Zwei Schicksalswege. Уилки Коллинз
Читать онлайн книгу.verloren. Still und versunken in sich selbst, erfüllte sie geduldig ihre täglichen Pflichten. Die Hoffnung mich wiederzusehen war zu dieser Zeit in ihr erstorben. Sie klagte nie; die Kraft, die ihr Körper in der letzten Zeit gewonnen hatte, unterstützte und stärkte nun die Seele. Als ein oder zwei Mal ihr Vater sie fragte, ob sie noch mein gedenke, antwortete sie ruhig, dass sie es nun über sich gewonnen habe, seine Ansichten über die Sache zu teilen. Sie zweifelte nicht, dass ich sie längst vergessen hatte und war nun alt genug geworden, um einzusehen, dass, selbst wenn ich ihr treu geblieben war, unsere Heirat in den verschiedenen Lebenssphären, denen wir angehörten, eine Unmöglichkeit wäre. Sie sagte sich, dass es das Beste sei die Vergangenheit zu vergessen – mein nicht mehr zu gedenken, wie ich ihrer nicht mehr gedachte. So sprach sie jetzt. Allem Anscheine nach hatten Dame Dermodys vertrauensvolle Voraussagungen über unser Schicksal sich nicht bewahrheitet und waren dem Reiche der unerfüllten Prophezeiungen verfallen.
Als Mary neunzehn Jahre alt war, ereignete sich seit ihrer Krankheit der nächste wichtige Vorfall in den Familienannalen. Selbst jetzt, nach dieser langen Zeit, sinkt mir das Herz, fehlt mir der Mut bei der inhaltsschweren Stelle meiner Erzählung, an der ich jetzt angelangt bin.
Ein ungewöhnlich heftiger Sturm tobte an der Ostküste von Schottland. Unter den Fahrzeugen, die der Sturm vernichtete, war ein holländisches Schiff, das an der felsigen Küste nah bei Dermodys Wohnung scheiterte. Wie er in allen guten Werken voranging, zeigte der Vogt auch hier durch sein Beispiel den Weg zur Rettung der Passagiere und Bemannung des verlorenen Schiffes. Einen Mann hatte er bereits lebend ans Land gebracht und war nun wieder auf dem Wege zum Schiff – als zwei heftig aufeinander folgende Windstöße ihn gegen die Felsen warfen. Er wurde von seinen Nachbarn mit Lebensgefahr gerettet. Die ärztliche Untersuchung ergab, dass ein Knochen gebrochen war und verschiedene andre ernstliche Verletzungen stattgefunden hatten. Soweit waren seine Beschädigungen leicht festzustellen gewesen, aber nach einiger Zeit entdeckte der Arzt an dem Kranken Symptome, die ernstliche innere Verletzungen schließen ließen. Nach des Doktors Ansicht konnte er seine tätige Lebensweise nie wieder aufnehmen. Er musste für seine Lebenszeit ein elender, gebrechlicher Mann bleiben.
Sein Herr tat für den Vogt Alles, was man unter diesen traurigen Umständen erwarten durfte. Er mietete einen Stellvertreter, der die Landarbeit beaufsichtigen konnte und gestattete Dermody noch für die nächsten drei Monate in seinem Hause zu bleiben. Dadurch war dem armen Manne Zeit gegeben, die Trümmer seiner früheren Kräfte zu sammeln und sich mit seinen Verwandten in Glasgow über seine Zukunftspläne zu beraten.
Die Aussichten waren sehr trübe. Dermody war für jede sitzende Lebensweise untauglich und die geringen Mittel, die er erübrigt hatte, reichten nicht für seinen und seiner Tochter Unterhalt aus. Die schottischen Verwandten waren freundlich und bereitwillig, aber sie hatten ihre eigenen Familien und konnten kein Geld missen.
Der Passagier des gescheiterten Schiffes, dem Dermody das Leben gerettet hatte, trat, grade in dieser Not, mit einem Vorschlage hervor, der Vater und Tochter in gleiches Erstaunen versetzte. Er machte nämlich Mary einen Heiratsantrag, mit der ausdrücklichen Bedingung, dass, wenn sie
seine Hand annähme, ihre Heimat auch lebenslang die Heimat ihres Vaters sein sollte.
Der Mann, der der Familie Dermody in dieser schweren Zeit so nahe trat, war ein holländischer Edelmann namens Ernst von Brandt. Er besaß einen Anteil an einer Fischerei an den Ufern des Zuider-Sees und war, als das Schiff scheiterte, auf dem Wege eine Vereinbarung mit den Fischereien des nördlichen Schottlands anzubahnen. Als er Mary zuerst sah, hatte sie einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Er hatte sich in der Nachbarschaft aufgehalten, weil er hoffte mit der Zeit ihre Gunst zu gewinnen. Er war ein hübscher Mann, im Lenz des Lebens; sein Einkommen machte es ihm vollständig möglich zu heiraten. Als er um Mary anhielt, nannte er Personen von hoher, gesellschaftlicher Stellung in Holland, die über ihn Auskunft geben konnten, insofern es seinen Charakter und seine Stellung anlangte.
Mary überlegte lange, was für ihren hilflosen Vater und für sie selbst das Geratenste sein würde.
Seit Jahren hatte sie die Hoffnung auf eine Heirat mit mir aufgegeben. Keine Frau sieht gern ein einsames Leben vor sich und Mary sah sich natürlich, wenn sie an ihre Zukunft dachte, immer als verheiratete Frau. Konnte sie jemals erwarten einen annehmbareren Antrag zu erhalten, als diesen jetzigen? Herr van Brandt hatte jeden persönlichen Vorzug, den eine Frau wünschen kann, er liebte sie zudem zärtlich und hatte ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit für ihren Vater, seinen Lebensretter. Was konnte sie Besseres tun als Herrn van Brandt zu heiraten, welche andere Aussicht blieb ihr – welche andere Hoffnung durfte sie hegen?
Durch diese Betrachtungen veranlasst, entschloss sie sich das verhängnisvolle Wort zu sprechen. Sie sagte, Ja!
Gleichzeitig sprach sie ganz offen mit Herrn van Brandt. Sie gestand ihm ohne Rückhalt, dass sie von einer anderen Zukunft, als die, die jetzt vor ihr läge, geträumt habe. Sie verschwieg ihm nicht, dass eine alte Liebe in ihrem Herzen gewohnt habe und dass es außer ihrer Macht sei wieder zu lieben – Dankbarkeit, Achtung und Verehrung hatte sie jetzt noch zu geben und Liebe konnte ja mit der Zeit kommen. Übrigens hatte sie sich längst von der Vergangenheit losgerissen und entschieden alle Hoffnungen und Wünsche aufgegeben, die sich darauf bezogen. Die einzigen Segnungen, die sie vom Schicksal erbat, waren Ruhe für ihren Vater und ein stilles Glück für sich selbst. Diese konnte sie unter dem Dache eines ehrenwerten Mannes, der sie liebte und achtete, finden und wenn sie ihm auch nichts anderes bieten konnte, so konnte sie ihm versprechen, ihm ein gutes, treues Weib zu sein. Es war nun an Herrn van Brandt sich klar zu machen, ob er unter den obwaltenden Umständen in dieser Ehe sein Glück finden würde.
Herr van Brandt nahm ohne Zögern ihre Bedingungen an.
Durch eine bedenkliche Verschlimmerung in Dermodys Zustande musste die Hochzeit, die sonst augenblicklich stattgefunden hätte, noch verschoben werden. Es zeigten sich Symptome, die der Doktor nach seiner eigenen Aussage nicht vorausgesehen hatte, als er sein Urteil über die Krankheit abgab. Er unterrichtete Mary, dass ihres Vaters Ende herannahe. Herr van Brandt ließ einen Arzt aus Edinburgh kommen, der die Ansicht des Landarztes bestätigte. Der gute Vogt quälte sich noch einige Tage. Am letzten Tage legte er die Hand seiner Tochter in van Brandts Hand: »Machen Sie sie glücklich, Herr,« sagte er in seiner einfachen Weise, »und ich bin dafür entschädigt, dass ich Ihnen das Leben rettete.« Am selben Tage starb er ruhig in den Armen seiner Tochter.
Marys Zukunft lag nun ganz in den Händen ihres Verlobten. Die Verwandten in Glasgow hatten für ihre eigenen Töchter zu sorgen, die Londoner Verwandten ließen sie entgelten, dass Dermody sie vernachlässigt hatte. Mit zarter Rücksicht wartete van Brandt bis das arme Mädchen die erste Heftigkeit ihres Schmerzes niedergekämpft hatte – und dann machte er unwiderstehlich die Macht eines Gatten geltend, um sie besser trösten zu können.
Sie heiratete zu derselben Zeit in Schottland, als ich von Indien zurückkehrte. Mary war nun zwanzig Jahre alt geworden.
Die Geschichte unserer zehnjährigen Trennung ist nun erzählt: und wir stehen an dem Ausgangspunkte unserer neuen Lebensschicksale.
Ich lebe mit meiner Mutter und beginne meine Laufbahn als ein Landedelmann auf dem Gute in Pertshire, welches ich von Mr. Germaine ererbte. Mary erfreut sich an der Seite ihres Mannes ihrer neuen Rechte und erlernt ihre neuen Pflichten als Frau. Auch sie lebt in Schottland – und durch eine wunderbare Fügung, nicht weit von meinem Landsitze entfernt. Ich ahne nicht, dass sie mir so nahe ist: der Name von Frau van Brandt, selbst wenn ich ihn gehört hätte, ruft in meiner Erinnerung keinerlei Beziehungen wach. So sind die verwandten Geister noch immer getrennt. Noch ahnt weder sie noch ich, dass wir uns je wieder begegnen werden.
Siebentes Kapitel
Die Frau auf der Brücke
Meine Mutter störte mich durch einen Blick in die Tür der Bibliothek, bei meinen Büchern.
»Ich habe in meinem Zimmer ein kleines Bild aufgehängt«, sagte sie, »komm hinauf, mein Sohn und sage mir deine Meinung darüber.«
Ich stand auf und folgte ihr. Sie zeigte auf ein kleines Miniaturbild, das sie über den Kaminsims gehängt hatte.
»Weißt du, wen