Die hochzeit von Lyon. Novellen / Свадьба в Лионе. Новеллы. Книга для чтения на немецком языке. Стефан Цвейг

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Die hochzeit von Lyon. Novellen / Свадьба в Лионе. Новеллы. Книга для чтения на немецком языке - Стефан Цвейг


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könnte man glücklich sein. Einmal hab ich’s auch haben wollen, auch einmal selber fühlen, wie schön die Welt der Sorglosen ist… einmal nach fünfzig Jahren Schreiben und Rechnen und Feilschen und Schachern auch einmal paar helle Tage genießen wollen… einmal, einmal, einmal, ehe man mich einscharrt… fünfundsechzig Jahre, mein Gott, da hat der Tod einem die Hand schon im Leib, und das Geld hilft einem nichts mehr und die Doktoren… Nur ein paar leichte Atemzüge wollte ich vorher, auch einmal etwas für mich… Aber mein Vater selig hat schon immer gesagt: „Das Vergnügen ist nichts für unsereinen, man trägt seinen Pack am Rücken bis ins Grab“… Gestern hab ich gemeint, auch ich dürft einmal mir’s wohl sein lassen… gestern da war ich so etwas wie ein glücklicher Mensch, hab mich gefreut an meinem schönen hellen Kind, mich gefreut an ihrer Freude… und schon hat mich Gott gestraft, schon nimmt er mir’s weg… Denn das ist vorbei jetzt für immer… Ich kann nicht mehr sprechen mit meinem eigenen Kind… ich kann ihr nicht mehr in die Augen schauen, so schäm ich mich… Immer werde ich daran denken müssen, zu Hause, im Büro und nachts im Bett: wo ist sie jetzt, wo war sie, was hat sie getan?… nie mehr ruhig nach Hause kommen, und da sitzt sie und springt mir entgegen, und das Herz geht mir auf, wenn ich sie sehe, jung und schön … Wenn sie mich küsst, werde ich mich fragen, wer hat sie gestern gehabt, diese Lippen… immer in Angst leben, wenn sie von mir fort ist, und immer mich schämen, wenn ich ihre Augen sehe. – Nein, so kann man nicht leben… so kann man nicht leben…“

      Der alte Mann torkelte murmelnd hin und her wie ein Betrunkener. Immer starrte er wieder auf den See, immer liefen ihm wieder die Tränen in den Bart hinein. Er musste den Zwicker abnehmen und stand mit seinen kurzsichtigen nassen Augen so tölpelig auf dem schmalen Weg, dass ein Gärtnerjunge, der eben vorbei kam, verdutzt stehenblieb, laut auflachte und mit ein paar italienischen Spaßworten dem Verworrenen nachhöhnte. Das weckte den alten Mann aus seinem Schmerztaumel; er griff nach dem Zwicker und schlich zur Seite in den Garten, irgendwo dort auf einer Bank sich vor dem Menschen zu vergraben.

      Aber kaum dass er sich abseitiger Stelle im Garten genähert, so schreckte ihn ein Lachen von links her wieder auf… ein Lachen, das er kannte und das ihm jetzt das Herz zerriss. Seine Musik war das gewesen, neunzehn Jahre lang, dies leichte Lachen ihres Übermuts… für dieses Lachen hatte er die Nächte durchfahren dritter Klasse bis Posen und Ungarn hinein, nur um dann etwas ihnen hinzuschütten, gelben Humus, aus dem diese unbesorgte Heiterkeit blühte… einzig für dieses Lachen hatte er gelebt und sich die Galle krank geärgert im Leibe … nur damit dies Lachen immer klingend blieb um den geliebten Mund. Und nun schnitt es in die Eingeweide wie eine glühende Säge, dies verfluchte Lachen.

      Und doch zog es den Widerstrebenden an. Sie stand am Tennisplatz, das Rakett wirbelnd in der nackten Hand, lockeren Gelenks es hochwerfend im Spiel und wieder fangend. Und immer gleichzeitig mit dem aufgewirbelten Schläger wirbelte das übermütige Lachen in den azurnen[19] Himmel hinauf. Die drei Herren sahen ihr bewundernd zu, der Conte Ubaldi im lockern Tennishemd, der Offizier in seiner straffkleidenden, sehnenspannenden Uniform, und der Herrenreiter in tadellosen Breeches, drei scharf profilierte männliche Gestalten wie Statuen um dies wie ein Schmetterling flatternde Spielding. Der alte Mann starrte selbst gefangen hin. Mein Gott, wie schön sie war in ihrem hellen fußfreien Kleid, die Sonne fließend zerstäubt im blonden Haar! Und wie selig diese jungen Glieder ihre eigene Leichtigkeit fühlten in Sprung und Lauf, berauscht und berauschend mit diesem rhythmisch lockern Gehorchen der Gelenke. Jetzt warf sie übermütig den weißen Tennisball in die Luft, einen zweiten, einen dritten ihm nach; wunderbar, wie in Biegen und Haschen die schlanke Gerte ihres Mädchenleibes sich schwang, aufschnellend jetzt, den letzten zu greifen. So hatte er sie nie gesehen, so aufgezündet von übermütigen Flammen, weiße, fliehende, wehende Flamme selbst mit dem silbernen Rauch des Lachens über dem Lodern des Leibes – eine jungfräuliche Göttin, dem Efeu des südlichen Gartens, dem weichen Blau des spiegelnden Sees panisch entstiegen: so tanzhaft wild spannte sich nie daheim dieser schmale starrsehnige Leib im eifernden Spiele. Nie, nein, nie hatte er sie so gesehen, innerhalb der dumpfen, mauergedrängten Stadt, nie ihre Stimme in Zimmer und Straße gehört so lerchenhaft losgebunden vom irdisch Dumpfen der Kehle in eine fast singende Heiterkeit, nein, nein, nie war sie so schön gewesen. Der alte Mann starrte und starrte hin. Er hatte alles vergessen, er sah nur und sah diese weiße, fliehende Flamme. Und so hätte er gestanden, endlos ihr Bild einsaugend mit leidenschaftlichem Blick, hätte sie nicht endlich mit flinker Drehung, mit einem jappenden aufflatternden Sprung auch den letzten der jonglierten Bälle aufgefangen und atmend, keuchend, erhitzt mit lachend stolzem Blick an die Brust gedrückt. „Brava, Brava“ -wie nach einer Opernarie applaudierten die drei Herren, die angeregt ihrem geschickten Fangball zugesehen. Diese gutturalen Stimmen weckten den alten Mann aus der Bezauberung. Grimmig starrte er sie an.

      „Da sind sie, die Schurken[20]“, hämmerte ihm das Herz. „Da sind sie… Aber wer ist es von ihnen?… wer hat sie gehabt von den dreien?… Wie fein sie ausstaffiert sind, parfümiert und rasiert, diese Tagediebe… unsereins musste in ihrem Alter im Kontor sitzen mit ausgeflickten Hosen und sich die Absätze krumm treten bei den Kunden… und ihre Väter, die sitzen vielleicht heute noch so und schinden sich ihretwegen die Nägel blutig… sie aber fahren in der Welt herum, stehlen dem lieben Herrgott den Tag, haben braune, unbesorgte Gesichter und helle, freche Augen… da kann man leicht frisch sein und vergnügt und braucht so einem eitlen Kind nur ein paar verzuckerte Worte hinzuwerfen, und schon kriecht sie ins Bett… Aber wer ist es von den dreien, welcher ist es? … Einer von ihnen, ich weiß es, der sieht ihr durch das Kleid ins Nackte, und schmatzt mit der Zunge: die hab ich gehabt… kennt sie heiß und bloß und denkt sich, heute abend wieder, und blinzelt ihr zu, – oh, dieser Hund!… ihn totpeitschen können, diesen Hund!“

      Man hatte ihn drüben bemerkt. Die Tochter schwang salutierend das Rakett und lachte ihm zu, die Herren grüßten. Er dankte nicht, starrte nur überschwemmten, blutunterlaufenen Blicks auf ihren übermütigen Mund:

      „Dass du noch so lachen kannst, du Schamlose… aber auch der eine da lacht vielleicht in sich hinein und denkt sich, da steht er, der alte dumme Jud, der nachts sein Bett zerschnarcht… wenn der wüsste, der alte Narr!… Ja, ich weiß, ihr lacht, ihr tretet über mich weg wie über einen schmutzigen Kotzen… aber die Tochter, die ist fesch und willig, die läuft euch hurtig ins Bett… und die Mutter, schon ein wenig dick ist sie und aufgetakelt, geschminkt und gestrichen, aber doch, redete man ihr zu, sie würde vielleicht auch noch ein Tänzchen wagen… Habt ja recht, ihr Hunde, habt ja recht, wenn sie euch nachrennen, die läufigen Weiber, die ehrlosen… Was geht’s euch an, dass sich dem ändern das Herz dabei zerkrümmt… wenn ihr nur euren Spaß habt, wenn sie nur ihren Spaß haben, die ehrlosen Weiber… Mit dem Revolver sollte man euch niederknallen, mit der Hetzpeitsche über euch fahren… Aber ihr habt ja recht, solang es keiner tut… solange man nur den Zorn in sich frisst wie ein Hund sein Ausgeworfenes… habt ja recht, wenn man so feig ist, so erbärmlich feig… nicht hingeht, die Schamlose packt und am Ärmel von euch wegreißt… wenn man bloß stumm dabeisteht, die Galle im Mund, feig… feig… feig..“

      Mit den Händen hielt sich der alte Mann am Geländer, so schüttelte ihn ohnmächtiger Zorn. Und plötzlich spie[21] er vor den eigenen Fuß und taumelte aus dem Garten.

      Der alte Mann tappte hinein in die kleine Stadt, vor einer Auslage blieb er plötzlich stehen; allerhand Dinge touristischen Gebrauchs, Hemden und Netze, Blusen und Angelzeug, Krawatten, Bücher, Backwerk bauten sich dort aus zufälligem Beieinander zu künstlichen Pyramiden und farbigen Etageren. Aber sein Blick starrte nur auf ein einziges Ding, das verachtet zwischen dem eleganten Gerümpel[22] lag: ein Knotenstock, dick und klobig, mit eiserner Bergspitze gehärtet, schwer in der Hand und furchtbar wohl niederfallend im Schlag. „Niederschlagen… niederschlagen, den Hund!“ Der Gedanke versetzte ihn in einen wirren, fast wollüstigen Taumel; es stieß ihn hinein in die Kramerei, wo er jenen knolligen Kolben gegen geringes Entgelt erstand. Und kaum das schwere, wuchtiggefährliche Ding in der Faust, fühlte er sich stärker: immer macht ja eine Waffe den körperlich Schwachen mehr seiner gewiss. Er spürte, wie vom Griff her die Muskeln vehementer sich spannten: „Niederschlagen…


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<p>19</p>

azurn – leuchtend blau

<p>20</p>

Schurke der; -n, -n; – jemand, der böse Dinge tut = Schuft

<p>21</p>

speien (spie, hat gespien) – sich erbrechen

<p>22</p>

Gerümtel das; -s; nur Sg, – alte Dinge, die kaputt oder nutzlos sind (und irgendwo aufbewahrt werden)