Die neue Magdalena. Уилки Коллинз
Читать онлайн книгу.dagegen in diesen Zeiten aufgefallen ist. Die Damen in ihren reichen Winteranzügen, die schmucken Kindermädchen mit reizenden Kindern, die unaufhörlich sich bewegende Menge der Eisläufer auf Round-Pord; alles das war im Vergleich zu dem, woran ich jetzt gewöhnt war, so fröhlich anzusehen, dass ich mich unwillkürlich dabei ertappte, wie ich pfeifend mitten durch das glänzende Treiben schritt. Zu meiner Zeit pflegten die Jungen immer zu pfeifen, wenn sie gut aufgelegt waren, und ich bin über diese Gewohnheit noch nicht hinaus. Wem, glauben Sie, begegnete ich da gerade, als ich im besten Zuge war?«
So gut es bei dem maßlosen Staunen, womit Mercy ihm zuhörte, möglich war, bat sie, ihr das Erraten zu erlassen. Nie in ihrem Leben hatte sie noch mit jemand so verwirrt und unverständig gesprochen, wie jetzt mit Julian Gray!
Er fuhr heiterer als je fort, ohne scheinbar zu bemerken, welchen Eindruck er auf sie machte.
»Nun, wem begegnete ich«, wiederholte er, »als ich im besten Zuge war? Meinem Bischof! Wäre es noch eine heilige Melodie gewesen, seine Ehrwürden hätte vielleicht meine Gemeinheit in Anbetracht der Musik entschuldigt. Aber unglücklicherweise war die Komposition, welche ich eben vortrug, ich bin nebenbei gesagt ein sehr lauter Pfeifer, von Verdi – »La donna e Mobile« – seiner Ehrwürden sicherlich durch die Drehorgeln in den Straßen wohl bekannt. Er erkannte das Lied, der arme Mann, und als ich meinen Hut vor ihm abnahm, sah er nach der anderen Seite. Sonderbar, dass man in dieser sündigen, fehlerhaften Welt eine so geringfügige Sache, wie das Pfeifen eines heiter gestimmten Geistlichen, überhaupt zum Gegenstande einer ernsthaften Erörterung macht!« Bei den letzten Worten schob er seinen Teller zurück und fuhr in verändertem Ton einfach und ernsthaft fort: »Ich habe nie eingesehen«, sagte er, »warum wir uns anderen Menschen gegenüber deshalb für bevorzugt halten sollen, weil wir einer besonderen Kaste angehören und harmlose Dinge, welche andere Leute tun, nicht tun dürfen. Die Jünger Christi seinerzeit gaben uns dies Beispiel nicht; sie waren vernünftiger und besser als wir. Ich behaupte kühn, dass sich uns in dem Bestreben, unseren Mitmenschen Gutes zu tun, nichts mehr hindernd entgegenstellt, als die bloße Anmaßung der Geistlichen in Wort und Tat. Ich für meinen Teil erhebe nicht den leisesten Anspruch, besser und frömmer zu sein als jeder andere Christenmensch, der nach Kräften Gutes tut.« Sein klarer Blick traf Mercy, welche ihn verwundert, und unvermögend, ihn zu verstehen, ansah – der frühere scherzhafte Ton gewann in ihm wieder die Oberhand. »Sind Sie radikal gesinnt?« fragte er mit einem humoristischen Zwinkern in seinen großen, glänzenden Augen. »Ich für meinen Teil bin es!«
Mercy gab sich alle Mühe, ihn zu begreifen, allein umsonst. War es möglich, dass dies der Prediger war, dessen Worte sie entzückt, gereinigt, veredelt hatten? War es derselbe, dessen Worte den Augen der Unglücklichen, welche durch das Verbrechen ehrlos und verstockt geworden waren, heiße Tränen entlockt hatten? Ja! Die Augen, welche jetzt vergnügt auf ihr ruhten, sie waren dieselben schönen Augen, welche einst in die Tiefe ihrer Seele geblickt. Die Stimme, welche sich eben mit einer scherzenden Frage zu ihr wendete, war dieselbe tiefe, weiche Stimme, welche damals in ihr Herz gedrungen war. Auf der Kanzel war er ein Engel der Barmherzigkeit; außerhalb derselben ein losgelassener Schulknabe.
»Ich will Sie nicht erschrecken«, sagte er gutmütig, als er ihre Verwirrung bemerkte. »Die öffentliche Meinung hat mich schon mit ärgeren Namen als dem eines Radikalen genannt. Ich war kürzlich – wie ich Ihnen vorhin erzählt habe – in einer Landgemeinde. Ich sollte dort nämlich für eine kurze Zeit die Geschäfte des Pfarrers besorgen, da dieser sich eine kleine Erholung gönnen wollte. Was, glauben Sie, war das Ende dieses Versuches? Der Herr des Kirchspiels nennt mich einen Kommunisten; die Pächter denunzieren mich als einen Aufwiegler; mein Freund, der Pfarrer, ward in aller Eile zurückberufen und ich stehe jetzt als ein Verbannter da, der sich bei einer achtbaren Nachbarschaft unmöglich gemacht hat.«
Mit diesem offenen Bekenntnis verließ er den Frühstückstisch und setzte sich auf einen Stuhl neben Mercy.
»Sie sind natürlich sehr gespannt«, fuhr er fort, »zu hören, worin mein Vergehen eigentlich bestanden hat. Verstehen Sie etwas von Nationalökonomie und von dem Gesetze von Nachfrage und Angebot?«
Mercy gestand, dass sie davon nichts wisse.
»Ich auch nicht«, sagte er. »Und das war eben mein Vergehen. Ich will Ihnen, wie später auch meiner Tante, die ganze Sache mit wenigen Worten erzählen.« Er hielt einen Augenblick inne; seine Haltung war ganz verändert. Mercy warf einen scheuen Blick auf ihn und entdeckte in seinen Augen einen neuen Ausdruck, welcher wie noch keiner, ihr das frühere Bild von ihm in das Gedächtnis zurückrief. »Ich hatte keine Ahnung«, begann er wieder, »welches Leben in einigen Gegenden Englands der gemeine Feldarbeiter auf einem Pachtgute führt, bis ich jetzt den Pfarrer in seinem Sprengel vertreten musste. Noch nie in meinem Leben hatte ich so grässliches Elend gesehen und dabei von Seite der armen Leute eine Geduld im Ertragen ihrer Leiden, wie sie mir bis dahin nie vorgekommen war. Die Märtyrer ehedem konnten erdulden und sterben, aber wären sie im Stande gewesen, so wie diese hier, zu erdulden und dabei fortzuleben? – Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr am Hungertuche zu nagen; zuzusehen, wie ihre abgezehrten Kinder ringsum aufwuchsen, um ihr ganzes Leben hindurch zu arbeiten und dafür bittere Not zu leiden, und vielleicht am Ende, wenn sie durch Arbeit und Hunger verkommen waren, in dem Gemeindegefängnis ihr Dasein zu beschließen! – Dass es auf Gottes schöner Erde solchen Jammer geben kann? Ich kann noch jetzt kaum ohne Tränen daran denken und davon sprechen!«
Sein Kopf sank auf die Brust. Er wartete einen Augenblick, um seiner Bewegung Herr zu werden, bevor er weiter sprach. Jetzt erkannte sie ihn wieder; jetzt war er derselbe, den sie zu sehen erwartet hatte. Unbewusst saß sie ihm gegenüber, den Blick unverwandt auf ihn gerichtet, mit atemloser Spannung jedem seiner Worte lauschend, gerade wie an jenem Tage, als sie ihn zum erstenmale gehört!
»Ich tat mein Möglichstes, um das Los dieser hilflosen Geschöpfe zu verbessern«, begann er wieder. »Ich ging zu allen Pächtern der umliegenden Güter und schilderte ihnen die traurige Lage ihrer Arbeiter. Ich sagte ihnen, sie sollten diesen genügsamen Menschen nur so viel geben, dass sie davon leben könnten! Allein die Volkswirtschaft schalt ein solches Beginnen töricht und verdammte denjenigen, der dazu riet. Hunger und Recht gingen Hand in Hand, erhielt ich zu Antwort. Und weshalb? Weil der Arbeiter sich fügen musste! Da beschloss ich nun, so weit ein einzelner Mensch dies tun kann, die Feldarbeiter von diesem Zwang zu befreien. Mit Hilfe meiner eigenen Mittel und derjenigen einiger Freunde – an die ich mich gewendet hatte – brachte ich mehrere dieser armen Teufel in andere Gegenden Englands, wo ihre Arbeit besser gezahlt wurde. Das war die Aufführung, welche mein Bleiben unter jenen Leuten unmöglich machte. Mag es so sein! Ich lasse mich dadurch nicht irre machen; ich bin in London hinlänglich bekannt; es wird mir gelingen, Beiträge zu sammeln und dann mögen die volkswirtschaftlich gesinnten Herren Pächter sehen, mit welcher Arbeitskraft sie ihre Felder bestellen, und dazu sollen sie mir noch Beiträge zu meiner Sammlung spenden, so gewiss ich als Radikaler, ein Kommunist, ein Aufwiegler – so gewiss, als ich Julian Gray bin!«
Er erhob sich mit einer leichten Bewegung, als wollte er sich wegen des Eifers, mit welchem er eben gesprochen, entschuldigen und machte einen Gang durch das Zimmer. Durch seine Begeisterung angeregt, folgte ihm Mercy; als er sich umwendete und sie ihm gegenüber stand, hielt sie ihre Geldbörse in der Hand.
»Gestatten Sie mir, Ihnen damit einen kleinen Beitrag zu leisten!« sagte sie warm.
Über seine bleichen Wangen flog eine leise Röte, als er in das schöne, teilnehmende Gesicht vor ihm sah.
»Nein! Nein!« sagte er lächelnd, »ich bin zwar Geistlicher, aber keiner, der die Sammelbüchse gleich mit sich herumträgt.« Mercy suchte ihm die Geldbörse aufzudrängen; allein er zog sich rasch davor zurück und sagte mit dem früheren feinen Humor im Ausdruck seiner Augen. »Führen Sie mich nicht in Versuchung! Es gibt kein Geschöpf, welches der Versuchung, milde Beiträge zu sammeln, weniger widerstehen kann, als gerade der Geistliche.« Mercy blieb jedoch standhaft und siegte auch schließlich; es gelang ihr, ihn dazu zu bringen, dass er selbst den Beweis für die Richtigkeit einer tiefgehenden Beobachtung einer Geistlichennatur dadurch lieferte, dass er ein Geldstück aus dem Beutel nahm. »Wenn es denn nicht anders geht – so nehme ich es!« bemerkte er. »Übrigens danke ich Ihnen sowohl für das gute Beispiel, welches Sie hierdurch anderen geben, als