Die hochzeit von Lyon. Novellen / Свадьба в Лионе. Новеллы. Книга для чтения на немецком языке. Стефан Цвейг

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Die hochzeit von Lyon. Novellen / Свадьба в Лионе. Новеллы. Книга для чтения на немецком языке - Стефан Цвейг


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als des beschleunigten Ganges. Denn immer hitziger krampfte sich die Hand an den wuchtigen Griff. Mit seiner Waffe trat er in die bläuliche Schattenkühle der Halle, sofort gereizten Blicks den unsichtbaren Gegner suchend. Und wirklich, in der Ecke, auf den weichen Strohkörben saßen sie alle beisammen, Whisky und Soda aus dünnen Strohröhren saugend, heiter gesprächig in faulenzerischer Geselligkeit: seine Frau, seine Tochter und die unvermeidlichen drei. „Welcher ist es? welcher ist es?“ dachte er dumpf, die Faust um den schweren Knoten gepresst. „Wem von ihnen den Schädel zerschlagen?… wem?… wem?“ Aber schon sprang, sein unruhiges Suchen missverstehend, Erna auf und ihm entgegen. „Da bist du, Papachen! Wir haben dich überall gesucht. Denk dir, Herr von Medwitz nimmt uns mit in seinem Fiat, wir fahren bis nach Desenzano den ganzen See entlang.“ Dabei drängte sie ihn zärtlich dem Tische zu, als ob er sich für die Einladung noch bedanken sollte.

      Die Herren waren höflich aufgestanden und boten ihm die Hand. Der alte Mann zitterte. Aber an seinem Arme lag weich und betäubend dies Beschwichtigende ihrer warmen Gegenwart. In einer Ohnmacht des Willens nahm er, eine nach der ändern, die dargebotene Hand, setzte sich stumm, holte eine Zigarre heraus und kaute den Zorn seiner verbissenen Zähne in die weiche Masse. Über ihn hinweg flatterte das abgerissene Gespräch, französisch geführt, von übermütigem Lachen mehrstimmig überflogen.

      Der alte Mann saß stumm geduckt und biss an seiner Zigarre, dass der Saft ihm braun in die Zähne rann. „Recht haben sie… recht haben sie“, dachte er. „Anspucken soll man mich… jetzt habe ich ihm noch die Hand gereicht!… allen dreien, aber ich weiß doch, dass einer von ihnen der Schurke ist… ruhig sitze ich am selben Tisch mit ihm… ich schlage ihn nicht nieder, nein, ich schlage ihn nicht nieder, ich reiche ihm höflich die Hand… Recht haben sie, ganz recht, wenn sie über mich lachen… Und wie sie über mich hinwegreden, als ob ich gar nicht da wäre!… als ob ich schon unter der Erde läge… und dabei wissen doch beide, Erna und ihre Mutter, dass ich kein Wort Französisch verstehe… beide wissen sie’s, beide, aber keine fragt mich irgend etwas nur zum Schein, nur damit ich nicht so lächerlich dasitze, so entsetzlich lächerlich… Luft bin ich für sie, Luft… ein unangenehmes Anhängsel, etwas Lästiges, Störendes … etwas, dessen man sich schämt und das man nur nicht wegtut, weil es Geld verdient… Geld, Geld, dieses dreckige, erbärmliche Geld, mit dem ich sie verdorben habe… dieses Geld, auf dem der Fluch Gottes liegt… Kein Wort reden sie zu mir, meine Frau, mein eigenes Kind, nur für diese Lungerer, für diese glatten, geputzten Laffen haben sie Blicke… wie sie ihnen zulachen, aufgekitzelt, als wären sie ihnen mit der Hand ans Fleisch gefahren… Und ich, ich dulde das alles… Ich sitze da, höre zu, wie sie lachen, und verstehe nichts, und sitze doch da, statt aufzuschlagen mit der Faust… da, mit dem Stock auf sie zu dreschen und sie auseinanderzutreiben, ehe sie sich zu paaren beginnen vor meinen eigenen Augen… ich erlaube das alles… ich sitze da, stumm, dumm, feig… feig… feig…“

      „Gestatten Sie“, fragte in diesem Augenblick in mühseligem Deutsch der italienische Offizier und griff nach dem Feuerzeug.

      Da fuhr, aufgeschreckt aus seinen gehitzten Gedanken, der alte Mann empor und starrte den Ahnungslosen grimmig an. Der Zorn stand noch heiß in ihm. Einen Augenblick krampfte die Hand den Stock. Dann aber zerrte sich der Mund schon wieder schief herab und zerging in ein unsinniges Grinsen: „Oh, ich gestatte“, wiederholte er, und die Stimme schlug schneidend über. „Gewiss gestatte ich, hehe… alles gestatte ich… was Sie wollen… hehe… alles gestatte ich… alles, was ich habe, steht ja zu Ihrer Verfugung… mit mir kann man sich alles gestatten…“

      Der Offizier sah ihn befremdet an. Der Sprache unkund, hatte er nicht ganz verstanden. Aber dieses schiefe, grinsende Lachen beunruhigte ihn. Der deutsche Herr fuhr unwillkürlich auf, die beiden Frauen kalkweiß – für einen Augenblick stand die Luft zwischen ihnen allen starr und atemlos wie in der dünnen Pause zwischen Blitz und dem nachrollenden Donner.

      Aber dann lockerte sich die wilde Verzerrung, der Stock glitt aus der gekrampften Faust. Wie ein geprügelter Hund kroch der alte Mann in sich zurück und hüstelte verlegen, von seiner eigenen Kühnheit erschreckt. Hastig knüpfte Erna, um die peinliche Spannung abzuschwächen, das abgerissene Gespräch neuerdings an; der deutsche Baron antwortete mit sichtlich beflissener Heiterkeit, und nach wenigen Minuten schon lief der gestockte Schwall wieder sorglos dahin.

      Der alte Mann saß vollkommen abwendig inmitten der Schwatzenden, man hätte glauben können, er schliefe. Der wuchtige Stock, seinen Händen entsunken, pendelte[23] zwecklos zwischen den Beinen. Immer tiefer glitt das Haupt in die aufgestützte Hand. Aber niemand achtete mehr auf ihn: über sein Schweigen rollte die plaudernde Woge klingend hinweg, manchmal sprühte an übermütig scherzendem Wort Schaum von Gelächter funkelnd empor; er aber lag unten reglos in unendlichem Dunkel, ertrunken in Scham und Schmerz.

      Die drei Herren standen auf, Erna folgte eilfertig und langsamer die Mutter; sie gingen, heiterem Vorschlag folgend, ins Musikzimmer nebenan und hielten es nicht für nötig, den dumpf vor sich Hindösenden besonders aufzufordern. Erst von der plötzlichen Leere um sich betroffen, wachte er auf, wie ein Schlafender aufschreckt vom Gefühl der Kälte, wenn nachts die Decke heruntergeglitten ist und kalte Zugluft den bloßen Leib überstreicht. Unwillkürlich tappte der Blick auf die verlassenen Sessel; aber da hämmerte schon vom Klaviersalon nebenan klapprig und reißerisch ein Jazz, er hörte Lachen und aufmunternde Rufe. Sie tanzten nebenan. Ja, tanzen, immer tanzen, das konnten sie! Immer wieder sich das Blut aufjagen, immer sich geil aneinanderreiben, bis der Braten gar war. Tanzen, abends, nachts und am hellichten Tag, die Faulenzer, die Müßiggänger, damit kirrten sie die Weiber.

      Erbittert fasste er wieder den derben Stock und schlurfte ihnen nach. An der Tür blieb er stehen. Der deutsche Herrenreiter saß am Klavier und rasselte, halb umgewendet, um den Tanzenden gleichzeitig zuzusehen, auswendig und ungefähr einen amerikanischen Gassenhauer über die Tasten. Erna tanzte mit dem Offizier, die Mutter, schwerfällig und stark, schob der langstielige Conte Ubaldi nicht ohne Mühe rhythmisch vor und zurück. Aber der alte Mann starrte nur auf Erna und ihren Partner. Wie der Windhund leicht und schmeichlerisch seine Hände auf ihre zarte Schulter legte, als gehöre dieses Wesen ihm gänzlich an! Wie ihr Körper wiegend und hingebend, gleichsam sich versprechend, an den seinen drängte, wie sie ineinanderwuchsen vor seinen eigenen Augen in mühsam verhaltener Leidenschaft! Ja, der war es, der – denn in diesen beiden flutenden Körpern glühte sichtlich ein Einanderkennen, eine schon ins Blut gedrungene Gemeinschaft. Ja, der war es, der – nur der konnte es sein, er las an ihren Augen, die, halbgeschlossen und doch überströmend, in diesem flüchtigen Schweben ein heißer Genossenes erinnernd widerstrahlten – der war es, der Dieb, der nächtens glühend griff und durchdrang, was sich jetzt in dünnem wogendem Kleid halbdurchsichtig verhehlte, sein Kind, sein Kind! Unwillkürlich trat er heran, sie jenem wegzureißen. Aber sie bemerkte ihn nicht. Mit jeder Bewegung dem Rhythmus, dem unmerklich sie lenkenden Druck des Führers, des Verführers hingegeben: rückgelehnten Hauptes mit feucht geöffnetem Mund, ganz Trunkenheit und Selbstvergessen, wogte sie leise im weichen Geström der Musik, den Raum nicht fühlend, die Zeit nicht und den Menschen, den zitternden, keuchenden alten Mann, der blutunterlaufenen Blicks auf sie starrte in einer fanatischen Verzückung des Zornes. Nur sich selbst fühlte sie, ihre eigenen jungen Glieder, widerstandslos folgend dem knatternden Riss der jappenden, wirbelnden Tanzmelodie; nur sich selbst fühlte sie und dass ein Männliches atemnah sie begehrte, starker Arm sie umfing und sie sich bewahren musste in dieser weichen Schwebe, ihm nicht entgegenzustürzen mit begehrlichen Lippen und heiß einziehender Luft des Sich-Gebens. Und all dies war magisch dem alten Mann im eigenen erschütterten Blut bewusst: immer, wenn der Tanz sie von ihm wegströmte, war ihm, als ginge sie unter für immer.

      Plötzlich riss wie eine klirrende Saite[24] die Musik mitten im Takte ab. Der deutsche Baron sprang auf: „Assez joué pour vous“, lachte er. „Maintenant je veux danser moimême.[25] “ Alle stimmten übermütig bei, die Gruppe löste sich aus der bewegten Zweiheit des Tanzes in ein locker flatterndes Beisammensein.

      Der alte Mann kam wieder zu sich: etwas tun jetzt, etwas sagen! Nicht so tölpelig, so jämmerlich überflüssig dabeistehen! Eben wogte seine Frau vorbei,


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<p>23</p>

pendeln etwas hängen lassen und hin und her schwingen

<p>24</p>

Saite die; -, -n; – eine Art Faden oder Draht aus Metall, Tierdarm oder Kunststoff, der an einem Musikinstrument die Töne erzeugt, wenn man ihn streicht oder zupft

<p>25</p>

Maintenant je veux danser moimême (fr.) – Wollen sie tanzen!