Die Memoiren des Sherlock Holmes: Holmes' erstes Abenteuer und andere Detektivgeschichten (Zweisprachige Ausgabe: Deutsch-Englisch). Ðртур Конан Дойл
Читать онлайн книгу.er das Pferd aus dem Stalle zu führen? Hätte er ihm nicht ebensogut dort einen Schaden zufügen können? Hat man einen Nachschlüssel bei ihm gefunden? Welcher Apotheker hat ihm das Opiumpulver verkauft? Und vor allem – wo hätte ein Mensch, der in der Gegend fremd ist, ein solches Pferd verbergen können? – Wie lautet denn seine eigene Aussage über das Papier, welches das Mädchen dem Stallknecht geben sollte?«
»Er sagt, es sei eine Zehnpfundnote gewesen. Eine solche fand sich auch in seinem Geldbeutel, übrigens lassen sich Ihre andern Einwürfe samt und sonders entkräften. Die Umgegend ist ihm bekannt, da er im Sommer zweimal in Tavistock übernachtete. Das Opium kann er von London mitgebracht haben. Den Nachschlüssel hat er natürlich weggeworfen, sobald er ihn nicht mehr brauchte. Das Pferd liegt vielleicht irgendwo im Moor auf dem Grunde eines alten Schachts.«
»Was sagt er über die Krawatte?«
»Er gibt zu, daß sie ihm gehört, und behauptet, er habe sie verloren. Inzwischen ist ein neuer Verdacht aufgetaucht, der uns vielleicht eine Aufklärung bringt, weshalb Simpson das Pferd aus dem Stall geführt hat.«
Holmes horchte hoch auf.
»Wir haben Spuren gefunden, welche beweisen, daß eine Zigeunerbande am Montag abend eine Meile von der Mordstelle entfernt ihr Lager hatte. Am Dienstag früh war die Bande verschwunden. Kann nicht Simpson im Einvernehmen mit diesen Leuten gestanden haben und im Begriff gewesen sein, ihnen das Pferd zuzuführen, als er sich verfolgt sah? Vielleicht ist es noch in ihrem Besitz?«
»Unmöglich wäre das nicht.«
»Man durchstreift das Moor nach den Zigeunern. Auch habe ich jeden Stall und jedes Hintergebäude in Tavistock und zehn Meilen in der Runde untersuchen lassen.«
»Ich höre, daß noch ein Besitzer von Rennpferden seine Stallungen hier ganz in der Nähe hat.«
»Jawohl, und diesen Umstand dürfen wir nicht aus den Augen lassen. Da der Renner Desborough das zweite Pferd war, auf das gewettet wurde, hatten die Leute dort ein großes Interesse an dem Verschwinden des Favoriten. Silas Brown, der Stallmeister, soll hohe Wetten eingegangen sein, und er war dem armen Straker nicht wohlgesinnt. Übrigens haben wir die Ställe durchsucht und nichts gefunden, was mit der Angelegenheit zusammenhängt.«
»Auch kein Anzeichen, daß Simpson mit dem Stallmeister von Mapleton in irgendwelcher Verbindung steht?«
»Nicht das geringste.«
Holmes lehnte sich in den Wagen zurück, und die Unterhaltung stockte. Wenige Minuten später hielten sie vor einem hübschen kleinen Landhaus aus roten Ziegelsteinen mit vorspringendem Giebel, das dicht am Wege stand. In einiger Entfernung davon, jenseits einer Umfriedung, lag ein langes, mit grauem Schiefer gedecktes Gebäude. Nach allen anderen Richtungen dehnte sich, soweit das Auge reichte, der wellenförmige Boden des Moors aus, dem das welke Farnkraut eine Bronzefärbung verlieh. Nur die Kirchtürme von Tavistock und nach Westen zu eine Anzahl Häuser, die um die Stallungen von Mapleton herlagen, unterbrachen den einförmigen Horizont. Wir sprangen alle aus dem Wagen, Holmes allein lehnte noch in seiner Ecke; er starrte unverwandt ins Weite und schien ganz in Gedanken versunken. Als ich seinen Arm berührte, fuhr er heftig zusammen, raffte sich empor und stieg gleichfalls aus.
»Entschuldigen Sie«, sagte er zu Oberst Roß, der ihn verwundert ansah, »ich habe bei hellem Tage geträumt.« Aber ein gewisses Leuchten seiner Augen und die geheime Erregung in seinem ganzen Wesen überzeugten mich, der ich seine Art kannte, daß er dem Geheimnis auf der Spur sei, wiewohl ich keine Ahnung hatte, wo er den Schlüssel gefunden haben könne.
»Vielleicht möchten Sie gleich weiter fahren, Herr Holmes, um den Schauplatz des Verbrechens zu besichtigen?« fragte Gregory.
»Es wäre mir lieber, eine Weile hier zu bleiben, um erst noch über einige Einzelheiten ins klare zu kommen. Vermutlich ist Straker hierhergeschafft worden?«
»Ja, er liegt im oberen Stock. Morgen soll die Totenschau stattfinden.«
»Nicht wahr, er stand schon seit mehreren Jahren in Ihrem Dienst, Herr Oberst?«
»Ja, und ich war stets außerordentlich zufrieden mit ihm.«
»Sie haben gewiß ein Verzeichnis von den Gegenständen gemacht, die er zur Zeit seines Todes bei sich trug?«
»Die Sachen sind alle im Wohnzimmer verwahrt, Sie können sie dort in Augenschein nehmen.«
»Das wäre mir lieb.«
Wir traten nun in das vordere Zimmer und nahmen um den Tisch in der Mitte Platz, während der Inspektor einen viereckigen Blechkasten aufschloß und eine Anzahl Gegenstände herausnahm: eine Schachtel mit Wachskerzchen, zwei Stückchen Talglicht, einen halb gefüllten ledernen Tabaksbeutel, eine kurze Pfeife, eine silberne Uhr mit goldener Kette, einen Bleistifthalter von Aluminium, fünf goldene Sovereigns, verschiedene Papiere und ein Messer mit Elfenbeingriff, welches ›Weiß & Co. London‹gezeichnet war und eine sehr biegsame, feine Klinge hatte. Holmes nahm es in die Hand und betrachtete es.
»Ein sonderbares Messer«, sagte er. »Nach den Blutflecken zu urteilen, ist es wohl dasselbe, welches man in des Toten Hand gefunden hat. Ich denke, auf diese Art Messer müßtest du dich eigentlich am besten von uns verstehen, Watson.«
»Es ist ein Messer, wie man es zu Staroperationen braucht«, antwortete ich.
»Ich dachte mir’s wohl, daß man eine so feine Klinge nur zu sehr heikler Arbeit benutzt. Wie sonderbar, daß er ein solches Messer bei dem nächtlichen Ausgang mitgenommen hat; es läßt sich nicht einmal zuklappen und in die Tasche stecken.«
»Die Spitze war durch eine Korkscheibe geschützt, die wir neben der Leiche fanden«, berichtete der Inspektor. »Frau Straker sagt, das Messer hätte schon seit ein paar Tagen auf dem Tisch im Schlafzimmer gelegen, und beim Hinausgehen habe ihr Mann es mitgenommen. Es war nur eine schwache Verteidigungswaffe, aber vielleicht die einzige, die er im Augenblick zur Hand hatte.«
»Wohl möglich. Und was für Papiere sind das?«
»Drei Quittungen von Händlern für geliefertes Heu; ein Brief von Oberst Roß mit Verhaltungsmaßregeln, ferner die Rechnung einer Schneiderin im Betrag von siebenunddreißig Pfund fünfzehn Schilling, von Madame Lesurier in Bondstreet für William Darbyshire ausgestellt. Frau Straker teilte mir mit, dieser Darbyshire sei ein Freund ihres Mannes gewesen, und zuweilen seien Briefe an ihn hierher adressiert worden.«
»Frau Darbyshire scheint etwas verschwenderischer Natur zu sein«, bemerkte Holmes, die einzelnen Beträge der Rechnung überfliegend. »Zweiundzwanzig Pfund ist eine hohe Summe für ein Straßenkostüm. – Nun habe ich hier wohl alles gesehen, und wir können uns an den Tatort selbst begeben.«
Als wir das Wohnzimmer verließen, trat eine Frau, die im Hausflur gewartet hatte, auf uns zu. Man sah es ihrem hagern, eingefallenen Gesicht und ihrer aufgeregten Miene an, daß sie erst kürzlich Entsetzliches erlebt hatte.
»Hat man sie gefunden und festgenommen?« stieß sie hastig hervor und legte ihre Hand auf den Arm des Inspektors.
»Nein, Frau Straker; aber Herr Holmes hier ist aus London gekommen, um uns zu helfen; wir werden alles Menschenmögliche tun.«
»Habe ich Sie nicht kürzlich bei einem Gartenfest in Plymouth gesehen, Frau Straker?« fragte Holmes.
»Nein, das muß ein Irrtum sein.«
»Wirklich? Ich hätte darauf schwören mögen; Sie trugen ein taubengraues Seidenkleid mit Straußenfedern besetzt.«
»Ein solches Kleid habe ich noch nie besessen«, erwiderte die Dame.
»So? – Dann habe ich mich freilich getäuscht. Entschuldigen Sie, bitte«, sagte Holmes und folgte dem Inspektor ins Freie.
Ein kurzer Weg über das Moor brachte uns nach der Talsenkung, wo der Getötete gefunden worden war. Am Rande der Senkung stand der Ginsterbusch, auf dem der Mantel gehangen hatte.
»Es ging in jener Nacht kein