sich aus der Reorganisation existierenden Sprachmaterials und Gattungstraditionen ergeben, hinreichend mit den Begriffen Intertextualität und Parodie beschreiben; denn der Humoraspekt, der für die Spiel-Überlegungen bedeutsam war, ist in diese Überlegungen untrennbar miteingeschlossen. Ich verbanne das Wort ‚Spiel‘ dabei aber nicht gänzlich aus meiner Abhandlung, da ich es nicht als ‚falsch‘ empfinde und es m. E. den Denkrahmen für die Gesamtinterpretation des ovidischen Œuvres richtig umspannt. Bei der textanalytischen Arbeit verzichte ich jedoch weitestgehend darauf und beschränke mich vor allem auf die genannten wissenschaftlichen Termini und verwende auch den neutraleren Begriff ‚Referentialität‘. Deutliche intertextuelle Bezüge und Witz, der sich aus parodistisch verarbeiteten Lukrezpassagen speist, sind also die Ergebnisse, die man beim Deutungsversuch, wie Ovids Remedia mit De rerum natura und der Gattung des Lehrgedichts im Allgemeinen umgehen, erhält. Damit wende ich mich – in entgegengesetzter ‚Stoßrichtung‘ – auch gegen Interpretationsansätze in diesem Feld, die eine ernst gemeinte Opposition zu Lukrez vermuten.27

      4.2 Parodie und Intertextualität: Die Remedia amoris und die didaktische Poesie

      4.2.1 Ovidische Erneuerungen in einer innovationsfreudigen Gattung

      Akzeptiert man die in Kapitel 3 festgehaltenen Definitionen, lassen sich die Remedia als Parodie der epikureischen Diatribe gegen den Liebeswahn interpretieren – denn dass Ovid in einem zentralen praeceptum mit lukrezischem Vokabular dessen erkenntnistheoretische Grundlagen ‚aus den Angeln hebt‘ und aus der philosophischen Verurteilung der Liebe ein Handbuch zum ‚Entlieben‘ macht, bezeugt eine tiefsinnige Form von Humor. Doch die parodistischen Momente,1 die sich aus dem Umgang mit Lukrez ergeben, sollten nicht isoliert betrachtet werden. Vielmehr müssen sie erweitert auch in Verbindung mit der mehrdimensionalen und zeitgleichen Referenz auf andere Intertexte gesehen werden. Das Ziel der Remedia ist, in summarischer Zusammenschau, eben nicht nur die Parodie einzelner Werke oder Aspekte, sondern allgemein gesprochen die „geistreiche Unterhaltung“ des Leserpublikums.2

      Ovid be- und verarbeitet auf analoge Weise z. B. die Georgica, einen neben Lukrez’ Werk ebenso zentralen Prätext für Ovids liebesdidaktische Tetralogie – und zwar hinsichtlich der Marko- und Mikrostruktur, Inhalt und Sprache.3 Strukturell fällt nicht nur auf, dass beide Werke eine vier Bücher umfassende Gesamtkomposition aufweisen.4 Die Remedia spiegeln im Aufbau der praecepta zu landwirtschaftlicher Betätigung allein schon in nuce die Georgica-Struktur wider, wie Boyd beobachtet hat: Beginnend mit dem Georgica-Stichwort rura (V. 169)5 reiht Ovid Tätigkeitsempfehlungen zu den Themen Ackerbau, Obstbäume, Tierzucht (Schafe und Rinder) und Bienen aneinander (vgl. V. 169–186). Dies entspricht der Abfolge der vier Georgica-Bücher, weshalb Boyd auch von Ovids „Little Georgics“ an dieser Stelle spricht.6

      Wie Erich Woytek (2000) zeigt, ruft Ovid durch die für ihn typische poetische Technik der verändernden Adaption literarischer Vorgänger das landwirtschaftliche Lehrgedicht mehrfach auch inhaltlich und lexikalisch in den Remedia auf:7 Der programmatische Rechtfertigungsexkurs (rem. 361–396) mit dem Ziel der Abwehr von Neidern in Ovids Werk stehe – auch wenn Vergil als epischer und nicht didaktischer Dichter hervorgehoben wird –8 so in enger Verbindung mit dem ebenfalls in der Mitte des Werkes platzierten Proöms zum dritten Buch der Georgica (vgl. georg. 3, 1–48,9 wobei auch die Sphragis der Amores in 1, 15 in die apologetische Passage integriert werde).10 Die Sexvorschriften in den Remedia (vgl. rem. 357f. und 397–418) würden ebenfalls besonders auf die an die genannte Georgica-Stelle anschließende Passage zur Rinder- und Pferdezucht (vgl. georg. 3, 49–241, v. a. 123–137) zurückblicken.11 Ovid jedoch transformiert, so Woytek, die im dritten Georgica-Buch enthaltenen Motive und Aussagen Vergils und verkehrt sie komisch ins Gegenteil: So hebt er im Literaturexkurs beispielsweise seine eigene dichterische Leistung immer stärker hervor, während sich Vergil im Binnen-Proöm der Georgica zurücknimmt und nur noch Oktavians Ruhm fokussiert; oder er ruft statt der zeitlichen Denotation von en age […] / rumpe moras (georg. 3, 42f.) die Ursprungsbedeutung des Verbums, „zerplatzen“, hervor (rumpere, Liuor edax, rem. 389), wenn er seine Kritiker adressiert.12 Das ovidische „Spie[l] mit vorgegebenem Sprachmaterial“ Vergils und die folgende ‚Herabsetzung‘ des Originals offenbart sich, wie Woytek ausführt, dem Leser auch, wenn die Zuchtvorschriften als literarisches Vorbild für das praeceptum zum menschlichen Sexualverhalten verwendet, in ihrer Aussage umgekehrt und in einen ‚anstößigen‘ Kontext gebracht werden.13 Die sorgfältige Auswahl der Zuchttiere (vgl. georg. 3, 49–71 und 72–122) und die Geschlechtertrennung zur Wahrung ihrer (sexuellen) Kräfte (vgl. georg. 3, 209–241) dürften etwa mit Ovids Vorschriften, mit jeder beliebigen Hetäre Sex zu haben und am besten mit zweien hintereinander zu verkehren, damit man sich von unglücklicher Liebe löst (vgl. rem. 401–404), kontrastiert werden;14 und auf die Hinweise zum Mästen der männlichen, nicht aber weiblichen, Tiere (vgl. V. 123–137) würde in den Remedia lexikalisch referiert.15 Dass Ovid nun das Verb inire, das eigentlich das tierische ‚Rammeln‘ bzw. Eindringen bezeichnet,16 für den menschlichen Koitus verwendet, könnte zudem – „generell“ und ohne konkrete Parallelstelle – augenzwinkernd auf den „animalischen Vorlagekontext“17 bei Vergil zurückverweisen.

      Ich möchte noch eine eigene Beobachtung zu diesen Sex-praecepta bei Ovid anführen: M. E. sind sie ein Beispiel für die mehrdimensionale Intertextualität, mit der Ovid verschiedene Lehrgedichte gleichzeitig hervorruft, um etwas Neues daraus zu bilden. Denn nicht nur die Georgica, sondern auch Lukrez’ Diatribe gegen die Liebesleidenschaft18 und Ovids eigene Ars stehen zugleich Modell für die Vorschrift, dass der Schüler durch ein bestimmtes Sexualverhalten den Prozess der Loslösung von der Liebe voranbringen könne. Während die bereits häufiger angeführte Passage aus den lukrezischen ‚Miniatur-Remedia‘19 als positives Vorbild für den Heilmittellehrgang einfließt, vgl. et iacere umorem collectum in corpora quaeque (Lucr. 4, 1065) und uulgiuagaque uagus Venere ante recentia cures (Lucr. 4, 1071f.), werden die genannten Georgica- wie auch entsprechende Ars-Stellen in Form der kontrastierenden (Selbst-)Imitation negativ evoziert:20 Denn im Anschluss an rem. 404 bringt der Liebestherapeut die Vorschläge, für das Mädchen möglichst unvorteilhafte Sexstellungen zu wählen (vgl. rem. 407–410). Und diese entsprechen wiederum den gegenteiligen Tipps des Liebeslehrers in der Ars, wenn er im dritten Buch jedem weiblichen Körper die ideale Position im Geschlechtsakt zuweist (vgl. ars 3, 769–772).21 Die intertextuelle Verbindung der Remedia mit diesen zwei Intertexten und der Ars als Intratext kann man, wie eingangs angeführt,22 durch das Modell der Intertextualitätspyramide veranschaulichen – Lukrez, Vergil und Ovids Ars, die Eckpunkte, bilden mit den Remedia als Spitze drei Dreiecke, die sich insofern zu einem Vier- bzw. Fünfeck verbinden lassen, als sie von den Heilmitteln als gemeinsamem interpretatorischen


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