Gesammelte Werke. Alfred Adler
Читать онлайн книгу.eine Einteilung der schwer erziehbaren Kinder vorgeschlagen, die sich in mancher Hinsicht als nützlich bewährt: in mehr passive, wie faule, indolente, gehorsame aber abhängige, in schüchterne, ängstliche, lügenhafte und ähnliche Kinder und in mehr aktive, wie herrschsüchtige, ungeduldige, aufgeregte und zu Affekten neigende, in störende, grausame, prahlerische, in Davonläufer, diebische, sexuell leicht erregte usw. Man soll dabei nicht Haare spalten, sondern im einzelnen Fall versuchen, sich Gewißheit zu verschaffen, welchen Grad der Aktivität man ungefähr feststellen kann. Dies ist um so wichtiger, als man im Falle eines ausgewachsenen Fehlschlags ungefähr den gleichen Grad von fehlgeschlagener Aktivität erwarten und beobachten kann wie in der Kindheit. Den ungefähr richtigen Grad von Aktivität, der hier Mut heißt, wird man bei Kindern mit genügendem Gemeinschaftsgefühl finden. Bestrebt man sich diesen Grad der Aktivität im Temperament, in der Schnelligkeit oder Langsamkeit des Vorwärtsgehens aufzusuchen, so soll man nicht vergessen, daß auch diese Ausdrucksformen Teile des ganzen Lebensstiles sind, deshalb bei gelungener Besserung abgeändert erscheinen. Man wird nicht überrascht sein, unter den Neurotikern einen viel größeren Prozentsatz der passiven Kinderfehler, unter den Verbrechern der aktiven aufdecken zu können. Daß ein späterer Fehlschlag ohne Schwererziehbarkeit zustande kommen könnte, möchte ich einer fehlerhaften Beobachtung zuschreiben. Freilich können ausnahmsweise günstige äußere Verhältnisse das Auftauchen eines Kinderfehlers verdecken, der bei strengerer Prüfung sofort erscheint. Wir ziehen in jedem Fall die Prüfungen, die das Leben anstellt, allen experimentellen vor, weil dabei der Zusammenhang mit dem Leben nicht vernachlässigt ist.
Kinderfehler, die in den Bereich der medizinischen Psychologie gehören, finden sich, abgesehen von Fällen brutaler Behandlung, fast ausschließlich bei verwöhnten, abhängigen Kindern und können mit größerer oder geringerer Aktivität verbunden sein. So Bettnässen, Eßschwierigkeiten, nächtliches Aufschreien, Verkeuchen, Stuhlverhaltung, Stottern usw. Sie äußern sich wie ein Protest gegen das Erwachen zur Selbständigkeit und zur Mitarbeit und erzwingen die Unterstützung durch andere. Auch kindliche Masturbation, längere Zeit trotz der Entdeckung fortgesetzt, kennzeichnet diesen Mangel an Gemeinschaftsgefühl. Man wird nie genug getan haben, wenn man symptomatisch vorgeht und den Fehler allein auszurotten versucht. Der sichere Erfolg kann nur von einer Hebung des Gemeinschaftsgefühls erwartet werden.
Zeigen schon die mehr passiven Kinderfehler und Schwierigkeiten einen der Neurose verwandten Zug, die starke Betonung des »Ja«, die stärkere des »Aber«, so tritt der Rückzug von den Lebensproblemen in der Neurose ohne offene Betonung des Überwertigkeitskomplexes deutlicher hervor. Man kann stets ein Gebanntsein hinter der Front des Lebens beobachten, ein Entferntsein von der Mitarbeit oder ein Suchen nach Erleichterung und nach Ausreden für den Fall mangelnden Gelingens. Die dauernde Enttäuschung, die Furcht vor neuen Enttäuschungen und Niederlagen erscheint in dem Festhalten von Schocksymptomen, die das Fernbleiben von Lösungen der Gemeinschaftsprobleme sichern. Gelegentlich, wie häufig in der Zwangsneurose, gelangt der Kranke bis zu einem abgeschwächten Fluchen, das sein Mißfallen an den anderen verrät. Im Verfolgungswahn wird die Empfindung des Kranken von der Feindseligkeit des Lebens noch deutlicher sichtbar, so es einer im Fernbleiben von Lebensproblemen noch nicht gesehen hat. Gedanken, Gefühle, Urteile und Anschauungen laufen immer in der Richtung des Rückzuges, so daß jeder deutlich merken könnte: die Neurose ist ein schöpferischer Akt und kein Rückfall in infantile oder atavistische Formen. Dieser schöpferische Akt, dessen Urheber der Lebensstil ist, das selbstgeschaffene Bewegungsgesetz, immer in irgendeiner Form auf Überlegenheit hinzielend, ist es auch, der in den mannigfaltigen Formen, wieder entsprechend dem Lebensstil, der Heilung Hindernisse in den Weg zu legen trachtet, bis die Überzeugung, der Common sense beim Patienten die Oberhand gewinnt. Nicht selten ist das heimliche Ziel der Überlegenheit, wie ich aufgedeckt habe, in den halb trauervollen, halb tröstenden Ausblick hineinversteckt: was der Patient alles zustande gebracht hätte, wenn sein einzigartiger Aufschwung nicht durch eine Kleinigkeit, meist durch die Schuld der anderen, vereitelt worden wäre. Minderwertigkeitsgefühle höheren Grades, Streben nach persönlicher Überlegenheit und mangelndes Gemeinschaftsgefühl sind bei einiger Erfahrung in der Vorzeit des Fehlschlages stets zu finden. Der Rückzug von den Lebensproblemen wird vollständig im Selbstmord. In seiner seelischen Struktur liegt Aktivität, keineswegs Mut, ein aktiver Protest gegen nützliche Mitarbeit. Der Streich, der den Selbstmörder trifft, läßt andere nicht unverschont. Die vorwärtsstrebende Gemeinschaft wird sich immer durch Selbstmord verletzt fühlen.
Die exogenen Faktoren, die das Ende des zu geringen Gemeinschaftsgefühls herbeiführen, sind die von uns genannten drei großen Lebensprobleme, Gesellschaft, Beruf und Liebe. In allen Fällen ist es der Mangel an Anerkennung, der Selbstmord oder Todeswünsche herbeiführt, die erlebte oder gefürchtete Niederlage in einer der drei Lebensfragen, gelegentlich eingeleitet durch eine Phase der Depression oder der Melancholie. Der Beitrag der Individualpsychologie � als ich im Jahre 1912 meine Untersuchung über letztere seelische Erkrankung abgeschlossen hatte und feststellen konnte, daß jede echte Melancholie wie Selbstmorddrohungen und Selbstmord den feindlichen Angriff auf andere bei zu geringem Gemeinschaftsgefühl darstellt � hat in der Folge den Weg zu besserem Verständnis dieser Psychose geebnet. So wie der Selbstmord, in den diese Psychose leider häufig mündet, ist sie die Setzung eines Verzweiflungsaktes an Stelle gemeinnütziger Mitarbeit. Verlust des Vermögens, einer Arbeitsstelle, Enttäuschung in der Liebe, Zurücksetzungen aller Art können diesen Verzweiflungsakt bei entsprechendem Bewegungsgesetz in einer Form herbeiführen, in der der Betroffene auch vor der Opferung von Angehörigen oder anderen nicht zurückschreckt. Dem psychologisch Feinhörigen wird nicht entgehen, daß es sich hier um Menschen handelt, die vom Leben leichter als andere enttäuscht werden, weil sie zuviel erwarten. Dem kindlichen Lebensstil nach dürfte man mit Recht erwarten, in ihrer Kindheit einen hohen Grad von Erschütterbarkeit zu finden mi t einer lang andauernden Verstimmung oder mit einem Hang zur Selbstbeschädigung, wie zur Bestrafung der anderen. Die im Vergleich mit der Norm viel größere Schockwirkung löst, wie neuere Untersuchungen bestätigt haben, auch körperliche Veränderungen aus, die wohl unter dem Einfluß des vegetativen und endokrinen Systems stehen dürften. Bei genauerer Untersuchung wird sich wohl, wie zumeist in meinen Fällen, nachweisen lassen, daß Organminderwertigkeiten und noch mehr ein verwöhnendes Regime in der Kindheit das Kind zu einem derartigen Lebensstil verleitet und die Entwicklung eines genügenden Gemeinschaftsgefühls eingeengt haben. Nicht selten ist bei ihnen ein offener oder versteckter Hang zu Zornausbrüchen, zur Meisterung aller kleinen und größeren Aufgaben in ihrer ganzen Umgebung, ein Pochen auf ihre Würde nachzuweisen.
Ein 17jähriger Junge, der jüngste in der Familie, von der Mutter außerordentlich verwöhnt, blieb, als die Mutter eine Reise antreten mußte, in der Obhut einer älteren Schwester zurück. Eines Abends, als die Schwester ihn allein zu Hause ließ, er gerade in der Schule mit scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, beging er Selbstmord. Er ließ folgendes Schreiben zurück. »Teile der Mutter nicht mit, was ich getan habe. Ihre derzeitige Adresse ist die folgende ... Sage ihr, wenn sie zurückkommt, daß mich das Leben nicht mehr gefreut hat, und daß sie mir alle Tage Blumen auf mein Grab legen soll.«
Eine alte, unheilbar Kranke beging Selbstmord, weil ihr Nachbar sich von seinem Radio nicht trennen wollte.
Der Chauffeur eines reichen Mannes erfuhr bei dessen Tod, daß er einen ihm versprochenen Erbteil nicht erhalten sollte, brachte seine Frau und seine Tochter um und beging Selbstmord.
Eine 56jährige Frau, die als Kind und später vo n ihrem Manne stets verwöhnt worden war, auch in der Gesellschaft eine hervorragende Rolle spielte, litt sehr unter dem Tod ihres Mannes. Ihre Kinder waren verheiratet und nicht sehr geneigt, sich der Mutter ganz zu widmen. Bei einem Unfall zog sie sich einen Schenkelhalsbruch zu. Sie blieb auch nach der Heilung der Gesellschaft ferne. Irgendwie kam ihr der Gedanke, auf einer Weltreise freundliche Anregungen zu finden, die sie zu Hause entbehrte. Zwei Freundinnen fanden sich bereit, mit ihr zu fahren. In größeren Städten des Kontinents ließen die Freundinnen sie wegen ihrer Schwerbeweglichkeit immer allein. Sie geriet in eine außerordentliche Verstimmung, die sich zu einer Melancholie steigerte, und rief eines ihrer Kinder herbei. Anstatt dessen kam eine Pflegeschwester, die sie nach Hause brachte. Ich sah die Frau nach dreijährigem Leiden, das keine Besserung gezeigt hatte. Ihre hauptsächliche Klage war, wie sehr die Kinder unter ihrer