Die hochzeit von Lyon. Novellen / Свадьба в Лионе. Новеллы. Книга для чтения на немецком языке. Стефан Цвейг

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Die hochzeit von Lyon. Novellen / Свадьба в Лионе. Новеллы. Книга для чтения на немецком языке - Стефан Цвейг


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und Geld und Haus und ein Geschäft… und nur das allein da ist wirklich, was ich mit den Fingern fühle, mein Leib und das Heiße in ihm innen, das weh tut… Alles andere ist Narrheit, hat keinen Sinn mehr… denn was da weh tut, tut nur mir allein weh… was mich sorgt, sorgt nur mich allein… sie verstehen mich nicht mehr und ich nicht mehr sie… ganz allein ist man mit sich selbst, nie hab ich’s so gespürt. Jetzt aber weiß ich’s, wo ich daliege und den Tod wachsen fühle unter der Haut, jetzt zu spät, im fünfundsechzigsten Jahr, knapp vor dem Verrecken, jetzt, indes sie tanzen und Spazierengehen oder sich umhertreiben, diese ehrlosen Weiber… jetzt weiß ich’s, dass ich nur ihnen gelebt, die mir’s nicht danken, und nie, nicht eine Stunde, mir selber … Aber was gehen sie mich noch an… was gehen sie mich noch an… wozu an sie denken, die nie an mich denken?… Lieber krepieren, als von ihnen Mitleid nehmen… was gehen sie mich noch an…“

      Nach und nach, schrittweise zurückweichend, ließ ihn der Schmerz: nicht mehr so krallig, nicht mehr so glühend griff diese grimmige Hand in den Leidenden hinein. Aber irgendein Dumpfes blieb, kaum als Schmerz mehr fühlbar, etwas Fremdes drückte und drängte, das nach innen seinen Stollen grub. Der alte Mann lag mit geschlossenen Augen und lauschte angespannt auf dies leise Zerren und Zehren: ihm war, als höhlte diese fremde, unbekannte Macht erst mit spitzem, jetzt mit stumpferem Werkzeug etwas in ihm aus, als lockerte und löste sich, Faser um Faser, etwas in seinem verschlossenen Leib. Es riss nicht mehr so wild. Es tat nicht mehr weh. Aber doch, etwas schwelte und faulte da leise innen, etwas fing an abzusterben. Alles, was er gelebt, alles, was er geliebt, verging in dieser langsam zehrenden Flamme, brannte schwarz und schwelend, ehe es mürb und verkohlt niederfiel in einen lauen Schlamm von Gleichgültigkeit. Etwas geschah, er spürte es dumpf, etwas geschah, indes er so lag und leidenschaftlich sein Leben überdachte. Etwas ging zu Ende. Was war es? Er lauschte und lauschte in sich hinein.

      Und allmählich begann der Untergang seines Herzens.

      Er lag, geschlossenen Auges, der alte Mann, in dem dämmernden Zimmer. Halb wachte er noch, halb träumte er schon. Und da, zwischen Schlummer und Wachen, schien es dem wirr Fühlenden so: ihm war, als sickerte von irgendwo (von einer Wunde, die nicht schmerzte und die er nicht wusste) ein Feuchtes, ein Heißes leise nach innen, als blute er sich aus in sein eigenes Blut. Es tat nicht weh, dies unsichtbare Fließen, es strömte nicht stark. Nur ganz langsam wie Tränen rinnen, rieselnd und lau, so fielen die Tropfen herab, und jeder von ihnen schlug mitten ins Herz. Aber das Herz, das dunkle, gab keinen Ton, still sog es dies fremde Geström in sich ein. Wie ein Schwamm sog sich’s an, wurde schwerer und schwerer davon, schon schwoll es an, schon quoll es auf in dem engen Gefüge der Brust. Allmählich voll und übervoll vom eigenen erfüllten Gewicht begann es leise nach abwärts zu ziehen, die Bänder zu dehnen, an den Muskeln, an den straffen, zu zerren, immer lastender drückte und drängte das schmerzhafte Herz, riesenhaft groß schon, hinab, der eigenen Schwere nach. Und jetzt (wie weh das tat!), jetzt löste das Schwere sich los aus den Fasern des Fleisches – ganz langsam, nicht wie ein Stein, nicht wie fallende Frucht; nein, wie ein Schwamm, vollgesogen von Feuchtem, sank es tiefer, immer tiefer hinab in ein Laues, ein Leeres, irgendwo hinab in ein Wesenloses, das außer ihm selber war, eine weite, unendliche Nacht. Und mit einem Male wurde es grauenhaft still an der Stelle, wo eben noch dies warme, quellende Herz gewesen: etwas gähnte dort leer, unheimlich und kalt. Es klopfte nicht mehr, es tropfte nicht mehr: ganz still war es innen geworden, ganz tot. Und hohl und schwarz wie ein Sarg wölbte sich die schauernde Brust um dies stummunbegreifliche Nichts.

      So stark war dieses Traumgefühl, so tief die Verworrenheit, dass der alte Mann, als er aufdämmerte, unwillkürlich hingriff an die linke Brust, ob er sein Herz nicht mehr in sich hätte. Aber, gottlob! da schlug noch etwas, dumpf und rhythmisch unter dem tastenden Finger, und doch war’s, als wäre dies nur tauber Schlag ins Leere und sein Herz weg. Denn sonderbar: es schien mit einemmal ihm der eigene Leib wie von sich weggetan. Kein Schmerz zerrte mehr, kein Erinnern zuckte mit gefoltertem Nerv, alles war stumm da innen, starr und versteint. „Wie ist das?“ dachte er, „eben hat mich so vieles gequält, eben war das Innen da noch heiß überdrängt, eben zuckte noch jede Fiber. Was ist mir geschehen?“ Wie in ein Hohles horchte er hinein, ob das Frühere sich nicht rührte. Aber ganz weit war dies Rieseln und Rauschen, dies Tropfen und Klopfen – er horchte und horchte —, nichts, nichts, nichts hallte zurück. Nichts quälte mehr, nichts quoll mehr auf, nichts schmerzte mehr: leer und schwarz wie die Höhlung eines ausgebrannten Baumes musste das da innen sein. Und mit einemmal war ihm, als ob er schon gestorben wäre oder etwas in ihm gestorben, so grauenhaft stumm stockte das Blut. Kalt wie ein Leichnam lag unter ihm sein eigener Leib, er hatte Angst, ihn anzufühlen mit der warmen Hand.

      Der alte Mann horchte in sich hinein: er hörte nicht, dass immer wieder die Glocken vom See ihre Stunden herein in sein Zimmer schlugen, jede in mehr Dämmerung gehüllt. Rings um ihn wuchs schon die Nacht, Dunkel strich die Dinge aus dem wegfließenden Raum; selbst der hellere Himmel im Viereck des Fensters erlosch vollkommen in Finsternis. Der alte Mann merkte es nicht, er starrte nur in das Schwarze in sich, er horchte nur in das Leere in sich hinein wie in den eigenen Tod.

      Da endlich brach ins Nachbarzimmer Gelächter und Übermut, Licht flammte nebenan – ein Strahl davon spritzte durch die nur angelehnte Tür. Der alte Mann schreckte auf: seine Frau, seine Tochter! Gleich würden sie ihn hier auf dem Ruhebett finden, ihn fragen. Eilig knöpfte er sich Rock und Weste: was brauchten sie von seinem Anfall zu wissen, was ging es sie an?

      Aber die beiden Frauen suchten ihn nicht. Sie hatten Eile offenbar, ungestüm hämmerte der Gong seine dritte Ladung zum Diner. Sie richteten sich anscheinend her: der Lauschende hörte durch die offen Türe jede Bewegung. Jetzt schoben sie die Läden auf, jetzt legten sie leise klirrend die Ringe auf die Waschtische, jetzt polterten Schuhe zu Boden, und zwischendurch redeten sie: jedes Wort, jede Silbe ging grauenhaft verständlich dem Horchenden ins Ohr. Erst sprachen und spotteten sie über die Herren, über kleinen Zufall der Fahrt, durchaus Leichtes und Lockeres im stolpernden Durcheinander während dieses Sich-Waschens und Bückens und Putzens. Da plötzlich schwenkte das Gespräch auf ihn über.

      „Wo ist denn Papa?“ hatte Erna gefragt, voll Verwunderung, so spät an ihn zu denken.

      „Wie soll ich’s wissen“ – das war die Stimme der Mutter, sofort verärgert bei der bloßen Erwähnung. „Wahrscheinlich wartet er unten in der Halle und liest zum hundertstenmal die Kurse in der Frankfurter Zeitung – sonst interessiert ihn ja nichts. Glaubst du, dass er sich den See überhaupt nur angesehen hat? Es gefällt ihm hier nicht, hat er mir heute mittag gesagt. Heute, wünschte er, sollten wir noch abreisen.“

      „Heute noch abreisen?… Ja, warum denn?“ Das war wieder Ernas Stimme.

      „Ich weiß nicht. Wer kennt sich in ihm aus. Unsere Gesellschaft konveniert ihm nicht, die Herren stehen ihm offenbar nicht zu Gesicht – wahrscheinlich fühlt er selbst, wie schlecht er zu ihnen passt. Wirklich eine Schande, wie er herumgeht, immer die Kleider zerdrückt, mit offenem Kragen… Du solltest ihn doch aufmerksam machen, wenigstens abends sich ein bisschen soignierter zu halten, auf dich hört er ja. Und heute vormittag… ich habe geglaubt, ich müsste in die Erde sinken, wie er den Tenente wegen des Feuerzeugs anfuhr…“

      „Ja, Mama… was war das?… Ich wollte dich schon fragen… Was war das mit Papa?… So habe ich ihn nie gesehen… ich bin wirklich erschrocken.“

      „Ach was, schlechte Laune war es… wahrscheinlich sind die Kurse gefallen… oder weil wir Französisch gesprochen haben… Er kann es nicht vertragen, wenn andere vergnügt sind… Du hast’s ja nicht bemerkt: während wir tanzten, stand er an der Tür wie ein Mörder hinter dem Baum… Abreisen! Auf der Stelle abreisen! und nur weils ihm plötzlich so beliebt… Wenns ihm hier nicht gefällt, soll er doch uns unsere Freude lassen… aber ich kümmere mich nicht um seine Launen, er soll sagen und tun, was er will.“

      Das Gespräch stockte. Offenbar war während des Redens die Abendtoilette beendet: ja, die Tür wurde geöffnet, jetzt gingen sie aus dem Zimmer, der Kontakt knackte, das Licht erlosch.

      Der alte Mann saß ganz still auf der Ottomane[27]. Er hatte jedes Wort gehört. Aber sonderbar: es tat nicht mehr weh, gar nicht mehr weh. Das, was früher gehämmert und gerissen, dies


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<p>27</p>

Ottomane die; -n – eine Art des Sofas